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(c) Pester Lloyd / 33 - 2009 feuilleton
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Thomas Mann

Achtung Europa!

I.

15. November 1936

Es ist nicht mehr als loyal, vorauszuschicken, daß der Verfasser dieser Zeilen im Beginn des siebenten Jahrzehnts seines Lebens steht. Altersverstimmung gegen die Zeit mag eine in dem Grade gesetzmäßige Erscheinung sein, daß sechzig und mehr Jahre die Meinungen eines Mannes über „das Neue“, den Zustand der Welt, in den hineinzuleben ihm bestimmt war, einigermaßen entwerten. Dennoch werde ich nicht auf viel Widerspruch stoßen bei der Behauptung, daß man nicht unbedingt sechzig sein muß, um die gegenwärtige Verfassung Europas grauenhaft zu finden.

Man hat Jüngere dabei auf seiner Seite, vielleicht jeden, der überhaupt imstande ist, sich von der Zeit und Mitwelt kritisch zu distanzieren, statt dumm und fröhlich zu sein, was die anderen sind. Wem diese vom Standpunkt des Eudämonismus allerdings zweifelhafte Gabe zuteil wurde, der ist nicht nur berechtigt, sondern verpflichtet, von ihr Gebrauch zu machen, solange er lebt: Das Leben selbst, das kein Zufall ist, haftet für jene Kompetenz, die erst der Tod uns entzieht. Es ist merkwürdig genug, wie wenig man sich das Urteil eines Abgeschiedenen über das, was nach ihm kam, vorzustellen vermag. Das Gedankenexperiment, so gern man es anstellen mag, erweist sich als undurchführbar und mäßige: die Stellungnahme eines aus der Zeit Gerufenen zur Zeit ist eine nicht nur physische, sondern auch geistige Unmöglichkeit. Auf ihrer Zeitentrücktheit beruht die Distinktion der Toten, die einem Dichter das Wort eingab: „Ein toter Bettelmann ist vornehmer als ein lebender König“. Aber auch das Leben hat seine Vornehmheit, denn es ist eine wählende macht, und die Tatsache selbst, daß es uns noch in der Zeit, der Welt der Entwicklungen hält, bedeutet die biologische Autorisation und natürliche Berufung zum Mitreden in irdischen Angelegenheiten: wir sind mit unserem Urteil zuständig in dieser Zeitlichkeit und daß wir „die Welt nicht mehr verstünden“, hat als Mundverbot so wenig Sinn wie als freiwillige Abdankung.

So sind niemals sehende und sorgende Menschen vor scharfen Urteilen über die junge Mitwelt ihres Alters zurückgeschreckt, nur weil sie eben alt waren. Diese Urteile mochten ja trotzdem richtig sein. Goethes Altersbekenntnis, daß er die Jugend herzlich liebe und sich selbst, da er noch jung gewesen, auch viel lieber gehabt habe als jetzt, steht mitten zwischen Äußerungen, die seine Ungeduld mit dem neuen Geschlecht, seinen Unglauben an dieses nicht verhehlen. „Wenn man sieht“, schreibt er 1812, „wie die Welt überhaupt und besonders die junge, nicht allein ihren Lüsten und Leidenschaften hingegeben ist, sondern wie zugleich das Höhere und Bessere an ihnen durch die ernsten Torheiten der Zeit verschoben und verfratzt wird, so daß ihnen alles, was zur Seligkeit führen sollte, zur Verdammnis wird, unsäglichen äußeren Drang nicht gerechnet, so wundert man sich nicht über Untaten, durch welche der Mensch gegen sich selbst und andere wütet“. – Wir kennen das alles, die Verfratzung des Böseren und Besseren an den jungen Leuten, den unsäglichen äußeren Drang und auch die Untaten. Altersschüchternheit soll uns nicht hindern, die Dinge beim Namen zu nennen.

