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(c) Pester Lloyd / 27 - 2009 GESELLSCHAFT 03.07.2009
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Goldkettchens Zeitvertreib

Auch die Sozialisten in Ungarn fordern die Bürgerwehr
Law and Order-Politik als Antwort auf das Erstarken der Rechten

"Es muss Ordnung herrschen in Ungarn - jede Entwicklung und das Krisenmanagement hängen daran", sagte Ministerpräsident Gordon Bajnai dieser Tage vor einer Klasse von "Sicherheitsleuten", die von der Polizei in Miskolc zu einer Art Hilfspolizisten ausgebildet wurden. Law and Order-Politik ist das neueste Steckenpferd der ungarischen Politiker, ihre hilflose Reaktion auf das Erstarken der Rechten und das eigene Versagen bei der Integration der Roma.

Bajnai sieht das "Romaproblem" auch als ein "primär ökonomisches". Mit Geld und Knüppel, Zuckerbrot und Peitsche also, will man jetzt eine funktionierende Gesellschaft basteln? Auch die Sozialisten wollen offenbar den Teufel mit dem Belzebub austreiben und wünschen die Einführung von einheitlichen Bürgerwehren auf dem Lande. Ein konkreter Vorschlag für so ein "Sicherheitsnetzwerk" soll auf dem Parteitag der MSZP am Wochenende beraten werden. Nach den Worten eines Parteisprechers, sollten die "Kommunalwachen" von den Kommunen bezahlt und auch beaufsichtigt werden, also nicht von der Polizei. Sie müssten auch mit ausreichenden Hoheitsbefugnissen ausgestattet werden.

Stadtwachen und Bürgerwehren gegen verschiedenste Gefahren gibt es schon seit dem Mittelalter. Nicht immer waren und sind es so brave Gesellen, wie dieser aus Baden, 19. Jh.

Die angeschlagene MSZP geht damit auf Forderungen der rechtsextremen Jobbik-Partei ein, die mit ihrer Rhetorik gegen die "Zigeunerkriminalität" bei den Wählern punkten konnte. Gegen die hohe Kriminalitätsrate in stark von Roma bewohnten Gegenden forderte Jobbik wiederholt die Wiedereinführung einer Miliz, quasi als Zweitpolizei auf dem Lande.

"Stadtwachen" und Bürgerwehren, in vielen Gemeinden und Ortsteilen gibt es schon eine solche "Polgárörség", die vor allem beobachtet und abschreckend wirkt. Teilweise rüde Gestalten (Stichwort Stiernacken mit Goldkettchen) spielen sich da als Ordnungshüter auf, anderswo kurven ehemalige Volksarmee-Offiziere in martialischem Outfit durch die Gegend, wieder anderswo vertreiben sich wichtigtuende klatschsüchtige Blockwarttypen die Zeit mit "Kontrollgängen". In vielen Orten wurden so die Einbruchsraten tatsächlich gesenkt, dafür ein Klima des Misstrauens und der Feindseligkeiten geschaffen. In anderen Regionen gibt es jedoch durchaus funktionierende Strukturen, meist dann, wenn es eine enge Koordination mit der Polizei gibt, die es nur gibt, wenn sie eben auch vor Ort ist und die "Bürgerwache" von vernunftbegabten Wesen gesteuert wird. Es sollte jedoch auch nicht vergessen werden, dass sich die gerade rechtskräftig verbotene “Ungarische Garde” auch als Bürgerwehr geriert.

Weitere Leserumfragen

Bürgerwehren in Ungarn
Was halten Sie von Bürgerwehren in Ungarn zur Kriminalitätsbekämpfung?
Finde ich gut, sollte jeder Ort haben
Das ist allein Aufgabe der Polizei
Ok, wenn sie ordentlich ausgebildet und kontrolliert werden.

 

Kritiker bezweifeln indes stark, dass relativ unausgebildete und charakterlich zum Teil zweifelhafte Typen wirklich fächendeckend die Sicherheit erhöhen können. Vielmehr könnte so ein rechtes "Sicherheits"-Netzwerk die rassistische Stimmung in der Bevölkerung weiter anheizen, die zu eskalierenden Gegenreaktionen führt und der Staat würde dafür sogar noch die Strukturen stellen. Gemäßigtere Akteure, sogar der nationalkonservative Fidesz, fordern hingegen eine bedeutend bessere personelle und materielle Ausstattung der Polizei, damit deren professionelle Fähigkeit zur Aufrechterhaltung der öffentlichen Ordnung gestärkt wird. Ein Fideszsprecher versprach, sobald man an der Macht sei, werden "tausende neuer Rekruten" eingestellt und eine Initiative zur Verschärung von Strafmaßen, vor allem auch für Wiederholungstäter eingeleitet.

Das Trainingsprogramm für die oben erwähnten Miskolcer Hilfssheriffs richtete sich in erster Linie an arbeitslose Jugendliche aus "benachteiligtem Hintergrund" - also Roma - und dauerte vier Monate. Die hundert ersten Sicherheitsleute werden bewaffnet sein und Polizeistationen in und um Miskolc zugeteilt. Sie sollen vor allem die Patrouillen-Dichte in den Wohngebieten erhöhen, die als "high crime areas" gelten. Eine solche Einbindung der "Problemgruppe" in die Prävention kann ein Mittel sein, ein Ersatz für eine effektive Polizearbeit ist es freilich nicht. Bei den Menschen bleibt aber hängen, dass etwas passiert. Warum erst auf Druck der Rechten?

In Miskolc und Umgebung ist die Anzahl der Roma besonders hoch, die Arbeitslosigkeit und Armut ebenso, die Kriminalität somit auch. Der Polizeichef der Stadt hatte sich bereits vor einem Jahr in einem spektakulären Skandal zu einigen romafeindlichen Sprüchen hinreißen lassen, was zu seiner Absetzung führte. Einen Tag danach wurde er, nach Protesten von Politikern und Polizisten wieder in sein Amt gelassen. Die Regierung gab ihm 7,4 Mio EUR Extrabudget, um die Polizeipräsenz in seinem Bereich erhöhen zu können.

Diskutieren Sie in unserem Gästebuch: Welche Erfahrungen haben Sie mit Bürgerwehren gemacht? Sinnvolle Einrichtung oder gefährliche Paramilitärs?
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(c) Pester Lloyd

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