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(c) Pester Lloyd / 45 - 2009  GESELLSCHAFT 02.11.2009
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Ein Sträusschen Chrysanthemen

Die Händlerinnen von den Haltestellen: Altersarmut und Lebenswille in Ungarn

Die Renten in Ungarn genügen - im Durchschnitt - zum Überleben. Aber wie sieht es unter diesem Durchschnitt aus? An den Budapester Metro- und Vorortbahnstationen sieht man viele Frauen. Sie versuchen mit dem Verkauf von Blumen oder Handschuhen ihre Rente ein wenig aufzubessern, manchmal müssen sie davon ihre ganze Familie ernähren. Wir begleiteten zwei ältere Damen durch ihren Arbeitstag und erkundigten uns bei einer Soziologin nach der Lage der Rentner in Ungarn.

18.40 Uhr, Haltestelle Oktogon.

Menschen hechten in die Metro, Schulklassen versammeln sich vor dem Burger King und ein paar Budapester Mädchen lehnen am Geländer und machen den ersten Sekt des frühen Abends auf. Hier beginnt die Andrassy út, eine mehrspurige Strasse, die sich großspurig die Champs Elysées des Ostens nennen lässt. Ein paar hundert Meter weiter eilen Damen in Abendkleidern vorbei – zwanzig Minuten noch, dann fängt die Oper an. Für Joanna Raffael ist das gut. Je mehr Laufkundschaft, desto höher die Chance, Handschuhe zu loszuwerden. Vor dem Burger King am U-Bahnausgang verkauft sie die Ware, drei Paar aus Lederimitat hält sie in ihrer rechten Hand. Der Preis? Verhandlungssache. Frau Raffael ist Frührentnerin, mit dem Straßenverkauf versucht sie, ihr Einkommen aufzubessern.  27.500 Forint im Monat bekommt sie vom ungarischen Staat, ungefähr 103 Euro.

„Das ist der Minimalsatz in Ungarn“, erklärt Judit Kozma vom Institut für Sozialpolitik und Arbeit in Budapest. (Der gesetzliche Mindestlohn ist dreimal so hoch). Dieser stehe jedem zu, unabhängig davon, wie lange er gearbeitet habe. Aber der durchschnittliche Rentner in Ungarn stehe im Vergleich mit anderen EU-Ländern nicht viel schlechter dar. Laut der promovierten Soziologin Kozma wird die Altersarmut durch andere Ursachen angefacht: In Ungarn, wo im Jahre 2009 die Erwerbstätigkeit laut dem ungarischen Statistikamt nur bei 55,7 Prozent liegt, gekoppelt mit einer Arbeitslosenrate von 10 Prozent, ist Armut und Arbeitslosigkeit Tagesthema. „Heutzutage ist es üblich, dass arbeitslose Erwachsene wieder zurück zu ihren Eltern kommen“, erklärt Judit Kozma. So müsse die Rente auf einmal für eine ganze Familie reichen und nicht nur für eine Person.

An den Budapester Metrohaltestellen lasten diese Probleme auf den Schultern älterer Damen wie Joanna Raffael: Ihre Tochter ist seit einer Wirbelsäulenoperation invalide, ihr Mann arbeitslos, die andere Tochter findet auch keine Stelle. Das Geschäft mit den Handschuhen sei nicht sehr lukrativ, sagt Frau Raffael und rückt die rosa gesprenkelte Lesebrille auf dem Haar zurecht. „Es reicht, um Essen für die Familie zu kaufen.“

2005 betrug der durchschnittliche Rentensatz in Ungarn laut dem ungarischen Statistikamt 72.161 Forint, ungefähr 267,26 Euro. Auf dem Land sei diese Summe laut Kozma angemessen. Vor allem, wenn die Rentner mit der Familie zusammenleben und sich von dem Ertrag aus dem Agraranbau ernähren könnten. In einer Stadt wie Budapest könne man hingegen nur schwer davon leben, von der Mindestrente noch weniger.

Joanna Raffael hat nach eigenen Angaben 18 Jahre bei einem sowjetischen Telefondienst gearbeitet. Jetzt ist sie Händlerin. Handschuhe, Pullover, Tischdecken – alle Textilien, die sie verkauft, sind vom Schwarzmarkt. Sie muss immer auf die Polizei achten, Straßenverkauf ohne Lizenz ist in Ungarn verboten. Die Strafe liegt ungefähr bei 20.000 Forint, ungefähr 74 Euro – eine Summe, die sie nicht aufbringen kann. Frau Raffael knibbelt an ihrem Nagellack, ihre langen Fingernägel sind mit rosa Glitzer bemalt, die Farbe löst sich langsam von den Ecken.