 Derselbe Sechziger sagt ein andermal: „Das junge Volk hört nicht mehr. Zum Hören gehört freilich auch eine besondere Bildung“. – Bildung! Das Hohngelächter einer ganzen Generation antwortet dem Wort. Es gilt, versteht sich, dem Lieblings-Terminus liberaler Bürgerlichkeit, – also Bildung im Ernste nichts anderes wäre als eben dies: Liberalismus und Bürgerlichkeit. Als ob sie nicht das Gegenteil der Rohheit und menschlichen Armut bedeuten und das Gegenteil der Faulheit dazu, einer elenden Schlaffheit, die eine elende Schlaffheit bleibt, auch wenn sie sich noch so stramm gebärdet, – mit einem Wort: als ob Bildung als Form, als Wille zur Freiheit und Wahrheit, als gewissenhaft geführtes Leben, als unendliche Bemühung nicht die moralische Zucht selber wäre!

 Ich liebe ein Altersgedicht Goethes, das mit den Worten beginnt:

Wo ist einer, der sich quälet
Mit der Last, die wir getragen?“

 Ja, wo ist einer, der sich quälet? Die Kinder der jungen Welt behaupten, es schwerer zu haben, als wir es je gehabt hätten, weil ihr Teil das Abenteuer, die Not, die vollendete Unsicherheit sei, während wir in der wirtschaftlichen Geborgenheit des bürgerlichen Zeitalters hätten heranwachsen dürfen. Aber sie überschätzen die Bedeutung der äußeren Umstände, an deren Wandlung aus satter Behäbigkeit ins schäbig Heroische wir Söhne der Vorzeit uns ja noch auf unsere alten Tage gewöhnen müssen. Das Entscheidende ist, daß sie von „Bildung“ im höheren und tieferen Sinn, von der Arbeit an sich selbst, von individueller Verantwortung und Mühewaltung nichts mehr wissen und sich’s dafür im Kollektiven bequem machen.

 Das Kollektiv ist bequeme Sphäre im Vergleich mit dem Individuellen, bequem bis zur Liderlichkeit, was das kollektivistische Geschlecht sich wünscht, sich gönnt und bewilligt, sind die immerwährenden Ferien vom Ich. Was es will, was es liebt, das ist der Mensch, – und bei diesem Wort, dessen hohe und heilige Inhalte gewiß unentbehrlich sind für die Steigerung und religiöse Erhöhung des Lebens, zeigt sich sogleich, wie sehr die kollektivistische Lebensmode von heute nur ein Beispiel ist für die populäre Verhunzung großer und ehrwürdiger europäischer Institutionen im modernen Massenverschleiß und –Verbrauch. „Eines zu sein mit allem, was lebt!“ ruft Hölderlin im Hyperion. „Mit diesen Worten legt die Tugend den zürnenden Harnisch, der Geist des Menschen den Zepter weg und aus dem Bunde der Wesen schwindet der Tod, und Unzertrennlichkeit, ewige Jugend beseliget, verschönert die Welt.“ – Das dionysische Erlebnis, von dem diese Worte künden, finden wir erniedrigt wieder im kollektivistischen Rausch, in der rein egoistisch-genußhaften, im Grunde nicht Reelles verbürgenden Lust des jungen Menschen am Marschieren im Massentritt unterm singen von Liedern, die eine Mischung von heruntergekommenem Volkslied und Leitartikel sind.

 Diese Jugend liebt das allem persönliche Lebensernst enthobenen Aufgehen im Massenhaften um seiner selbst willen und kümmert sich um Marschziele nicht viel. Aufgefordert, das Glück, das sie dabei findet, etwas näher zu bestimmen, legt sie nicht gerade viel Neigung zu konkreten Einlösungen und Verwirklichungen an den Tag. Der vom Ich und seiner Last befreiende Massenrausch ist Selbstzweck; damit verbundene Ideologien wie „Staat“, „Sozialismus“, „Größe des Vaterlandes“ sind mehr oder weniger unterlegt, sekundär und eigentlich überflüssig: Der Zweck, auf den es ankommt, ist der Rausch, die Befreiung vom Ich, vom Denken, genau genommen vom Sittlichen und Vernünftigen überhaupt; auch von der Angst natürlich, der Lebensangst, die dazu drängt, sich kollektivistisch zusammenzudrücken, es menschenwarm zu haben und recht laut zu singen: – hier ist die Seite der Sache, die weitaus am ehesten unsere Sympathie und unser erbarmendes Verständnis erregen kann.

