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(c) Pester Lloyd / 33 - 2009 feuilleton
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Europäer unter Weißen...

Thomas Mann und der Pester Lloyd

Von Prof. Antal Mádl

In Ungarn ist Thomas Mann ohne Zweifel einer der bekanntesten deutschsprachigen Autoren. Eine zwölfbändige Ausgabe seiner Werke liegt in ungarischer Übersetzung seit Jahrzehnten vor. Einzelne Romane und Novellen werden immer wieder neu aufgelegt. Eine Auswahl seiner Tagebücher in zwei Bänden ist ebenfalls in ungarischer Sprache erschienen. Sein Briefwechsel mit Karl Kerényi wies früh auf das gemeinsame Interesse des deutschen Schriftstellers und des ungarischen Wissenschaftlers hin. Essays zu Tagesereignissen sind in ungarischen Übersetzungen oder Berichte über sie unmittelbar nach ihrem deutschen Erscheinen auch den ungarischen Lesern zugegangen. Intellektuelle und begeisterte Budapester Leser seiner Werke konnten ihm zwischen 1913 und 1937 in Budapest sechsmal auch persönlich begegnen und sich seine Lesungen anhören.

Fotos: Mádl / Pester Lloyd, Alle Rechte vorbehalten

Seine Kontakte zu Béla Balázs, der Familie Lukács, sein Zusammentreffen mit Béla Bartók, Ernő Dohnányi und Zoltán Kodály, die Eindrücke, die er von den Dichtern Mihály Babits, Dezső Kosztolányi, Zsigmond Móricz und anderen auf sich wirken ließ, beweisen, dass auch er durch seine vielseitigen Beziehungen mit ungarischen Persönlichkeiten bleibende Inspirationen erhalten hat. Für heutige Kenner seines Lebenswerkes und seiner Art des schriftstellerischen Verfahrens ist es kein Geheimnis mehr, dass er des öfteren unmittelbare Erlebnisse und geistige Anregungen von ungarischen Persönlichkeiten in sein Werk einfließen ließ. Der aus Ungarn stammende Arthur Holitscher erkannte sich in der Tristan-Novelle. Auch für Georg Lukács war es kein Geheimnis, dass sein Äußeres und seine Art zu diskutieren, im Zauberberg, in der Figur Naphta verewigt wurde. In Doktor Faustus „reiste“ Leverkühn statt seines Autors nach Ungarn, „traf sich“ mit Thomas Manns treuesten Freund und Gönner, Lajos Hatvany-Deutsch und dessen Schwester, der „unsichtbaren Wohltäterin“ im Roman. Der engen Verbundenheit mit dem Ehepaar Hatvany verdankte nämlich der deutsche Schriftsteller, dass er einen möglichst genauen  Einblick in das ungarische Geistesleben und in die sozialen Spannungen des Landes bekommen hat.

Bei der Gestaltung dieser freundschaftlichen Beziehungen zu gleichgesinnten ungarischen Persönlichkeiten spielten Budapester Zeitschriften und Tagesblätter eine wichtige Rolle. Besonders der Pester Lloyd mit einer Morgen- und einer Abendausgabe (in der Folge: PLM bzw. PLA) überwachte und verbreitete sorgfältig den Ruhm des Dichters. Als ständiger, treuer Begleiter und Berichterstatter über das Werk und die vielseitigen Beziehungen Thomas Manns zu Ungarn leistete er dem Dichter wertvolle Dienste.

Der PL war auch für ihn ein gern gewähltes Forum. Die rührige Redaktion griff jede Gelegenheit auf, um Thomas Mann-Texte zu veröffentlichen. So erscheint am 20. 8. 1922, am ungarischen Nationalfeiertag, am gleichen Tag, als in der Vossischen Zeitung und um einen Tag früher als in der Neuer Zürcher Zeitung der Aufsatz „Nationale und internationale Kunst. Brief an den Redakteur“ (PLM, 1-3). Einen Teilabdruck des Essays „Zum sechzigsten Geburtstag Ricarda Huchs“ bringt ebenfalls der PLM (17. 7. 1924, 1-2); einen Tag früher als die deutschen Blätter.  Diesen Eifer wusste T. M. zu schätzen, als er in seinen Grußworten an den PL die Leistungen des Blattes würdigte und es als „etwas wie eine Gesandtschaft deutscher Sprache und deutschen Geistes in Ungarn darstellt“. (PL, 27. 5. 1928). Dieser „Gesandtschaft“ hat er noch im selben Jahr seine Äußerung „Über den Erfolg des Künstlers. Beitrag zur Autobiographie“ anvertraut (PL, 7. 10. 1928). Zur Eröffnung der Nürnberger Dürer-Ausstellung schickte er einen Text mit dem Titel „Dürer. Zur Nürnberger Kunstausstellung in Budapest“ (PL, 17. 10. 1929). 1930 veröffentlichte der PL, wieder zum ungarischen Nationalfeiertag, einen Brief von Thomas Mann, in dem er sich an seine Aufenthalte in Ungarn Anfang der 20er Jahre erinnert (PLM, 20. 8. 1930). 

