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Zigeunerstempeln
Die Gipsy-Lore-Society, welcher der Autor des ersten der folgenden Beiträge,
F. W. (Friedrich Wilhelm) Brepohl, angehörte, wurde 1888 in England als Wissenschaftsvereinigung zur Erforschung der "fahrenden Völker"
gegründet und existiert noch heute. Sie hält jedes Jahr an wechselnden Orten eine große Tagung ab (2002 in Ungarn), auf der neben ethnologischen auch
zunehmend soziale und integrative Aspekte des "Zigeunerproblems" erörtert und publiziert werden.
Der nachfolgende Text von Stefan Bársony ist eine direkte Replik auf die
Ausführungen Brepohls im Pester Lloyd vom 16. März 1910. Er zeigt, wie tief verwurzelt in bürgerlichen Kreisen die Vorstellungen von der Existenz
höher -und tieferstehender Nationen und Rassen waren und mit welcher Selbstverständlichkeit man feststehende soziale Rassenmerkmale als unabänderlich festzustellen vermeinte.
Rassismus, dem man heute nicht nur subtil sondern oft noch eben so direkt
und unverblümt als lebendige Vorurteile in weiten Teilen der ungarischen Bevölkerung, relativ unabhängig von politischer Zugehörigkeit oder
Bildungsgrad, begegnet, auch dadurch bedingt, daß es in der Nachwendezeit nicht gelungen ist, die Integration dieser größten ethnischen Minderheit in
sichtbar taugliche Bahnen zu lenken. So traurig und alarmierend die tagtäglich vermeldten Auswüchse der Inhumanhität auch sind, existieren
doch unübersehbar massive Probleme im Zusammenleben mit dieser von uns asozialisierten Volksgruppe, die bis heute nicht recht lösbar scheinen. Ob die
soziale Ausgrenzung und die weitgehende Vermeidung von Kommunikation mit diesen Bürgern mit ungarischem Pass (Ungarn also!) jedoch eine Lösung
herbeiführen, kann, das lehrt die hier dokumentierte Geschichte, mit Bestimmtheit verneint werden.
Nach dem Autor des zweiten Textes, István Bársony, 1855-1921 (er arbeitete
nach juristischer Ausbildung als Journalist und freischaffender Schriftsteller, der hauptsächlich Jagderzählungen und Skizzen aus dem ländlichen Leben
und Naturbücher fabrizierte) wurde im Jahre 1991 eine Fachschule für Agrarwirtschaft im Komitat Csongrád benannt, eben jenem Ort in dem 1910
der Beschluß gefasst wurde, Zigeuner zu "stempeln" und ihnen die Pferde abzunehmen. In Ungarn exisitert heute zudem eine Bársony-Stiftung, die
sich mit Jagd-, Natur- und Heimatthemen befasst.Von einem Herrn Brepohl weiß indes hier niemand mehr.
Bihári, der Zigeunergeiger
1910
Die Zigeuner in Ungarn
F. W. Brepohl
Mitglied der Gipsy-Lore-Society
Eine vor Moanten unter dem Vorsitz des Grafen Géza Mailáth tagende
Konferenz zur Beratung der Zigeunerfrage in Ungarn (zu Csongrád) beschloß auf Vorschlag des Barons Alexander Jeßenßky, eine Eingabe an die Regierung zu richten, man möchte doch den Zigeunern alle
Wagen und Pferde abnehmen, um sie dadurch zum Aufgeben des Nomadenlebens zu zwingen. Auch sollen ihnen alle Waffen und Messer abgenommen werden, ferner solle man jedem Zigeuner eine
einem sichtbaren Teile des Körpers eine Nummer abstempeln, um so eine Kontrolle derselben zu ermöglichen.
Diese Nachricht hat die Zigeuenrforscher und ethnologen Europas
einigermaßen überrascht. Hatte doch bisher Ungarn den R u h m, diesem Volk gegenüber unter allen Kulturvölkern Europas die humanste Stellung eingenommen zu haben. Hoffentlich lehnt auch die
ungarische Regierung den sonderbaren Vorschlag ab. Würde doch dessen Ausführung die Errungenschaften bedeutender Zigeunerforscher, unter denen Ungarn hervorragende Männer
geliefert hat, in ihrem Wert herabmindern. Nicht dazu haben ein Erzherzog Josef, ein Professor Dr. Hermann, ein Dr. Heinrich von Wislocki und ein Franz Liszt mit solcher Aufopferung und Liebe sich
dem Studium der Eigenart und des inneren Lebens dieses Volkes ergeben, um am Ende nichts weiter hervorzubringen, als eine gesetzliche Maßregel, die an das Mittelalter erinnert und die eines
Kulturvolkes, wie das der Ungarn, unwürdig ist. (...)