 Die Glückserfahrung des Dispenses vom Ich, der Enthobenheit aus aller Selbstverantwortung, gehört dem Kriege an, und wenn ich vom modernen, vom gegenwärtigen Menschen spreche, so sind wir einig, darunter den Nachkriegseuropäer zu verstehen, den Typ, der durch den Krieg hindurchgegangen oder in die Welt hineingeboren ist, die er zurückgelassen hat. Wir sind geneigt, den heutigen Weltzustand in wirtschaftlicher wie in geistiger und moralischer Beziehung als das Ergebnis des Krieges aufzufassen – und gehen darin vielleicht zu weit. Die ungeheuren Verwüstungen äußerer und innerer Art, die er angerichtet, stehen außer Zweifel; aber der Schöpfer unserer Welt ist er nicht, sondern hat nur verdeutlicht, verstärkt und auf die Spitze getrieben, was vorher schon da war. Der unglaubwürdige Kulturschwund und moralische Rückschritt gegen das 19. Jahrhundert, den wir wahrheitsgemäß festzustellen haben, ist nicht das Ergebnis des Krieges, wie sehr ihn dieser auch gefördert haben möge, sondern war vorher in vollem Gange. Er ist eine säkulare Erscheinung; bedingt in erster Linie durch das Heraufkommen und die Machtergreifung des Massenmenschen, wie José Ortega y Gasset es in seinem Buch „La rebellion de las masas“ mit großem Glanz geschildert hat.

 Es ist eine tragische Einsicht, daß die Generosität des 19. Jahrhunderts, dieser in ihrer Produktivität gewaltigen Epoche, unter deren wissenschaftlichen und sozialen Wohltaten die europäische Bevölkerung sich verdreifachen konnte, – daß, sage ich, die ungeheure Gutwilligkeit dieses Jahrhunderts schuld ist an aller Ratlosigkeit unserer Gegenwart, daß diese Krise, die uns in Barbarei zurückzuschleudern droht, ihre Wurzeln in seiner kurzsichtigen Großmut hat. Ortega beschreibt vortrefflich den Einbruch der neuen Massen in eine Zivilisation, deren sie sich bedienen als ob sie Natur wäre, ohne ihre höchst komplizierten Voraussetzungen zu kennen und ohne also vor diesen Voraussetzungen den geringsten Respekt zu haben. Ein Beispiel für ihr Verhalten zu den Bedingungen, denen sie ihr Leben verdanken, ist es, daß sie die liberale Demokratie zertrampeln, genauer gesagt, sie benützen, um sie zu zerstören. Es ist leicht möglich, daß sie bei aller kindischen Primitiven-Liebe, die sie der Technik entgegenbringen, auch deren Verfall herbeiführen, weil sie nicht ahnen, daß sie nur das Nützlichkeitsprodukt einer freien und zwecklos um der Erkenntnis willen geübten Forschung ist, und weil sie den Idealismus und Alles, was mit ihm zu tun hat, also Freihit und Wahrheit, verachten.

 Von Primitivismus zu reden, ist sehr angebracht. Man setze ein heutiges Publikum (wenn dieses Wort, das noch allzu sehr den Begriff der Elite suggeriert, im Platze ist in Bezug auf die moderne Masse) vor ein Stück wie Ibsens „Wildente“, und man wird feststellen, daß es im Laufe von fünfunddreißig Jahren überhaupt unverständlich geworden ist. Die Leute halten es für eine Posse und lachen an den falschesten Stellen. Im 19. Jahrhundert gab es eine Gesellschaft, die fähig war, die europäische Ironie und Doppelbodigkeit, die idealistische Bitterkeit und das moralische Raffinement eines solchen Werkes aufzunehmen. Das ist abhandengekommen, – und eben die bewiesene Möglichkeit des „Abhandenkommens“, das Phänomen der fast jähen Niveausenkung, der Reduktion und Primitivisierung nicht nur bis zur Stumpfheit gegen die Nuance, sondern bis zum wilden Haß auf sie, – diese Erscheinung, die das 19. Jahrhundert nicht für möglich gehalten hätte, weil es an Dauer glaubte, wirkt darum so erschreckend, weil sie viel weitergehende Möglichkeiten eröffnet, weil sie zeigt, daß überhaupt und im Großen Errungenes wieder verloren gehen und in Vergangenheit geraten kann, daß die Zivilisation selber vor einem solchen Schicksal keineswegs sicher sei.

