Hauptmenü

 

 

(c) PESTER LLOYD / 2009 / feuilleton / 155 Jahre Pester Lloyd / Übersicht
_______________________________________________________

 

(c) alle Rechte vorbehalten *

Der Rezensent der Apokalypse

Zivilisationskritik nennt sich das Fach, dass praktisch um ihn herum geschaffen wurde, weil er aller Fächer Rahmen sprengte. Gemeint hat er mit seinen Texten in jedem Falle auch die Literaturwissenschaft, die es nicht unterlassen konnte, Max Nordau (geb. als Maximilian Simon Südfeld in Pest 1849, gestorben  1923 in Paris) den Hut des "großen Kritikers des Fin de siècle" aufzusetzen, wo er doch viel in Paris lebte. Der Begriff Jahrhundertwende war für einen solchen Kapazunder einfach zu schnöde.

Die latente Sprachverrohung im deutschen Feuilleton wird dem Publikum in "Superlativismus" durch einen Exkurs in die Psychoanalyse eingeleitet und arbeitet sich dann, wie an einer rhetorischen Doppelhelix, zur allgemeinen Kutlur- und Zivilisationskritik empor, schonte nichts und niemanden und ging so gründlich und logisch vor wie ein Mathematiker beim Lösen einer Gleichung, bei der am anderen Ende auf jeden Fall eine Null herauskommen mußte. Den Hang zur vollständigen Entkleidung seiner Objekte teilte er mit Karl Kraus, allein der Stil war so humorfrei wie der Ring der Nibelungen, aber von einer sprachlichen Kraft, als handelte es sich bei jedem Text um eine Rezension der Apokalypse selbst. Nordau, praktisch der Testamentsvollstrecker Theodor Herzls, machte - was heute tragisch-kurios erscheint - häufig vom Begriff der Entartung Gebrauch. Er meinte damit aber eben nicht die Herabwürdigung des Andersartigen sondern mehr die Beobachtung, dass am Apfelbaum des Lebens oft menschliche Birnen wuchsen, die nach Himbeeren dufteten. Dem heutigen Leser werden beim Lesen dieses Textes unvermeidlich, und nun, da ich es anspreche, noch unvermeidlicher, sofort die heutigen Ausdünstungen von PR-Textern, Ausstellungskuratoren, Eventmanagern, Politikern oder TV-Experten und sonstiger allgegenwärtiger Sprachverhunzer, Schönfärber und Klugscheisser - eben Superlativisten - einfallen, die Nordau 1911 mit diesem Text schon einmal für alle Zeiten durchrezensiert hat und aus deren Produkten unser Berufsstand tagtäglich versucht, Gehalt zu sezieren, zu restaurieren und zu klassifizieren, um das Ergebnis anschließend in menschliche Sprache zu übersetzen. Die zugegebene Mäßigkeit des Gelingens ist Beleg für den katastrophalen Zustand des Ausgangsmaterials. Nordaus Text zu kürzen ist eine weitere Sünde, die wir uns aufbürden mussten.

 

Superlativismus

Max Nordau

1911

Das Wort bedarf keiner Erklärung. Es ist durchsichtig. Es bedeutet die Sucht, jeden Eindruck, jedes Gefühl, jedes Werturteil, ganz besonders dieses, in die allerstärksten Ausdrücke zu fassen, die die Sprache darbietet oder die man eigens erfindet, weil man den vorhandenen Wortschatz als zu dürftig verschmäht.

Zwei Menschengattungen ist der Hang zur Maßlosigkeit natürlich: den Irrsinnigen und den Marktschreiern. Geisteskranke, die an einem systematisierten Delirium und an manischer Erregung leiden, haben sehr wenige, doch sehr starke Empfindungen und ihr Bewußtsein ist von einer sehr kleinen Anzahl Vorstellungen erfüllt, oft nur von einer einzigen, um die der ganze Denkvorgang in stürmischem Wirbel verläuft, wie die Wasser eines reißenden Stromes um einen in seiner Mitte aufragende Felsenklippe tosen und schäumen. Diese Kranken sind ohne Zusammenhang mit der Wirklichkeit und ohne Verständnis für sie; ihre heftigen Innengefühle machen sie gegen Eindrücke von außen unempfindlich; ihre Zwangsvorstellungen verdrängen alle anderen Gedanken und überschatten das ganze Weltbild. Der Sinn für Verhältnismäßigkeit und die Fähigkeit der Vergleichung objektiver Erscheinungen miteinander und mit deren subjektiver Abspiegelung in ihrem Geiste ist ihnen verloren gegangen. (...)

Bei den Marktschreiern liegt der Fall ungleich einfacher. Bei ihnen ist die äußerste Übertreibung keine innere, sondern eine äußere Notwendigkeit, kein organischer Zwang, sondern zweckstrebige vernünftige Absicht. Sie schwellen ihre Stimme gewaltig, um den Lärm der Kirmes zu übertönen, um die Aufmerksamkeit gebieterisch auf sich zu lengen, um die Hörer zu verwirren, zu betäuben, zu hypnotisieren und durch Lähmung ihres Urteilsvermögens ihrer Suggestion zu unterwefen.

