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(c) Pester Lloyd / 26 - 2009 GESELLSCHAFT 26.06.2009
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Die Höhlenmenschen von Szomolya

Ländliche Armut und das "Romaproblem" in Ungarn

In Budapest fand ein EU-Kongress zu „Armut und soziale Ausgrenzung in ländlichen Gebieten“ statt. Eine dazugehörige Studie sagt viel Richtiges, aber kaum Neues, die Abstraktion des Empirischen verstellt den Blick für konkretes Elend. Deshalb hat sich ein Reporter des Pester Lloyd aufgemacht, anhand zweier Beispiele aus Ungarn zu zeigen, in welchem Dilemma Hilfsprogramme am Tropf der EU stecken können. Klar wird: die Armutsfrage auf dem Lande kann nur mit der Verbesserung der Lebensbedingungen für die Roma beantwortet werden. Und Ungarn muss dabei endlich mitziehen.
 

Die Beantwortung der „Romafrage“
ist der Schlüssel

László Herczog, Ungarns Minister für Arbeit und Soziales, betonte auf der Konferenz dass es hierzulande ein Ost-West-Gefälle der Armut gebe, während sich das zentral gelegene Budapest aus diesem Gefälle als Hauptstadt abhebe. Dabei sieht der Minister der sozialistischen Regierung zu Recht die „Romafrage“ als das Schlüsselphänomen an, wenn es darum geht, die ländliche Armut „nicht nur in Ungarn“ zu verringern. 13 % der Ungarn leben unter der offiziellen Armutsgrenze, wobei 30 bis 35% von ihnen Roma seien. Und da nicht nur aus Herczogs Sicht das so genannte „Romaproblem“ ein gesamteuropäisches Problem ist, müsste ein großer Teil der Gelder der EU-Fonds für nachhaltige Langzeitprojekte zu dessen Lösung angelegt werden. Ministerpräsident Bajnai sagte dazu gerade gestern, dass das "Romaproblem" vor allem ökonomisch zu beantworten sei.

Fotos: David Völker (c) Pester Lloyd

Über 12 Millionen Euro wurden der Ungarischen Regierung seit 2006 bereits zur Verfügung gestellt, um soziale Projekte in abgelegenen Dörfern mit einem hohen Anteil von Roma an der dortigen Bevölkerung durchzuführen. Damit diese aber langfristig und nachhaltig weitergeführt werden könnten, bräuchte Ungarn an die 100 Millionen Euro, fordert der Beauftragte für Roma-Programme in Ungarn Andor Ümös. Ohne konkreten Bezug mag die Forderung übertrieben klingen, begibt man sich jedoch in die Dörfer, in denen von der EU geförderte Projekte durchgeführt werden, erscheint sie durchaus angemessen.

Maßnahmen zur Eingliederung in den „Arbeitsmarkt“ verlaufen im Sande

Ein Reisebus mit Kongressteilnehmern begibt sich ins 115 Kilometer östlich von Budapest gelegene Dorf Tarnobod. Dort betreibt Maltei, der ungarische Malteser Hilfsdienst, eine Werkstatt zur Zerlegung von Elektrogeräten, die bis zu 30 zuvor arbeitslosen Dorfbewohnern eine Beschäftigung bietet. Die in ihre materiellen Einzelteile zerlegten Geräte werden für 50 Forint (umgerechnet ca. 0,18 Cent) pro Kilo an Großunternehmen verkauft, wo sie wieder aufbereitet werden. Da die Werkstatt – wie es heißt „auf Grund der schlechten wirtschaftlichen Situation des Staates“ – nun jedoch keine finanzielle Unterstützung mehr durch öffentliche Gelder erhalte, wären die Betreiber schon froh, wenn sie „den Betrieb aufrecht erhalten“ könnten. Es ginge schließlich darum, die „Hände am Arbeiten“ zu halten“. Den niedergeschlagenen Gesichtern der Verantwortlichen sieht man allerdings schon an, dass sie an diesen wahrscheinlich von oben diktierten Satz nicht glauben. Zudem ist es offensichtlich, dass die Arbeitsplätze in der Werkstatt nicht ausgelastet, d.h., dass nur 10 von 30 möglichen besetzt sind. Welche die Gründe für diese Unterbesetzung sind, ist nur schwer zu sagen. Sicher ist allein, dass der Betrieb ohne finanzielle Unterstützung seinen Zweck nicht erfüllen kann. Wie kann die EU sicherstellen, dass ihre Gelder auch wirklich dort ankommen, wo sie ankommen sollen?