 Ich wiederhole, daß der europäische Kulturschwund nicht erst durch den Krieg erzeugt, sondern durch ihn beschleunigt und verschärft worden ist. Nicht der Krieg erst hat die Riesenwelle exzentrischer Barbarei und primitiv-massendemokratischer Jahrmarktsroheit aufgeworfen, die über die Welt geht; nur gehoben hat er sie und ihre brutale Wucht verstärkt. Der moderne Mensch ist Opfer und Produkt wilder, verwirrender und zugleich nervös stimulierender Eindrücke, die ihn bestürmen. Die abenteuerliche Entwicklung der Technik mit ihren Triumphen und Katastrophen, Lärm und Sensation des Sportrekords, Überschätzung und tolle Überzahlung des Massen anziehenden Stars, Boxmeetings mit Millionen Honoraren vor Schaumengen in Riesenzahl: dies und dergleichen bestimmt das Bild der Zeit zusammen mit dem Niedergang, dem Absterben von sittigenden und günstig-strengen Begriffen wie Kultur, Geist, Kunst, Idee.

 Das sind Begriffe aus Bürgerzeiten, idealistisches Gerümpel aus dem 19. Jahrhundert vor allem eine idealistische Epoche, – man sieht es erst heute mit einer Art vor Rührung, wie idealistisch es war. Es glaubte nicht nur an den Segen der liberalen Demokratie, sondern auch an den Sozialismus, – an einen solchen nämlich, der die Massen zu heben, sie zu belehren, Wissenschaft, Bildung, Kunst, die Güter der Kultur an sie heranzubringen wünschte. Heute hat man sich überzeugt, daß es sowohl wichtiger wie auch leichter ist, sie zu beherrschen, indem man immer vollkommener die plumpe Kunst ausbildet, auf ihrer Psychologie zu spielen, das heißt – also indem man Propaganda für Erziehung eintreten läßt, – nicht ohne die innere Zustimmung der Massen, wie es scheint, die sich von einer smarten Propagandatechnik im Grunde moderner und vertrauter angemutet fühlen, als von irgendwelchen Erziehungsideen. Sie sind organisierbar, und es zeigt sich, daß sie dankbar sind für jede Organisation, gleichviel welchen Geistes sie ist, sei es auch der Geist der Gewalt. Die Gewalt ist ein außerordentlich vereinfachendes Prinzip; kein Wunder, daß sie das Verständnis der Massen findet.

II.

22. November 1936

 Wären sie nur primitiv, diese modernen Massen, wären sie nur frisch-fröhliche Barbaren, – es wäre mit ihnen auszukommen, man könnte manches von ihnen hoffen. Aber sie sind außerdem zweierlei, was sie schlechthin fürchterlich macht: sie sind sentimental und sie sind auf katastrophale Weise philosophisch. Der Massengeist, von rummelhafter Modernität, wie er ist, redet dabei den Jargon der Romantik; er spricht von „Volk“, von „Erde und Blut“, von lauter alten und frommen Dingen und schimpft auf den Asphaltgeist, – mit dem er identisch ist. Das Ergebnis ist eine lügnerische, in roher Empfindsamkeit schwimmende Vermantschung von Seele und Massenmumpitz, – eine triumphale Mischung; sie charakterisiert und bestimmt unsere Welt.