In der Schweizer Emigration war Thomas Mann bestrebt, den Hitler-Staat vor aller Welt bloß zu stellen, wozu ihm der PL ein willkommener Partner wurde. Am 23. 4. 1933 veröffentlichte die Zeitung Äußerungen „Thomas Mann über den Protest gegen seine Wagner-Gedenkrede“. Am 24. 11. 1934 brachte sie sein „Bekenntnis zu Europa“ (PLM, S.5). Beide Texte zeigen die ansteigende Opposition gegen das Hitler-Regime.

Seine Abendlesungen (in Budapest 1913, 1922 und 1923) wurden nach 1933 noch intensiver fortgesetzt und nachher veröffentlicht. Aber auch Teile aus im Entstehen begriffenen Werken überließ er dem PL. Bereits aus der Schweiz sandte er ein Teilkapitel aus „Jaakob freit um Rahel“ und „Benoni“ nach Budapest. Sein erster Besuch aus der Emigration 1935 bewegte ihn dann dazu, in Budapest denselben Wagner-Vortrag zu halten wie zwei Jahre zuvor in München.

Der demonstrative Bruch mit Hitler-Deutschland durch den mit dem 1. 1. 1937 verfassten, sog. Bonner Brief, reifte bereits seit längerer Zeit heran. Seine Lesungen, die in dieser Ausgabe wiedergegebene Ansprache auf der Budapester Sitzung des Comité International pour la Coopération Intellectuelle (9. 6. 1936), in der er sich, beeindruckt von den Erwartungen „seiner Budapester Gemeinde“ für die Notwendigkeit eines „militanten Humanismus“ einsetzte, lösten bei seinen Zuhörern großen Beifall aus. Sie boten aber auch dem deutschen Botschafter in Budapest Anlass zum Protest bei den ungarischen Behörden und beschleunigten die Ausbürgerung des Dichters. Der zum Teil improvisierte Vortragstext, von Katja Mann mit stenographiert, erschien nämlich zwei Tage darauf im PL. Von seinen ungarischen Verehrern gefeiert, von Vertretern des offiziellen Ungarn jedoch kühl empfangen, wird es Thomas Mann, als er Anfang 1937 von dem Kreis um die Zeitschrift „Szép Szó“ (Schönes Wort) eingeladen wurde, bald bewusst, dass dieser Besuch der letzte sein könnte. Das Einschreiten der Polizei verhinderte Attila Józsefs Auftritt, als er mit dem Gedicht „Thomas Mann zum Gruße“ den deutschen Dichter begrüßen wollte.

Was der in sich eher verschlossene Autor in seinen Lesungen nicht preisgab, versuchten geschickte Journalisten im Gespräch mit ihm zu erfahren. Der PL brachte anlässlich der Ungarnbesuche mehrmals Interviews mit ihm. Thomas Mann wurde immer wieder nach seinen Eindrücken in Ungarn befragt (5. 4. 1923, 28. 1. 1935, 13. 1. 1937). Auch über seine Werke wollte man die eigenen Auslegungen hören. Die private Sphäre wurde in den Interviews mehrmals angesprochen; die Reporter erkundigten sich nach seiner Familie, seiner Lebensführung zu Hause. Nach 1933 veränderte sich der Inhalt dieser Gespräche; es ging vor allem um „sein Deutschtum“, um sein Verhältnis zur Heimat, um sein Leben in der Schweizer Emigration. Nicht selten waren es „provozierende“ Fragen linksorientierter Journalisten, die mit ihrem Herangehen den Dichter auf seinem Weg zum konsequenten Antifaschisten weiter vorantrieben. In solchen Situationen verriet er gelegentlich mehr, als er eigentlich von sich aus frei preisgegeben hätte.