Tarnobod ist ein typisches Dorf, betrachtet man es unter den verschiedenen Gesichtspunkten der ländlichen Armut: Sämtliche Familien oder jüngere Menschen, die keine Roma sind, haben es schon längst verlassen. Jetzt leben hier nur noch Roma und alte Menschen. Arbeit gibt es keine, die Recycling-Werkstatt einmal ausgenommen. Den Dorfeingang säumen zum Teil bis auf die Grundmauern heruntergekommene Häuser, in denen Menschen leben sollen.

Am Tropf der EU:
eine warme Mahlzeit für Schüler

Umso mehr Lebensfreude strahlt der modernisierte und von Grund auf renovierte Altbau aus, der sich gleich neben der Werkstatt befindet und einen farbenfrohen Kindergarten für 70 Kinder beherbergt. Wie die Leiterin der Einrichtung berichtet, werden die betreuten Kinder oft direkt von ihren Familien abgeholt, weil sich die Eltern nicht trauen würden, sie dorthin zu bringen. Bei den Familien handelt es sich ausnahmslos um Roma, die in der Sprache der Bürokratie als „mehrfach sozial beeinträchtigt“ gelten und somit besonders förderungswürdig sind. Gleich gegenüber vom Kindergarten befindet sich ein weiteres Gebäude, dass in einem auffallend guten Zustand ist. Dabei handelt es sich um die ehemalige Dorfkneipe, die 2007 in ein Gemeindehaus umgewandelt wurde. Dort bekommen die Schulkinder nach der Schule eine warme Mahlzeit, können ihre Hausaufgaben machen und an außerschulischen Aktivitäten teilnehmen. Hier werden sie von einigen für diese Tätigkeit extra ausgebildete Roma-Bewohnerinnen betreut.

Was wird aus den Projekten, wenn irgendwann keine EU-Gelder mehr gezahlt werden?

„Dieses Projekt in allen Ehren“, äußert die Soziologin Paola Bertolini ihre Bedenken später im Bus auf dem Weg zum 50 Kilometer von Tarnobod entfernten Szomolya, „aber was soll daraus werden, wenn die EU-Gelder irgendwann nicht mehr gezahlt werden?“ Das Projekt und mit ihm die Menschen hingen doch am EU-Tropf, so die erfahrene Wissenschaftlerin, und würden danach in den gleichen Armutszustand zurückfallen, in dem sie vorher waren. Und Bertolinis Prophezeiung scheint teilweise bereits Wirklichkeit geworden zu sein, führt man sich noch einmal vor Augen, dass das Projekt „Recycling-Werkstatt“ nicht mehr bezuschusst wird und so gerade einmal ein Drittel der Beschäftigten halten kann.

Szomolya liegt über 130 Kilometer von Budapest entfernt und vereinsamt zwischen zwei Landkreisen. Hier leben zurzeit fast 1700 Menschen, von denen über 20% Roma sind, wobei die Bevölkerungszahl stetig abnimmt. An dieser Stelle muss erwähnt werden, dass nicht die Roma das Dorf verlassen! Während der Dorfkern und die ihn umgebenden Wohnbereiche von Nicht-Roma bewohnt werden, haben sich die Roma-Familien am Ortsrand ansiedeln müssen.