 Was das Philosophentum der Massen betrifft, so steht es damit noch schlimmer. Natürlich haben sie es nicht aus sich selbst erzeugt, sondern es ist ihnen von oben her, aus geistiger Region zugesickert. Die Rolle, die schon seit einigen Jahrzehnten der Geist auf Erden spielt, ist ja die sonderbarste. Er hat sich gegen sich selbst gewandt, hat sich zuerst ironisiert und dann sich mit vollem Pathos selber verneint zugunsten des Lebens und der allein lebenspendenden Kräfte des Unbewußten, Dynamischen, Dunkelschöpferischen, der heilig-gebärerischen Unterwelt. Wir alle kennen diese Wendung des Geistes gegen sich selbst, gegen die Vernunft, die er als die Mörderin des Lebens verfluchte und anprangerte: ein kühnes und faszinierendes Schauspiel. – nur etwas verwirrend seiner Natur nach, so daß man vielleicht besser getan hätte, nicht allzu breite Schichten des Publikums dabei zuzulassen. Es versteht sich, daß der Kampf gegen den Idealismus aus Idealismus begonnen wurde. Das neunzehnte Jahrhundert war so bitter wahrheitsliebend, daß es, durch Ibsen, sogar die „Lebenslüge“ als unentbehrlich anerkennen wollte, – und man sieht wohl: es ist ein großer Unterschied, ob man aus schmerzlichen Pessimismus und bitterer Ironie die Lüge bejaht oder aus Mangel an Wahrheitsliebe.

 Dieser Unterschied ist heute nicht jedermann deutlich. Nietzsches hocherregte Polemik gegen Platonismus, Sokratismus, Christentum war die eines Menschen, der mit Pascal mehr Ähnlichkeit hatte, als mit Cesare Borgia oder Machiavell, sie war die asketische Selbstüberwindung eines geborenen Christen. Sehr ähnlich war der Kampf, den Marx gegen den Wahrheits- und Moralbegriff des deutschen Idealismus führte, – er führte ihn aus Idealismus, um einer neuen Wahrheit und Gerechtigkeit willen, nicht eigentlich aus Verachtung des Geistes. Diese war Jahrzehnten vorbehalten, die die idealistische Erhebung gegen den Idealismus romantisierten und ihr dadurch gefährliche Möglichkeiten der Popularität verliehen. Sie sahen nicht oder kümmerten sich nicht um die Gefahren für Humanität und Kultur, die in aller geistigen Antigeistigkeit liegen, den Keim der Reaktion in solcher Revolution, die finsteren Möglichkeiten des Mißbrauchs durch eine Wirklichkeit, für die sie im Handumdrehen zum Freibrief der Un- und Antigeistigkeit pur sang und jeder menschlichen Unanständigkeit, jeder wüsten Verachtung von Wahrheit, Freihit, Gerechtigkeit, Menschenanstand ward. Man muß feststellen, daß es dem Geist an Sinn für Verantwortung fehlte, an der Einsicht, daß das moralische mit dem Intellektuellen zusammenhängt, daß sie zusammen steigen und fallen und die Folge der Vernunftverachtung moralische Verwilderung ist. Zehntausend Dozenten des Irrationalen kümmerten sich nicht darum, ob sie etwa das Volk zum moralischen Sansculottismus und zur Stumpfheit gegen alle Greuel erzogen.

 Die neuen Massen hörten läuten von der epochalen Entthronung des Geistes und der Vernunft, die sich in der oberen Sphäre vollzogen hatte, sie erfuhren davon als vom Neuesten und Modernsten und konnten nicht sehr verblüfft davon sein, da entsprechende Vorgänge unter ihnen selbst praktisch längst im Gange waren. Viele Dinge, die die strengere Humanität des neunzehnten Jahrhunderts nicht zugelassen hätte, waren wieder möglich geworden, hatten sich im Jahrmarktslärm und Budengeläut der Zeit wieder in sie eingeschlichen: allerlei Geheimwissenschaften, Halbwissenschaften und Charlatanerie, obskures Sektenwesen und alberne Hintertreppenreligionen, krasser Humbug, Köhlerglaube und Schäfersalbaderei blühten, sie hatten Massenzulauf, bestimmten den Zeitstil, – und das alles wurde von vielen Gebildeten nicht als niedriger moderner Rummel, nicht als kulturelle Verblendung empfunden, sondern als Wiedergeburt tiefer Lebenskräfte und ehrwürdiger Volksseelenhaftigkeit mystifiziert. Der Boden war berietet auch für den absurdesten und schimpflichsten Massenaberglauben, – aber es war nicht der dumpfe, gedankenlose Aberglaube früherer Zeiten, sondern ein modern-demokratischer, der das Recht zu denken für jeden voraussetzt, ein Aberglaube mit „Weltanschauung“.

