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Werkzeuge der Vernichtung
György Kecskeméti, geboren 1901 im südungarischen Makó, promovierte
zum Doktor der Philosophie unterrichtete zuerst am Pester Israelitischen Gymnasium, seit 1931 war er fester Mitarbeiter des Pester
Lloyd, schrieb aber auch für die Literaturzeitschrift "Szép Szó" (Schönes Wort), in der er eigene Gedichte veröffentlichte. Ab 1933 engagierte er
sich in seinen zahlreichen Leitartikeln, Kommentaren und Kritiken vehement für die Unterstützung der in Deutschland verfolgten Schriftsteller und Künstler und stand daher auf einer schwarzen Liste.
György Kecskeméti wurde 1944 als einer der ersten aus der Redaktion nach Auschwitz deportiert, von wo er nicht zurückkehrte.
Die Ruine des Lloyd-Palastes 1945 (heute Roosevelt Platz) in Budapest
György Kecskeméti
Die rüstende Angst
21. Dezember 1933
Die friedlosen Frosttage des ausgehenden Jahres bieten ein lehrreiches
Beispiel angewandter Massenpsychologie. Wenn die Masse der vereinfachte, auf seine stärksten Urtriebe reduzierte Mensch ist, und wenn die elementarsten Regungen des Menschen der Welt gegenüber
Begierde und Angst sind, so können wir am Verhalten der Massen die Psychologie der Begierde und der Angst immer genau studieren. Während aber in guten Zeiten, in Zeiten des Aufschwungs oder
zumindest der Sicherheit Begierde im Spiel der Massen relativ frei etnfalten kann, sehen wir in Zeiten der Armut, der sinkenden Lebenskurve die Begierde zum trost- und hilflosen Hunger
verkümmern, uns als regierende, alles bestimmende Macht tritt dann der hagere Tyrann, die bittere, kranke, schlotternde Angst auf.
In diesem Zustand sehen wir heute die Menschheit. Die
Lebensquellen, an denen sich frühere Generationen noch sattrinken konnten, versiegen eine nach der anderen. Massen und Völker verarmen, und die Welt kennt immer weniger Freude und Glück. Was
bestimmt unter solchen Umständen das Verhalten der Völker gegeneinander? Ein Wort gibt den Schlüssel der politischen Spannungen und Schwierigkeiten: Angst. Die sieghafte, raffende,
eroberungslüsterne Begierde ist längst verstummt. An ihre Stelle trat der kriechende Hunger, die nagende Sorge um das schrumpfende Erbe. Kein europäisches Volk rüstet heute zu stolzen Eroberungszügen
gegen benachbartes Land. Und dennoch sehen wir, wie sie alls - soweit sie nicht durch internationale Verträge daran gehindert werden - fieberhaft ihre Rüstungen vermehren. Warum, wenn doch alle Völker
den Krieg verabscheuen müssen? Aus Angst.
Die Angst hat ihre eigene Logik, die jedes Vernunftsatzes spottet.
Hättedie souveräne Vernunft das letzte Wort, so wäre es noch verhältnismäßig leicht, alle Völker für ein gemeinsames Programm der Herabsetzung aller Rüstungen zu gewinnen. Im heutigen Zustand
der Welt aber scheint dies äußerst schwer, vielleicht unmöglich. Die Angst argumentiert mit eigener Logik: "Wenn ich auf das geringste meiner Verteidigungsmittel verzichte, dann bin ich schwächer
geworden, inmeinen Panzer schlug ich selbst ein Loch, durch das der Tod eindringen kann. Denn der Tod umgibt mich von allen Seiten, riesengroß un dallgegenwärtig. Ich habe Angst, Angst..."
