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(c) PESTER LLOYD / 2009 / feuilleton / 155 Jahre Pester Lloyd / Übersicht
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Laboratorium oder Beichtstuhl

Georges Benjamin Clemenceau (1841 - 1929) dürfte in Ungarn nicht gar zu viele Anhänger haben, sind sein Name und Walten doch zu sehr mit Trianon verbunden, dass die Ungarn bei jeder Nennung zu pawlowschem Aufheulen veranlasst und dessen Heranziehung für alles gestrige und heutige Leid zum nationalen Fetisch geworden ist.

Clemenceau war politisch wie publizistisch eine schrille Figur. Als Herausgeber der Zeitung L'Aurore und Le Travail und schrieb er sich in die Reihen der radikalen Arbeiterbewegungen. 1870 , nach Exil in der USA kehrt er nach Frankreich zurück und wird im selben Jahr Bürgermeister von Montmartre. 1871 erfolgt seine Wahl in die Nationalversammlung als Abgeordneter der Radikalsozialisten. Er stimmt gegen den Frieden mit Deutschland. Als Antiklerikalist und scharfer Kritiker der Kolonialpolitik erwirbt er sich in seiner Partei einen Ruf. Fünf Jahre später wird er deren Vorsitzender.

Clemenceau wird 1902 Senator und 1906 Innenminister. Als Innenminister setzt er 1906 das Militär gegen streikende Bergarbeiter ein, was ihn der Sozialistischen Partei entfremdet. Während der Dreyfus-Affäre setzt er sich als Eigentümer und Herausgeber der Zeitschrift L'Aurore mit für den verleumdeten Offizier ein. Von 1906 bis 1909 ist Clemenceau Ministerpräsident Frankreichs. Trotz seines Antikolonialismus strebt er nach steigendem Einfluss Frankreichs im unabhängigen Marokko, was die Marokko-Krisen mit dem Deutschen Reich 1905-1906 und 1911 heraufbeschwört. Das Amt des Premierministers übernimmt le tigre - so mittlerweile sein Beiname - am 16. November 1917 erneut. Clemenceau, zu dieser Zeit auch als Kriegsminister verantwortlich, regiert mit harter Hand. Bei den Verhandlungen in Versailles tritt er als unversöhnlicher Gegner Deutschlands und seiner Verbündeten auf.

 

Georges Clemenceau

Glauben oder Wissen

1909

Der Konflikt zwischen Glauben und Wissen ist da, und niemand hat das Recht, sich ihm zu entziehen. Es ist ein sozialer Konflikt geworden, dem wir auf allen Kreuzwegen des öffentlichen und des privaten Lebens begegnen – nirgends schärfer, einschneidender als am häuslichen Herd, wenn die Zeit gekommen ist, wo die Pflicht jedem ehrlichen Bürger gebietet: seinen Nachkommen das geistige Erbe der Väter ungeschmälert und vermehrt durch die eigene Kultur zu übergeben.

Im Mittelalter lag die Erziehung in den Händen der Kirche; sie wurde nur im Bedarfsfall durch eingei wenige praktische Kenntnisse erweitert. Das war begreiflich. Denn richtig oder falsch, zeitlich oder ewig – die ganze soziale Einrichtung war damals auf den Glauben gestimmt. Heute aber sind die damals so kleinen Anfänge der Ernenntnis riesengroß gewachsen. Sie haben das Gebiet des Unerforschbaren aufs äußerte verringert und eingeschränkt; sie sind geordnet worden und mächtig blüht die Wissenschaft durch die Ausschaltung des einzigen Wortes: g l a u b e n .

Uns Menschen von heute erscheinen die Glaubenssätze nur mehr im Lichte rührender Legenden aus einer Zeit, da der Mensch noch gezwungen war, provisorisch, durch Inspiration das große Rätsel seiner Bestimmung zu lösen. Der Fortschritt einer jahrhundertelangen Forschung erlaubt uns heute, dieses selbe Rätsel durch erwiesene Versuche zu erklären.

(...)

Viele haben gefürchtet, daß wenn einmal der Glaube gefallen ist, eine plötzliche und revolutionäre Rekonstruktion der menschlichen Gesellschaft uanausbleiblich wäre. Aber so eine gewaltige Umwälzung geht nicht von heute auf morgen vor sich; sie vollzieht sich vielmehr nur allmählich. Die Tradition, die Sitte, die sozialen Einrichtungen, das Gesetz – alles, was aus dem alten Glauben geboren und durch ihn gestützt wurde, stützt jetzt vice versa den Glauben durch Befolgung seiner äußeren Merkmale und verlangsamt dadurch seinen unvermeidlichen Zerfall.