 Zweifellos, Not lehrt denken – es fragt sich nur, wie? Was geschieht, wenn verelendete, depossedierte, von Not verstörte und mit Ressentiment geladene Mittelstands- und Untermittelstandsmassen zu denken und Mystik zu treiben beginnen, das haben wir erfahren. Der Kleinbürger hatte in Erfahrung gebracht, daß die Vernunft abgeschafft sei, daß man den Intellekt beschimpfen dürfte, daß diese Popanze, die irgendwie mir Sozialismus, mit Internationalismus, auch mit dem jüdischen Geiste zu tun hatten, wohl gar an seinem Elend schuld waren, und mit höherer Ermächtigung dachte er gegen die Vernunft, lernte das sprachlich schwierige, sonst aber sehr triebbehagliche Wort „Irrationalismus“ aussprechen. Die Popularisierung des Irrationalen, ein Ereignis des zweiten und dritten Jahrzehnts unseres Jahrhunderts, ist wohl das kläglichste und lächerlichste Schauspiel, das die Geschichte zu bieten hat. Ganz auf eigene Hand erfand der denkerisch gewordene Kleinbürger das Wort „Intelligenzbestie“, eine blödsinnige Vokabel, aber autorisiert gewissermaßen aus der oberen Sphäre des anti-geistigen Geistes und effektvoll in ihrer inferioren Schmissigkeit, – eine Totschlageformel, die zunächst allem politischen und sozialen Vernunftwillen, dem Willen zum Frieden, der europäischen Gesinnung galt, darüber hinaus aber und eigentlich jeder geistigen Zucht und Gesittung.

 Wie aber der antigeistige Geist nicht umhin kann, immer noch Geist zu sein, so kommt auch sein subalterner Sprößling, der räsonnierende Massenmensch ohne Geist und Denken nicht aus. Er redet ja, er philosophiert und schreibt, und was er von sich gibt, ist nichts als verhunzter Geist, Groschenintellektualismus. Die Luft ist voll von stümperhaft aufgeregtem Massendenken. Schwaden verdorbener Literatur liegen über dem Lande und machen das Atmen unmöglich. Der gegen die Vernunft philosophierende Massenmensch hat das Recht, zu denken, zu reden und zu schreiben für sich allein usurpiert, er hat allen anderen den Mund verboten und vor Widerspruch sicher, macht er von seinem Prärogativ auf eine Weise Gebrauch, daß einem Hören und Sehen vergeht und man die liberale Demokratie verfluchen möchte, die jedermann Lesen und Schreiben gelehrt hat.

 Man hat das Gefühl, daß der Gedanke selbst und das Wort auf immer entehrt sind durch einen so elenden Mißbrauch. Hemmungslos schleudert eine kläglich überreizte Viertelsbildung ihre Pseudoerkenntnisse und bösartigen Theoreme, ihren mystagogischen Gallimathias und ihre unverschämten Milleniumsentscheidungen hervor, und nur schwach, nur ängstlich wagt eine teils eingeschüchterte, teils schimpflich sympathisierende Wissenschaft eine leise Gegenerinnerung. Nicht lange mehr, und dies Denkertum wird überall die Macht haben, seine „Ideen“ zu verwirklichen, sie dreist und gewaltsam in Geschichte umzusetzen. Die Geschichte wird danach sein.

 Aber hat er nicht etwa christlich Ergreifendes, dieser siegreiche Aufstand der Armen im Geist, dies Zuschandewerden von Wissenschaft, Bildung, Gescheitheit und Kultur vor dem Geschmack und dem Urteil der kleinen Leute, der Fischer, Zöllner und Sünder? Ich glaube, daß Vorsicht geboten ist im Gebrauch dieser Parallele.