Nachdem der Reichsabschied des deutschen Reichstages von 1497
(§21) die Zigeuner des Landes verwiesen hatte und der Reichstag von Freiburg 1498 sie für vogelfrei erklärte, war es der edle Graf Georg Thurzó, Palatin von Ungarn, der diesem gequälten und gejagten Volk
in Ungarn ein gastlich Asyl gab und ihnen einen Freibrief ausstellte. Diese Tat Thurzós wird der ungarischen Nation bei allen humandenkenden Völkern und Kulturmenschen zu dauerndem
Ruhme gereichen. Während andere europäische Völker mit eiserner Faust die Zigeuner bedrückten, brandmarkten und töteten, war es Ungarn, das dank der weisen Einsicht seines Palatins menschlich mit
ihnen verfuhr. Während zu Anfang des 18. Jahrhunderts der König Friedrich Wilhelm I. von Preußen befahl, daß die Zigeuner, welche preußische Staatsgebiete betreten und über achtzehn Jahre alt seien,
ohneweiteres und ohne Unterschied des Geschlechts am Galgen aufgeknüpft werden sollten, während die Grafschaft Reuß in einer Verordnung von 1711 befahl, daß alle männlichen Zigeuner, einerlei,
ob mit Pässen versehen oder nicht, ohneweiteres zu erschießen seien, wenn sie in reußischen Landern ergriffen würden, die Weiber derselben aber mit Ruten gepeitscht und ihnen der Galgen an die
Stirne gebrannt werden sollte, waren es die ungarischen Behörden, die auf Grund des Freibriefes des Grafen Thurzó und der siebenbürgischen Fürsten sie gastlich aufnahmen. Die STadt Brassó
z.B. schenkte im Jahre 1416 ihnen Federvieh, Frucht aus dne Stadtkammern und zehn Denar. Franz Liszt lobte diese Tat der Ungarn als eine humane und sagt, daß nur das ungarische Volk ein
menschliches Empfinden für dieses geplagte und gehetzte Volk gehabt habe. Dem ungarischen Volk sei es auch zu verdanken, daß die Zigeuner sich zu solch musikalischer Kunstfertigkeit hätten
aufschwingen können.
Man fragt sich nun billig, ob ein Vorschlag wie der der Csongráder
Konferenz, welcher geeignet ist, das Ansehen der ungarischen Nation und dne Ruf ihrer Humanität zu schädigen, einen praktischen Wert hat. Die Geschichte lehrt, daß bei Zigeunern harte Bedrückungen und
Maßregelen von unmenschlicher Strenge keinen Wert hatten. Die schon erwähnten Verordnungen von Reuß und Preußen fruchteten in diesen Ländern nichts. Je mehr man das Volk drückte, je mehr es sich
mehrte. Diese alte Bibelwahrheit erfüllte sich an den Zigeunern. Eine sechshundertjährige Geschichte dieses Volkes in Europa lehrt, daß dadurch die Plage, die von diesem Volke ausgeht, keineswegs aus der
Welt geschafft wurde. (...)
Genau so würde es mit der Ausführung der Beschlüsse der
Csongráder Konferenz gehen. Rein mechanisch ist dieses Volk nicht zu erziehen. Die Konferenzbeschlüsse würden dem Staat ohne jeglichen Nutzen nur hohe Kosten auferlegen. Die Fortnahme der
Pferde muß naturgemäß eine Erbitterung bei den braunen Gesellen hervorrufen, und würde daher die Verschlagenehit derselebn eher fördern, als die Leute moralisch bessern. Ehrlichkeit wird durch
äußeren Gesetzeszwang nicht geschaffen, sondern nur durch Herzensbildung und Ethik. Was nützt es, ihnen die Waffen wegzunehmen, da dieselben doch in jedem Laden zu haben sind. Man
denke nur auch an dne Mißerfolg, den das Deutsche Reich hatte, als es den Eingeborenen seiner Kolonien Waffen wegnehmen ließ. Und dabei war das Deutsche Reich noch so vorsichtig, eine Geldentschädigung
für die Waffen zu geben. Die Anbringung einer Nummer würde die Zigeuner aber wieder zu Parias stelmpeln und sie ihrer Menschenwürde berauben. Wir brauchten uns nicht zu wundern,
wenn die Erbitterung dieses Volkes sich derart steigern würde, daß sie zu einer noch schlimmeren Plage für Ungarn als bisher heranwüchsen.
(...)