Dieser sehr verwickelte Zustand der Geister von heutemanifestiert sich gleichzeitig, sowohl im öffentlichen Leben als auch im privaten Leben jedes einzelenen. Vom öffentlichen Leben zu sprechen, ist überflüssig, da es jeder kennt; die oberen Zehntausend strengen sich auf äußerste an, die Menge zum Kult zu führen oder gar zu treiben.

Sie haben bis jetzt damit noch immer einen großen und sicheren Erfolg erzielt, weil sie von ihrer Gefolgschaft nicht verlangen, daß sie ernstlich glaube und den Glaubenslehren gemäß handle. Sie begnügen sich vielmehr damit, daß die Masse sich öffentlich zum Ritus bekenne, und sie erlauben ihr dafür viel zeitlichen Lohn einzuheimsen. Wer könnte sich wohl wundern, daß diese Art von Gläubigen sich beeilt, ihren Kindern einen Glauben einzuimpfen, der auch jenen soviel Vorteil verspricht? Wen könnte es überraschen, daß sie mit lauter Stimme die Mittel fordern, ihre Sprößlinge zu Ebenbildern ihres Selbst zu machen?

***

Die "höheren Klassen", welche den großen Vorteil haben, konsequent zu sein, verlangen die Einheitlichkeit der Erziehung. Darin muß ich ihnen beistimmen, so sehr auch ihre Art, Menschen zu bilden, von meinem ideal abweicht. Jede Erziehunge, die disen hohen Namen verdienen soll, muß einheitlich sein. Aber unser Bürgertum will immer lavieren: es hat eine "neutrale Erziehung" eingeführt, die weder Fisch noch Fleisch ist. Diese bejaht oder verneint - ganz nach Wahl des jeweiligen Lehrers - die wichtigsten Lebensfragen, und läßt die Kinder selbst die Antwort wählen auf Fragen, die nur nach einer Richtung hin beantwortet werden können.

Dank der sträflichen Nachgiebigkeit des Bürgertums kann jeder von uns abwechselnd und wie es ihm gerade paßt, gläubig oder Freidenker sein - er und seine Nachkommenschaft. Der Bourgeois selbst ist am Tage seiner Hochzeit Freidenker auf dem Standesamt, gläubig in der Kirche. Skeptisch, weder an Gott noch an den Teufel glaubend, hält er es dennoch für geraten - um nicht aufzufallen -, seinem Kind ein Mischmasch von Erziehung zu geben: möge es später s e l b s t entscheiden, welcher Lehrer im Recht war - der, welcher den Glauben, oder jener, der das Wissen zuhöchst stellte.

(...)

So sehen wir das Kind hin- und hergereissen, verwirrt, entmutigt, sich die praktische Philosophie kosntruieren: alles zu tun, um nur möglichst leicht und schnell vorwärts zu kommen. Kommt dann noch ein guter Redner, der sich seines empfänglichen Gemütes bemächtigt, so sinkt es in den weitaus meisten Fällen bereitwillig in die weitgeöffneten Arme der Kirche.

(...)

Die Majorität unseres Bürgertums brüstet sich mit ihrer antiklerikalen Gesinnung. Sie weiß aber sehr geschickt mit beiden Teilen zu paktieren, indem sie ihre Nachkommenschaft gleichzeitig die Bewunderung der Wissenschaft und die Befolgung eines von ihnen angeblich so sehr gehaßten Kultes lehrt. Selbstverständlich kann es mir nicht einfallen, die persönliche Freiheit jedes einzelnen: zu glauben was er will und kann, beschränken zu wollen. Ich wende mich nur gegen alle Maulhelden, die sich für große Neuerer ausgeben und dabei doch auf beiden Achseln tragen, und die klüger täten, mit dem alten Wust von Vorurteilen bei sich und den Ihren aufzuräumen, bevor sie sich zu Bannerträgern der neuen Ideen aufwerfen.

(Autorisierte Übersetzung von G. Katz)

(...).

__________ Gekürzte Leseprobe aus: ________________________________
 

Marco Schicker (Hg.)
ZUKUNFTSLAND
Die europäische Ideenwerkstatt
Pester Lloyd von 1866 bis 1938

Gezeiten Verlag, Wien 2009
Feuilletons | 272 Seiten | 12 x 21 cm
Hardcover mit Schutzumschlag
ISBN 978-3-9502272-8-4
[D/A] EUR 21,50 | CHF 35,20

Erscheint Anfang 2009

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