 Die christliche Revolution und die des Massenmenschen weisen Charakterunterschiede auf. Unterschiede des Wohlwollens und der Menschenfreundlichkeit, um es aufs einfachste zu sagen, die einer ernsten Warnung von Verwechslungen und falschem Wiedererkennen gleichkommen. Unsere Zeit hat das eigentümlich verdrehte Phänomen zustande gebracht, daß eine Massenversammlung armer Schlucker im Geiste voll krankhaften Entzückens der Abschaffung der Menschenrechte zujubelte, die jemand von der Tribüne herab durch den Lautsprecher verkündete. Aus Schlichtheit kann Wahrheit kommen, aus Schlechtigkeit nicht.

 Vielleicht wird man mir erwidern, die moderne Bewegung sei heroischer Art, während die christliche Weltveränderung und die Französische Revolution altruistisch-humanitären Charakter getragen hätten. Aber so sehr ich das Heroische in seinen großen geistigen Manifestationen liebe und bewundere, – ich kann mich nicht überwinden, an den Heroismus der kleinen Leute zu glauben. Ihre Welt ist nicht heroisch, sie ist kolportagehaft, kriminal-romantisch, sie hat viel vom Pfennigschmöker und vom Sensationsfilm, aber gar nichts Heroisches. Man müßte eine Moritat heroisch nennen dürfen, wenn dieses Wort passend sein sollte für die moderne Massenwelt. Man wird Anstand nehmen, den neuen Verbrecher- und Mordstil in der Politik, diese Kreation eines inferioren Fanatismus, heroisch zu nennen. Um auch nur begreifen zu können, was Heroismus sei, dazu gehört ein höheres moralisches Niveau, als das einer Philosophie, für die Gewalt und Lüge die Grundprinzipien alles Lebens bedeuten. Es ist in der Tat die Philosophie des an Denkwut erkrankten Kleinbürgers. Außer an die Gewalt glaubt er nur an die Lüge und an diese vielleicht noch inbrünstiger als an jene. Unter den europäischen Ideen, die er dank seiner Erhebung für endgültig erledigt hält: Wahrheit, Freiheit, Gerechtigkeit ist die Wahrheit ihm die verhaßteste, unmöglichste. Was er dafür einsetzt, ist der „Mythus“: dieses Wort spielt in seinem Bildungsvokabular eine ebenso hervorstechende Rolle wie das „Heroische“. Sieht man ganz genau hin, was er damit meint, so ergibt sich, daß es die Aufhebung des Unterschiedes von Wahrheit und Humbug ist.

 Das Problem der Wahrheit, nämlich der Wahrheit als absoluter Idee und in ihrer Bedingtheit durch das Leben, der Wahrheit in ihrer Ewigkeit und ihrer Wandelbarkeit, ist ein Problem von ernstestem moralischen Gewicht. Was ist Wahrheit? So fragt nicht nur der skeptische römische Weltmann, so fragt die Philosophie selbst, der kritisch sich selbst bedenkende Geist. Er ist lebenswillig, er räumt ein, daß das Leben die Wahrheit braucht, die ihm hilft, die es fördert. „Nur das Lebensfördernde ist wahr.“ Der Satz möge gelten. Um aber nicht aus aller Moral zu fallen, um nicht in einem Abgrund von Zynismus zu versinken, ist es nötig, ihn durch den anderen zu ergänzen:  „Nur die Wahrheit ist lebensfördernd.“ Ist die „Wahrheit“ nicht ein für allemal gegeben, sondern ist sie wandelbar, so muß desto tiefer, gewissenhafter und empfindlicher die Sorge sein des geistigen Menschen um sie, seine Achtsamkeit auf die Regungen des Weltgeistes, auf Veränderungen im Bilde der Wahrheit, auf das zeitliche Rechte und Notwendige, um nicht zu sagen: das Gottgewollte, dem der geistige Mensch zu dienen hat, unbekümmert um den Haß der Stumpfen, Furchtsamen und Verstockten, der Interessenten an der Erhaltung des falsch und schlecht gewordenen.