Wird auf diesen fruchtbaren Boden ein guter Same gestreut, nicht mit
Gewalt und Gesetz, sondern getragen von Liebe und wahrer Humanität, dann geht er auch auf. Die Frucht dieser Arbeit wird sein, daß die Ziegeuner zu nützlichen Gliedern der ungarischen Nation und
brauchbaren Werkzeugen der menschlichen Gesellschaft werden. Was hätte Ungarn davon, eine seinem Lande ein nach Zehntausenden zählendes Volk zu besitzen, welches Gehorsam gegen die Gesetze
heuchelte und dabei im Herzen doch grimmige Feindschaft und Rachegedanken hegte?
Stefan Bársony
Unsere Zigeuner - eine Erwiderung
23. März 1910
(...) Die seiner Auffassung zu grunde liegende edle Absicht des F.W.
Brepohl kann nicht bezweifelt werden; dennoch käme es einem Versäumnis gleich, wollten wir nicht auf sein Thema zurückkehren, namentlich um dem ausländischen Publikum bessere Aufklärung
zuteil werden zu lassen. Das anerkennenswerte Bestreben des Herrn Brepohl, unsere Zigeuner - natürlich die auch im Auslande sozusagen
für "vogelfrei" gehaltenen Wanderzigeuner - für die Gesellschaft zu retten, ihnen aber in erster Reihe eine humanere Behandlung als die
bisherige (!) zu sichern, gibt der Sache den Anstrich, als könnte uns in dieser Beziehung ein gerechter Vorwurf treffen. (...) Wozu es leugnen?
Die suprema lex ist und war jederzeit das salus rei publicae, das heißt das Heil, der Friede, die Ruhe des Staates. Und wer diese fortwährend
nur zu stören such, wer sich jeder Bürgerpflicht hartnäckig entzieht und ausschließlich nur Mißbräuche aller Art zur Basis seines Lebens macht, der muß es sich gefallen lassen, wenn sich die Gesellschaft
seiner auf eigene Faust zu entledigen sucht.
Bársony entwirft nach einigen weiteren Vorürfen an den "äußerst" belesenen
aber trotzdem "einseitig" informierten Brepohl, daß "Studien allein noch kein Problem gelöst" hätten in der Folge eine Theorie von "dreierlei Arten" von Zigeunern:
Die eine Art ist jene, die auch Franz Liszt kannte, und die sozusagen
jedermann kennt: der Zigeunermusiker, dessen künstlerische Begabung Franz Liszt wiederholt rühmt. Diese Art ist eine völlig selbständige, und selbst der größte Menschenfreund könnte nicht
behaupten, daß ihre Angehörigen in der ungarischen Heimat oder im Auslande schlecht behandelt würden, da sie als interessante Musiker
selbst an höfischer Stätte verkehren, auf ihrem Gebiete eine förmliche Spezialität darstellen, da sie beim Spiel keine Noten benötigen und
mit ihrer Virtuosität von geradezu faszinierendem Reiz sein können. - Unter diesen finden sich richtige Kavaliere, doch entbehren sie auch
des "Ausschusses" nicht; (...) und obgleich sie ein arbeitsscheus, faules Volk sind, arten ihre Fehler doch nicht so weit aus, daß sie nicht einer
der traditionellen Beschäftigungen, wie Ziegelschlagen oder Schmiedearbeiten, nachgingen. Zu regelmäßiger Arbeit raffen sie sich aber nur in den seltensten Fällen auf, lieber lassen sie sich von der
Sonne bescheinen als daß sie im Hinblick auf den nächsten Tag Arbeit suchen oder verlangen würden. Der musizierende Zigeuner stellt aber
eine alte ungarische Spezialität dar, die friedlich , sogar allbeliebt in unserer Mitte lebt...
(...) In die zweite Kategorie gehört der sogenannte "Muldenzigeuner",
der eigentlich der arbeitssamste unter seinen Stammesgenossen ist, denn seine Beschäftigung besteht jahraus, jahrein in der Herstellung von Mulden, Trögen, Holzkesseln. Diese Leute werden in Ungarn von
niemandem belästigt, so wenig wie sie - dem Vernehmen nach - anderen lästig fallen; man kann im Walde ruhig an ihnen vorübergehen, ohne befürchten zu müssen, daß man niedergeschlagen
oder niedergeschossen und dann ausgeraubt wird. Es leuchtet ein, daß diese ihrer nicht viele sind; sie lassen sich kleinen Gruppen bald hier,
bald dort nieder, verbringen den Winter zumeist an einem Ort, wo sie sich am heimischsten fühlen, und versteigen sich höchstens zu Schweine- und Hühnerdiebstahl; das aber kommt mitunter auch bei
Leuten vor, die keine Zigeuner sind.