Am besten kann man die Rezeption der Werke von Thomas Mann beim ungarischen Lesepublikum, die Wirkung, die er ausgelöst hat, und auch genauso seine vielseitigen Beziehungen zu Ungarn von dem beginnenden zweiten Jahrzehnt des 20. Jahrhunderts an bis zu seinem sechsten und letzten Besuch in Ungarn im PL verfolgen. Die wertvollsten Arbeiten über Thomas Mann im PL stammen, abgesehen von G. Lukács’ Essay über die Königliche Hoheit, von den engsten Mitarbeitern des Blattes. Der bejahrte Hauptmitarbeiter und Redakteur für den belletristischen Teil, Julian Weisz, in Thomas Manns Tagebüchern als „alter Hofrat Weiss“ bezeichnet, liefert in seinem „ästhetischen Feuilleton über den Zauberberg einen entschiedenen Beweis seiner Lebendigkeit“. In einem anderen Artikel (1922) versuchte er das damals sehr angespannte Verhältnis der Mann-Brüder zu entschärfen, indem er auf den bekannten Goethe-Spruch an seine Zeitgenossen hinwies: „Ihr solltet froh sein, dass Deutschland zwei solche Kerle besitzt“ – wie nämlich ihn und Schiller. Mit der Absicht, Thomas Manns Besuch in Budapest vorzubereiten, hebt er dessen „feinfühlige Pflege der Sprache“ hervor: „Seine Vorlesung wird sicherlich alle Zuhörer anregen und entzücken, denn einen bewunderten Dichter von Angesicht zu Angesicht kennen zu lernen, seinen Worten zu lauschen, seine Gebärden zu beobachten, bietet einen ganz köstlichen Reiz, insbesondere, wenn der Autor ein interessanter Mensch und guter Sprecher ist, wie Thomas Mann.“ (PLM, 11. 11. 1922)

Nicht ganz zehn Jahre früher fiel in der Redaktion des PLs die Aufgabe dem sehr begabten, linksorientierten Ernst Lorsy zu, über Thomas Manns ersten Ungarn-Besuch zu berichten. Thomas Mann las bei dieser Gelegenheit aus dem Krull-Fragment die Beschreibung eines Theaterbesuchs seines Helden und die Novelle Der Kleiderschrank. Beide wirkten – sicher mit Absicht des Autors so ausgewählt – als etwas leichtere Kost. Lorsy als ausgezeichneter Kenner der bis dahin entstandenen Werke des Dichters beschränkte sich deshalb auf die Vortragsweise: „Thomas Mann balanciert Sätze, verweilt bei Worten, wechselt das Tempo, und seine schlichte sinngemäße Art bewirkte ein restloses Verständnis.“ (PL, 7. 12. 1913). Lorsys ausgezeichnete essayistische Begabung zeigt sich in seinem, um einen Tag früher erschienenen, Thomas Mann-Porträt. Er verteidigt darin den Autor der frühen Novellen und der ersten zwei Romane gegen Anschuldigungen des Pessimismus. Die Buddenbrooks stellt er Goethes Wahlverwandtschaften und Kellers Grünen Heinrich an die Seite. Lorsy macht auch auf die „nie versiegende ironische Unterströmung“ aufmerksam, nimmt Thomas Manns Ironie in Schutz, die „weder Mitleid noch Wärme“ ausschließt und “vielleicht nur der Ausdruck einer schmerzenden Klarsicht“ ist. Die frühen Novellen gelten für Lorsy „als Vorarbeiten und Nebenarbeiten, [...] in denen Motive aus Buddenbrooks angeschlagen und weitergesponnen werden, Königliche Hoheit, wo das Problem der Buddenbrooks transponiert und sublimiert wird [...] und endlich Der Tod in Venedig, in dem Manns Künstlertum sich selbst zum Problem wird.“ Lorsy gelingt es in diesen Schlussworten eine Zusammenfassung der ersten Schaffensepoche des deutschen Autors zu geben, die bis heute nicht übertroffen wurde. Für ihn hat „Thomas Mann die ganze Kultur Deutschlands zur Voraussetzung, aber Goethe und Bismarck nicht mehr als Dickens und Flaubert. Eine Blüte der deutschen Kultur ist er und ein Beweis für ihre Gesundheit, ein Schriftsteller für Mündige [...] und ein Bringer erlesener Genüsse.“ (PL, 6. 12. 1913.) Lorsys Ausführungen gehören zu den Spitzenleistungen des Blattes, haben ihre Gültigkeit bis heute nicht verloren und erheben die literarische Spalte des PLs in die Höhe bedeutender literaturwissenschaftlicher Fachzeitschriften der Zeit.