 So also, in kurzen Worten, stellt das Problem der Wahrheit sich dem leidlich gutartigen, leidlich gottesfürchtigen Menschensinn dar. Dagegen die Lüge als einzig lebenszeugend, einzig geschichtswirksame Macht zu inthronisieren; sich eine Philosophie zwischen Wahrheit und Lüge überhaupt nicht mehr anerkennt; einen Schandpragmatismus in Europa aufzurichten, der den Geist selbst zugunsten des Nutzens leugnet, der ohne Skrupel Verbrechen begeht oder gutheißt, wenn sie seinen Ersatz-Absolutheiten dienen, und vor dem Begriff der Fälschung nicht im mindesten zurückschreckt, sondern der Fälschung ebenso viel gilt wie Wahrheit, wenn sie in seinem Sinne nützt, – das war dem Menschentyp vorbehalten, von dem ich spreche. Ich will nicht so weit gehen, ihn dem „modernen Menschen“ selbst gleichzusetzen. Aber er ist ein verbreiterter Typus, ein Massentypus, und wenn ich ihn zeitbestimmend nenne, so spreche ich zum mindesten seine eigene Überzeugung aus, – diese Überzeugung, die ihm den schmetternden Elan verleiht, mit dem er sich anschickt, eine durch moralische Hemmungen gegen ihn benachteiligte Welt zu überrennen und sich zu ihrem Herrn und Meister zu machen.

 Was das Ergebnis wäre, ist vollkommen klar und gewiß. Es wäre der Krieg, die umfassende Katastrophe, der Untergang der Zivilisation. Es ist meine feste Überzeugung, daß nur dies und nichts anderes die Folge der aktiven Philosophie dieses Menschentyps sein kann, und darum schien es mir Pflicht, auf ihn und auf die furchtbare Bedrohung, die von ihm ausgeht, die Rede zu bringen. Die Schwäche der älteren, gebildeten Welt angesichts dieses Hunnentums zu beobachten, ihr beirrtes, verwirrtes Zurückweichen vor ihm mit anzusehen, ist wahrhaft beängstigend. Eingeschüchtert vor den Kopf geschlagen, nicht wissend, wie ihr geschieht, mit betretenem Lächeln räumt sie Position für Position und scheint eingestehen zu wollen, daß sie „die Welt nicht mehr versteht“. Sie kondeszendiert zu dem geistigen und moralischen Stande des Todfeindes, übernimmt seine stupide Redeweise, bequemt sich seinen elenden Denkkategorien, dem tückischen Stumpfsinn seiner Idiosynkrasien und propagandistischen Alternativen – und merkt es nicht einmal. Sie ist vielleicht schon verloren. Entreißt sie sich nicht der Hypnose, besinnt sie sich nicht auf sich selbst, so ist sie es gewiß.

 In allem Humanismus liegt ein Element der Schwäche, das mit seiner Verachtung des Fanatismus, seiner Duldsamkeit und seiner Liebe zum Zweifel, kurz: mit seiner natürlichen Güte zusammenhängt und ihm unter Umständen zum Verhängnis werden kann. Was heute nottäte, wäre ein militanter Humanismus, ein Humanismus, der seine Männlichkeit entdeckte und sich mit der Einsicht erfüllte, daß das Prinzip der Freiheit, der Duldsamkeit und des Zweifels sich nicht von einem Fanatismus, der ohne Scham und Zweifel ist, ausbeuten und überrennen lassen darf. Ist der europäische Humanismus einer streitbaren Wiedergeburt seiner Ideen unfähig geworden; vermag er nicht mehr, sich die eigene Seele in kämpferischer Lebensfrische bewußt zu machen, so wird er zugrunde gehen, und ein Europa wird sein, das seinen Namen nur noch ganz historischerweise weiterführen wird, und vor dem es besser wäre, sich ins Unbeteiligt-Zeitlose zu bergen.

Der Text basiert auf einem Vortrag im Ungarischen Theater in Budapest. Er entstand unter Mithilfe von Gattin Katia Mann und wurde explizit für den Pester Lloyd autorisiert. Ein wütender Protest der Deutschen Gesandtschaft konnte die Veröffentlichung nicht verhindern, brachte aber die Redakteure auf die schwarze Liste des Reichspropagandaministeriums.

 

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