Ca. 35% von ihnen (119 Einwohner) lebten bis vor kurzem noch in 26 so genannten Höhlenwohnungen, ca. 10% (33 Einwohner) in Wohnwagensiedlungen, die „Shanties“ genannt werden und in denen menschenunwürdige Verhältnisse herrschen. Bei den Höhlenwohnungen handelt es sich um von Menschenhand ausgegrabene Felsenhöhlen, die aus beigefarbenem Riolit-Vulkangestein bestehen. Behelfsmäßig eingerichtet lebten die Roma hier mit ihren Kindern viele Jahrzehnte – bereits im Jahre 1930 zählten Forscher über 800 solcher Höhlen in Ungarn – ohne eine nahe Frischwasserquelle, Strom, elektrisches Licht oder sanitäre Einrichtungen nutzen zu können.

Umsiedlung von Roma-Familien als Integrationsmaßnahme?

Im Laufe der Zeit ist es den Bewohnern jedoch gelungen, sich ihre Unterkünfte etwas komfortabler einzurichten. So wurde 2005 der Verein für Szomolya-Roma gegründet, der sich in den Folgejahren auch mit Hilfe von EU-Geldern an der Verbesserung der Lebensumstände erfolgreich beteiligte und sich regional für die Rechte der Roma einsetzte. So sind Brunnen gegraben worden, die nicht weiter als 300 Meter von den Höhlen entfernt sind. Transformatoren zur Stromerzeugung und sogar Parabolantennen können seit dem von den Bewohnern genutzt werden.

Der Verein hat es sich jedoch zum Ziel gesetzt, die Höhlenbewohner Schritt für Schritt in annehmlichere Unterkünfte umzusiedeln und verspricht sich mit dieser langfristig angelegten Maßnahme einen integrativen Effekt. Wenngleich einige der Roma-Familien mittlerweile neue Wohnungen oder kleine Häuser beziehen konnten, bleibt festzustellen, dass sich auch diese besseren Domizile immer noch am Ortsrand und nur einen Steinwurf von den Höhlen entfernt befinden.

Integration im Sinne einer Gleichberichtigung zwischen Roma und Nicht-Roma scheint hier wenn überhaupt noch in weiter Ferne zu liegen. Viel eher noch hat es den Anschein, dass Szomolya in einem Jahrzehnt eine ähnliche Bevölkerungsstruktur wie Tarnobod haben wird. Sollte es Projekten wie den oben beschriebenen dennoch gelingen, die Lebensqualität der Minderheiten in ländlichen Gebieten zu verbessern und sie aus einigen Teufelskreisen der Armut zu befreien, stellt sich dennoch immer wieder von Neuem die Integrationsfrage.

Es ist kein Geheimnis, dass die Roma am Ortsrand den übrigen Dorfbewohnern von Szomolya ein Dorn im Auge sind. Und das lässt sich ebenso über hunderte von Dörfern in ganz Ungarn sagen, wo sich rechtsradikale Gruppierungen schon längst auf Menschenjagd spezialisiert haben. Auch im nächsten Jahr wird in Ungarn der Frühling und mit ihm Parlamentswahlen in Ungarn Einzug halten. Gewinnen die Konservativen und in deren Zugwind die Rechten, dann ist zu befürchten, dass das Wasser in den neuen Brunnen von Szomolya nicht mehr die gleiche Farbe haben wird wie vorher. In dieser Hinsicht verwandelt sich die „Romafrage“ in eine Integrationsfrage, zu deren Protagonisten vor allem diejenigen Bürger der EU werden, die sich zu einer Mehrheitsgesellschaft zählen.

Text und Fotos: David Völker

(c) Pester Lloyd

Zum Thema:

Ignoranz der Armut - eine Studie der EU

Menschen und Rechte - Amnesty international über die Lage der Roma in Ungarn, Tschechien und der Slowakei

 

 
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(c) Pester Lloyd

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