Thomas Manns erste Übersetzerin, Edith Térey meldet sich auch von 1919 an mit mehreren Artikeln im PL. Über seine Lesungen berichtet der PL regelmäßig. Über die Okkulten Erlebnisse, die Gegenstand seiner Budapester Lesung bei seinem Besuch 1923 waren, und im Druck erst im darauf folgenden Jahr erschienen, bringt der PL zweimal interessante Ausführungen (31. 3. und 5. 4. 1923). Dem zweiten Bericht im Morgenblatt folgen am selben Tag noch weitere drei in ungarischen Organen. Der Freud-Vortrag von 1929 wird als „ein geistesgeschichtliches Manifest von T. M.“ bezeichnet (PL 12. 5. 1929). Was Thomas Mann zu Wagner 1933 in München gesagt hat, wird ebenso registriert, wie sein Vortrag zu Freud und die Zukunft (PL 13. 6. 1936), dem weitere fünf Berichte in anderen Blättern folgen.

Der Mitteilung des Vortrags Der Humanismus und Europa (am zweiten Arbeitstag des Völkerbund-Comités gehalten) schließen sich in verschiedenen ungarischsprachigen Blättern noch siebzehn weitere Publikationen an. Wie groß die Begeisterung für Thomas Mann im Kreis des PLs war, beweist u.a. sein Besuch 1935, der erster aus der Emigration. Das Blatt berichtet am 26. 1. über Thomas Manns Ankunft in Wien, nächsten Tag in der Morgenausgabe über seine Fahrt mit Hatvanys nach Budapest, die ihn von Wien mit dem Wagen abgeholt haben, und anschließend folgt noch in derselben Nummer ein Gruß an den Gast. Am 28. 1. 1935 können wir im Abendblatt über „Thomas Mann am Vortragstisch“ lesen. Zu seinem sechzigsten Geburtstag im selben Jahr finden wir eine längere Ausführung über T. Manns Meinung zur Rassentheorie.

Mit den drei einander folgenden Ungarnbesuchen Thomas Manns aus seiner Schweizer Emigration, bei denen Lajos Hatvany der Gastgeber war und die gesamte Inszenierung der Programme gemeinsam mit dem PL gestaltet wurde, war für den deutschen Dichter und auch für seine ungarischen Freunde der Höhepunkt dieser persönlichen Begegnungen erreicht. Der Eingriff der Polizei gegen Attila József kam als ernste Mahnung. Thomas Manns „ungarische Gemeinde“, die bislang mit ihrer Begeisterung auf den deutschen Dichter ermutigend einwirkte, wurde unter dem Druck der Ereignisse unsicher. Die Veröffentlichung von Achtung, Europa – im PL noch möglich (15. u. 22. November 1936) – konnte in ungarischer Sprache nur mehr durch einen Teilabdruck von außerhalb der Grenzen den Weg zu interessierten ungarischen Lesern finden. Ihre Wirkung zusammen mit dem festentschlossenen Ton des Bonner Briefes (der nicht einmal im PL mehr erscheinen durfte, allein Hatvanys Pesti Napló wagte es noch, Teile daraus zu veröffentlichen) zeigte ihnen einen Dichter, der mehrwissend ist als sie, den man vielleicht um einen Rat bitten könnte. Den ungarischen Dichter Mihály Babits beeindruckte die „Haltung des Verfassers. Der Ton, in dem er spricht, ist ergreifend und überwältigend“. Er fragt sich: „Was lässt diesen Vertreter der reinen Kunst zum Kämpfer werden, der stets nur beobachtete und nicht handelnd eingriff“? In der Mehrzahl stellte er im Namen der eingeschüchterten Menschen des Geistes fest: „Zitternd und mit angehaltenem Atem verfolgen wir den Zweikampf hinter unseren provisorischen und unsicheren Schanzen.“ Diese Unsicherheit wurde bereits – etwas Böses ahnend – in dem Gedicht von Attila József früher niedergeschrieben, er durfte es nur nicht aussprechen. Für ihn war Thomas Mann „ein Europäer unter Weißen“, von dem er wissen wollte: „was wird geschehen, von wo bedrohen uns neue Wolfsideen?.“

Der ungarische Dichter nahm sich noch im selben Jahr das Leben, den Gastgeber Lajos Hatvany schützte weder sein Barontitel noch sein Reichtum. Er ging im selben Jahr noch in die Emigration. Ihm werden etwas später Kerényi und am Schluss auch Bartók und manche andere folgen. Das offizielle Ungarn passte sich immer mehr den Wünschen und dem Druck Hitler-Deutschlands an. Das freie Dichterwort wahr von nun an für lange Zeit nicht erwünscht. Auch der PL geriet von den ausgehenden dreißiger Jahren ansteigend in Schwierigkeiten. Thomas Mann verließ nächstes Jahr Europa und damit lockerte sich auch sein Kontakt zum PL.

Der Autor ist Professor für Germanistik und Lehrstuhlinhaber an der Ungarischen Akademie der Wissenschaften. Der Text entstand anläßlich des 150. Geburtstages des Pester Lloyd, 2004

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