Ganz anders liegen die Dinge indessen bei der dritten Kategorie, dem
Wanderzigeuner, der an vielen Orten auch wlachischer Zigeuner genannt wird. Aus dem vermochte bisher niemand durch Überredung, Bitten, Drohungen, Güte, Strenge, Bekehrungsversuche einen
gesitteten Menschen zu machen, der geneigt oder imstande gewesen wäre und ein Mensch in des Wortes eigentlichem Sinne zu werden. Er lebt davon, daß er sich stets an fremdem Gute vergreift; dabei ist es
ihm ganz einerlie, ob er das mit List oder Gewalt bewerkstelligen muß. Diese Leute sind keine "Nomaden", denn das Nomadenleben war eigentlich mit harmloser Hirtentätigkeit verbunden... Diese
Wanderzigeuner dagegen ist der geschworene Feind alles Lebenden; er bedroht und beraubt alles und jedes, und zwar ständig, ohne sich durch die Furcht vor dem Gesetz irgendwie beugen zu lassen.
(...)
Humanität! Ein schönes Wort, ein herrlicher Begriff! Kann aber
jemand als Mensch angesprochen werden, der keinerlei menschliche Pflicht anerkennt, hingegen der geschworene Feind jeglichen menschlichen Interesses ist? (...) Seien wir doch vorsichtig mit
Schlagworten und opfern wir nicht das Gemeinwohl der übertirebenen Humanität, zumal solches Beginnen diesem Begriff überhaupt nicht entspräche. Wenn wir - welch ein fruchtbar
barbarischer Gedanke! - diesen umherziehenden Bestien die Kinder abnehmen und versuchen würden, sie von einander abgesondert, in diesem Zwecke entsprechenden Instituten oder von bereitwilligen
Bürgern zu M e n s c h e n erziehen zu lassen, solange sie geformt und erzogen werden können, so würde dies villeicht, wenigstens zum Teile,
gelingen. - Doch eine solche Idee ist ja "mittelalterlich", denn sie bedeutet einen Eingriff in die heiligsten Elternrechte. - Die Indianer,
dieses prächtige Volk, diese Muster der Ehrlichkeit und Rechtschaffenheit, wurden von der "Zivilisation" ausgerottet, weil sie
sich nicht genügend zivilisieren wollten. Die Boeren taten niemandem etwas zuleide; sie waren ein gottesfürchtiges, fleißiges Volk und ihr
ganzes Verbrechen bestand darin, daß sie den Zielen anderer den Weg verstellten, bis jene "anderen" über sie hinwegstampften. Aber die
Wanderzigeuner, diese gefährlichen, unverbesserlichen Feinde alles Bestehenden, die obendrein ein absolut wertloses Menschenmaterial darstellen, sollen wir mit Handschuhen anfassen, sonst ziehen wir uns
ihre Ungnade zu und man gibt am Ende noch ihnen Recht!
Nein, geehrter, vertrauensseliger Herr Brepohl, das wäre denn doch zu
viel - des Schlechten! Jawohl, Humanität tut hier not, aber in erster Reihe jener Gesellschaft gegenüber, die ungezählten Pflichten nachkommt und sich mit Fug und Recht dagegen sträubt, daß sie von
einer, leider aus vielen Tausenden bestehenden wilden Horde drangsaliert wird inmitten des gesitteten Europa, ohne sich dagegen wirksam schützen zu können.
Ein Volksstamm, bei dem alle geschichtlichen Daten - die auch Herr
Brepohl gewissenhaft verzeichnet - nur den Beweis liefern, daß er unablässig gemaßregelt werden mußte, ohne daß dies auch nur den geringsten Erfolg hätte, ist wahrhaftig nicht berechtigt, von der
nüchternen und logischen Humanität zum Schaden und Nachteil der w i r k l i c h e n M e n s c h e n verteidigt, obendrein zu dem Zwecke
verteidigt zu werden, damit er bleibe, was er vor Jahrhudnerten gewesen und was er bis in alle Ewigkeit bleiben wird, da er anders überhaupt nicht sein kann.
(...).
__________ Stark gekürzte Leseprobe aus: ________________________________
Marco Schicker (Hg.) ZUKUNFTSLAND
Die europäische Ideenwerkstatt Pester Lloyd von 1866 bis 1938
Gezeiten Verlag, Wien 2009
Feuilletons | 272 Seiten | 12 x 21 cm Hardcover mit Schutzumschlag ISBN 978-3-9502272-8-4 [D/A] EUR 21,50 | CHF 35,20
Erscheint Anfang 2009
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