Die natürlichen Superlativisten, die Irrsinnigen und die Marktschreier, dienen vielen Nachahmern zum Vorbild, die ihr schrilles und groteskes Ausrufergeschäft nicht aus triebhaftem Drang, sondern kühl methodisch anwenden, weil ihnen die Manier eindrucksvoll, schön, wirksam und namenetlich hochmodern scheint. Von der Geschäftsreklame sei hier abgesehen. Sie ist die höher entwickelte Form des Marktschreiertums. Die Reklame ist zu einer Wissenschaft und Kunst ausgebildet worden. Sie ist ein Zweig der angewandten Psychologie. Ihre tüchtigsten Spezialisten machen eigentlich vom Superlativismus nur noch einen sehr beschränkten Gebrauch. Er scheint ihnen die Kindheit ihrer Kunst, über die sie hoch hinausgewachsen sind.

(...)

Weshalb der Superlativismus die natürliche, in dem einen Fall aus inneren organischen, in dem anderen aus äußeren praktischen Gründen gebotene Asudrucksweise der Verückten und der Marktschreier ist, haben wir gesehen. Ich will jetzt versuchen, den psychologischen Wurzeln der Übertreibungssucht derjenigen nachzugraben, die weder das eine noch das andere sind, jedoch die Art der einen und der anderen nachahmen.

Die Maßlosigkeit der Werturteile, die Übertreibung der Behauptungen, die allzu grelle Färbung der Eindrücke ist im geistigen Ausdruck der Gedanken und Gefühle dasselbe wie in der physischen Veräußerlichung der Bewußtseinszustände das Sprechen mit überlauter, schreiender Stimme, das heftige Gestikulieren mit frenetischen Zappelbewegungen und das gewaltsame Verzerren der Miene. All diese Züge sind in erster Reihe ein schlüssiger Beweis schlechter Erziehung. Sie lassen auf den ersten Blick Mangel an Kinderstube, die Gewohnheit des Verkehrs in den niedrigsten Kreisen und bei aller scheinbaren Arroganz eine äußerst geringschätzige Selbstwertung, mit einem Worte Pöbelhaftigkeit erkennen. (...)

Superlativismus ist also der Gegensatz zur Vornehmheit. Er setzt bei dem, der ihn gewohnheitsmäßig anwendet, fehlende oder schwache Inhibition und ungezogene Rechthaberei voraus, die sich mit Gewaltmitteln des Überschreiens, Betäubens und Einschüchterns durchzusetzen sucht. Er schließt ferner eine tiefe Verachtung der Zuhörerschaft in sich, an die er sich wendet. Der (...) Superlativismus ist endlich ein unbewußtes Bekenntniss, daß man sich unzuständig und geringgeschätzt weiß. Wer sich seiner Kompetenz und Autorität bewußt ist, der hat es nicht nötig, dick aufzutragen. Er ist sicher, daß man jedem seiner Worte die Beachtung schenkt, auf die es Anspruch hat, und daß man ihm glaubt, was er sagt, ohne daß er es zu wiederholen, hinauszuschreien, zu unterstreichen und in Fraktur vorzutragen braucht. (...) Herrschaft der Pöbelhaftigkeit, Bekenntnis der Unzuständigkeit und des vollständigen Mangels an Autorität, niedrigste Einschätzung des Erziehungs- und Bildungsgrades der Leser, das ist die Bedeutung des Superlativismus, der heute der allgemeine Ton ist....

__________ Gekürzte Leseprobe aus: ________________________________
 

Marco Schicker (Hg.)
ZUKUNFTSLAND
Die europäische Ideenwerkstatt
Pester Lloyd von 1866 bis 1938

Gezeiten Verlag, Wien 2009
Feuilletons | 272 Seiten | 12 x 21 cm
Hardcover mit Schutzumschlag
ISBN 978-3-9502272-8-4
[D/A] EUR 21,50 | CHF 35,20

Erscheint Anfang 2009

Bestellungen können
gerichtet werden an:
Per Mail: wien@pesterlloyd.net
Per Fax: 0036 1 269 3035
Tel. (Ungarn) +36 1 269 3009
Tel. (Österreich) +43 664 317 3067

Die Auslieferung erfolgt zzgl. der Versandkosten von 3,60 EUR
(für AT, HU, CH, DE, CZ und SK
 weitere Länder auf Anfrage)

Alle Rechte vorbehalten

 

(c) Pester Lloyd

IHRE MEINUNG IST GEFRAGT - KOMMENTAR ABGEBEN

 

 

 

IMPRESSUM

 

Pester Lloyd, täglich Nachrichten aus Ungarn und Osteuropa, Kontakt