Das ist heute der Inhalt der Massenpsyche bei fast allen Völkern der
Erde. Und wir sehen, daß nach zweijähriger Dauer der Abrüstungskonferenz, deren letzte Monate ein kümmerliches Dahinsiechen gewesen sind, daß der Ruf nach noch größeren Heeren,
noch mächtigeren Verteidigungsmitteln in allen Ländern immer lauter erschallt. Vor kurzem konnten wir sogar aus England Alarmtöne vernehmen: das Inselreich sei wehrlos einem Angriff vom Kontinent
her ausgesetzt, denn sein eLuftmacht sei ungenügend. Frankreich hat etwa 1600 Flugzeuge der ersten Kampflinie, Amerika sogar um 2000 und England stehe bloß mit ungefähr 850 da. Der französische
Luftfahrtminister wies auf das ungeheure Wachstum der russischen Luftflotte hin, die bald mit fünftausend Flugzeugen den ersten Platz in der ganzen Welt einnehmen wird. Da ist es nur begreiflich, wenn
Deutschland, das inmitten all dieser und noch anderer hochgerüsteter Mächte, für sich aber wenigstens leichte Aufklärungsflugzeuge fordert. Doch damit haben wir noch nicht alle Variationen der Angst
ausgeschöpft: Angst macht erfinderisch. Seit Beginn der Abrüstungskonferenz suchen sich die einzelnen Mächte gegenseitig an einer Motorisierung, Technisiserung ihrer Armeen zu
übertrumpfen.Bestimmend dabei ist die Erwägung: muß man nach der Konferenz einmal mit den Effektivzahlen herunter, so soll das verbeleibende Heer wenigstens beweglich und schlagkräftig und
leistungsfähig sein. (...) Wir können wahrhaft sagen, daß zu Lande, zu Wasser und in der Luft die Angst unbeschränkter Herr ist.
Kann man da hoffen, daß die nächste Zeit eine wenigstens teilweise
Zerstreuung der Angst bringen wird? Die Methode der universellen Aussprache hat versagt: die neuere der direkten Verhandlungen von Regierung zu Regierung bietet vielleicht noch einige Aussichten. Wenn
auf Grund des sehr gemäßigten Angebotes in der Rüstungsfrage, durch das das neue Deutschland seine Friedfertigkeit tatsächlich bewiesen hat, die deutsch-französischen Gegensätze ausgeschaltet
werden, wenn sogar der von Deutschland und England gewünschte Nichtangriffspakt zwischen beiden Ländern zustande kommt, auch dann wäre bloß einer der wichtigsten Herde der europäischen Angst
ausgelöscht. Ein Pakt zwischen Frankreich und Deutschland würde nur das Problem der Landrüstungen lösen. Der schrecklichste aller Angstzustände, die Angst vor einem Luftangriff, bliebe weiterhin in
allen Ländern bestehen, falls nicht die Gesamtfrage aller Offensivwaffen umfassend geregelt wird. (...) Die Verheerungsmöglichkeiten der Land- und Seewaffen sind im großen
und ganzen schon bekannt: doch der Schrecken, die Verwüstung, der Massenuntergang, denein Geschwader von schweren Nachtbombardierflugzeugen auf dicht bevölkerte Städte
herabschütten kann, spottet jeder Beschreibung und jeder Phantasie.
Ist also die Menschheit für ewig dazu verurteilt, im verfluchten Zirkel
der Angst die Werkzeuge ihrer eigenen Vernichtung zu vervollkommnen und zu vermehren? Eine beruhigende Antwort auf diese Frage wäre nur möglich, wenn die internationalen
Grundprobleme, aus denen sich die Angst nährt, ihre Lösung finden könnten. Es ist klar, daß ein großer Teil der Angstzustände auf unbegründete Fieberphantasien zurückzuführen ist, so ist es z.B.
praktisch sinnlos, in England einen Luftüberfall von Frankreich oder Amerika her zu befüchten. Doch eine gewissen Anzahl beunruhigender Tatsachen bleibt immer bestehen, und diese können
nur entgiftet werden, wenn eine neue geregelte Form des zwischenvolklichen Zusammenlebens gefunden wird. Die Menschheit hat eine Stufe der technischen Leistungsfähigkeit erreicht, wo eine
rechtliche Regelung der internationalen Beziehungen oder ständige Katastrophengefahr die einzigen Möglichkeiten sind. Es muß eine Art und Weite gefunden werden, um internationale Streitfragen friedlich
zu lösen un bestehende Ungerechtigkeiten friedlich auszuschalten. Von diesem Gesichtspunkt her kommt der Völkerbundsreform größte Wichtigkeit zu. Ein wirklich leistungsfähiger Völkerbund, der geeignet
wäre, auch die internationale Evolution in die richtige, friedliche Bahn zu lenken, könnte die Menschheit vom unerträglichen Druck der Angst befreien.
(...).
__________ Gekürzte Leseprobe aus: ________________________________
Marco Schicker (Hg.) ZUKUNFTSLAND
Die europäische Ideenwerkstatt Pester Lloyd von 1866 bis 1938
Gezeiten Verlag, Wien 2009
Feuilletons | 272 Seiten | 12 x 21 cm Hardcover mit Schutzumschlag ISBN 978-3-9502272-8-4 [D/A] EUR 21,50 | CHF 35,20
Erscheint Anfang 2009
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