(c) Pester Lloyd / 26 - 2009
GESELLSCHAFT 26.06.2009
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Ignoranz der Armut
EU-Studie: Um Armut auf dem Lande zu bekämpfen, muss man sie zuerst wahrnehmen
Wie haucht man ausgetrockneten ländlichen Gebieten wieder Leben ein? Um das komplexe Problem der ländlichen Armut erfolgreicher als in der
Vergangenheit bearbeiten zu können, kommt es darauf an, die so genannten „Teufelskreise“ der Demographie, Abgelegenheit, Bildung und des Arbeitsmarktes mit Hilfe effektiver Strategien zu durchbrechen.
Positiv zu vermerken ist, dass die Studie der Stiftung Brodolini allem voran die
EU-weite Vernachlässigung der Behandlung von ländlicher Armut innerhalb der vergangenen neun Jahre – seit der EU-Ratssitzung im März 2000 (Stichwort:
„Lissabonner Vertrag“) kritisiert. Diese, insbesondere den betroffenen Bürgern der EU, schwer zu erklärende Vernachlässigung zieht hinsichtlich der Tatsache, dass
ländliche Gebiete einen Großteil des europäischen Territoriums und der Bevölkerung der 27 Mitgliedsstaaten ausmachen, negative Konsequenzen nach sich. Und da mit
den vergangenen beiden EU-Erweiterungsrunden die ländliche Dimension an Bedeutung weiter zugenommen hat, müssen auch die Auswirkungen einer
Vernachlässigung dieses Themas schwerwiegender ausfallen als zuvor.
Weiter wurde im Rahmen der Untersuchung festgestellt, dass bestehende
Stereotypen bezüglich der Armut auf dem Land deren Identifizierung verhindern. Insbesondere EU-Politiker seien urbane Menschen, denen der nötige Blick für die
ländlichen Probleme fehle. Anders ausgedrückt, mache der urbane Blickwinkel die ländliche Armut schlicht unsichtbar.
„Teufelskreise“ müssen mit Hilfe effektiver Strategien durchbrochen werden
Im Wesentlichen aber bestätigte die Untersuchung der Stiftung Brodolini, was schon
seit langem bekannt ist: Um das mehrdimensionale Problem der ländlichen Armut erfolgreicher als in der Vergangenheit bearbeiten zu können, kommt es darauf an,
die so genannten „Teufelskreise“ der Demographie, Abgelegenheit, Bildung und des Arbeitsmarktes mit Hilfe effektiver Strategien zu durchbrechen. Verständlicher
ausgedrückt müssen Politiken zur Armutsbekämpfung daran gemessen werden, inwiefern sie ausgetrockneten ländlichen Gebieten wieder Leben einhauchen.
Eine ausgeglichene Bevölkerungsstruktur, in der Familien für den
überlebensnotwendigen Nachwuchs sorgen, entsteht erst dann, wenn in der entsprechenden Region ausreichende Beschäftigungsmöglichkeiten bestehen.
Gleiches gilt für das Angebot an Bildung, denn ist dieses nicht gegeben, zieht es die jungen Menschen zumeist in die städtischen Regionen, wo sie eine bessere
Ausbildung erhalten und somit auch bessere Chancen haben, auf dem Arbeitsmarkt gegenüber der Konkurrenz bestehen zu können.
Der erste Schritt muss allerdings auf dem Arbeitsmarkt erfolgen. Darin sind sich die
Experten einig. Und das bedeute auf die ländlichen Gebiete bezogen, so die italienische Soziologin Paola Bertolini, dass das landwirtschaftliche System einer
Rationalisierung, d.h. einer grundlegenden Veränderung in Richtung mehr Effektivität unterzogen werden müsse. Um dieses zu erreichen, müsste wiederum
die Kommunikation zwischen den kommunalen Verwaltungen und den „Steak-Holdern“ wesentlich verbessert werden. Können sich diese beiden Seiten
jedoch nicht auf ein gemeinsames Vorgehen einigen, werden auch die nötigen Anreize nicht geschaffen, die junge Menschen von einem Leben auf dem Land überzeugen.
Neben dem in manchen ländlichen Gebieten so gut wie nicht vorhandenen
Arbeitsmarkt, kristallisieren sich die Aspekte der Bildung und Infrastruktur als vorrangige Probleme ländlicher Gebiete heraus. Im Bereich der Bildung ist in erster
Linie das im Verhältnis zu urbanen Gebieten schlechte Angebot und die nicht ausreichende Qualität der (Vor-) Schulbildung zu nennen. Gleiches gilt hinsichtlich der
Infrastruktur für fehlende Dienstleistungen und unzureichende Gesundheitsvorsorge. Alle angesprochenen Aspekte sind Facetten ländlicher Armut und können
insbesondere für bestimmte Gesellschaftsgruppen wie Senioren, Menschen mit Behinderungen und sozialen Beeinträchtigungen zur Ausgrenzung führen.
Perspektivenwechsel: Bestehende Ansätze und Definitionen müssen miteinander
kombiniert werden
Um den vielfältigen Problemen adäquat begegnen zu können, schlägt u.a. Edelmiro
López Iglesias, ehemaliger Beauftragter der Galicischen Regierung für ländliche Gebiete, vor, die bestehenden Ansätze zur Strategiebildung bzw. die
unterschiedlichen Kriterien zur Definition von Armut miteinander zu kombinieren, um schließlich effektivere Politiken im Rahmen der Bekämpfung von ländlicher
Armut entwickeln und anwenden zu können. Dieses sei insbesondere aus der Sicht kleiner ländlicher Gemeinden notwendig, da eben sie in frühere Statistiken nicht
aufgenommen und somit gar nicht erst ausfindig gemacht worden sind.
Dieser missliche Umstand stellt sich vor allem innerhalb der europäischen
Kohäsionspolitik, welche die Umverteilung zwischen reicheren und ärmeren Regionen zum Gegenstand hat, als verheerend heraus, da die in Analysen und Statistiken nicht
berücksichtigten kleinen Regionen auch keine Mittel aus den Kohäsionsfonds erhalten. Zumindest dieses Problem sollte mittels des oben angesprochenen Perspektivenwechsels bearbeitet werden können.
David Völker
Zum Thema:
Am Tropf der EU Ländliche Armut in Ungarn und das "Romaproblem" - zwei Beispiele
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