22.10 Uhr, Haltestelle Moszkva Tér.

Margó Takács steht seit zwei Stunden am Metro-Eingang und verkauft Blumen. „Immer erst ab acht, vorher sind hier zu viele Polizisten.“ Die Blumen pflückt sie in Wäldern und Feldern in der Budapester Umgebung. Ihr Deutsch ist gut. „Drei Jahre habe ich in der DDR in einer Lampenfabrik gearbeitet – aber mein Deutsch wäre noch besser, hätte ich nicht die ganze Zeit mit meiner Freundin auf Ungarisch geschnattert.“ Die 63-Jährige lacht und schlägt die Hände zusammen.

Ihre zwei Söhne hat sie alleine großgezogen, sie hat nebenbei schwarz in der Landwirtschaft gearbeitet und war lange Zeit, für das ehemals sozialistische Ungarn eher unüblich, Hausfrau. Wie Joanna Raffael kriegt sie die  Minimalrente, 27.500 Forint. Aber das Rentensystem scheint Margó Takács nicht so recht zu durchschauen: In Ungarn gibt es seit 1998 drei unterschiedliche Rentenformeln: Das gemischt finanzierte Rentenversicherungssystem mit der traditionellen Sozialversicherungsrente und einer obligatorische Privatrente wird durch die Rentenleistungen der freiwilligen Rentenversicherungskassen ergänzt. Diese ähneln der Riesterrente in Deutschland. Margó Takács weiß, dass sie irgendwann kurz in die soziale Rentenversicherung eingezahlt hat. Aber in die freiwilligen Rentenkassen? „Von welchem Geld?“, fragt Margó Takács. „Ich lebe vom einen Tag zum nächsten. Manchmal verdiene ich täglich 7.000 Forint, manchmal weniger.“

Für die Soziologin Judit Kozma sind die Frauen der Haltestellen „das weibliche Gesicht der Armut.“ Seit den achtziger Jahren prägen diese das Bild von Budapest. „Betteln ist in Ungarn sehr negativ angesehen“, so Kozma. „Den Verkauf von Nippes nehmen viele Bürger besser an als bettelnde Menschen“. So habe sich in den Metro-Gängen der meist illegale Einzelhandel der Armen etabliert.

Margó Takács hat ihre eigene Theorie, warum so viele Frauen an den Haltestellen verkaufen: „Männer sitzen nur zu Hause und zählen ihr Geld. Aber arbeiten wie wir Frauen…pfff.“ Beim Lachen rutscht ihre Kapuze, mit dichtem Plastikfell umrandet, nach hinten. Die hervorblitzenden weißen Haare lassen sie noch ein wenig älter aussehen. Das Arbeiten mache ihr zwar noch nicht soviel aus, aber sie habe „schon jetzt häufig Schmerzen, hier“, sie fasst sich ins Kreuz und an die Beine. „Dann ich bete viermal zu Gott und danke ihm, dass ich so gut laufen kann, obwohl ich kaum den einen Fuß vor den anderen setzen kann – und ich kann wieder laufen“. Dann lacht sie wieder, ungläubig darüber, dass es so leicht ist, mit Gott zu verhandeln.

Es gibt ungarische Strategien, so genannte nationale Aktionspläne und EU-Abkommen, um die Arbeitslosigkeit, Altersarmut und soziale Verwahrlosung in Ungarn zu bekämpfen. Allesamt Wege, die Perspektiven aufzeigen. Auch die Rente soll laut der Generalverwaltung der ungarischen Rentenversicherung bis 2010 erhöht werden und den anderen EU-Ländern angepasst werden.

Frauen wie Margó Takács und Joanna Raffael sind aber bereits durch bestehende soziale Netze gefallen: Sie setzen sich nicht mehr mit den Möglichkeiten der Arbeitssuche auseinander, sondern fügen sich ihrem vermeintlichen Schicksal. Waren an den Haltestellen zu verkaufen sehen sie als ihre Pflicht an. Eine schwierige Arbeit, die zum Teil geächtet wird, zum Teil sehr hart ist - die aber Geld bringt.

Die Lage von Frau Raffael und Frau Takács wird immer prekärer, je älter sie werden. Die staatlichen Heime sind laut Angelika Varga, Leiterin eines Altersheimes in Gadany nahe Budapest, überfüllt, die privaten zu teuer. In ungefähr fünfzehn Jahren werden also die Kinder der beiden Frauen für sie sorgen müssen - aber die sind arbeitslos.

20.12 Uhr, Haltestelle Oktogon.

Dass sie eine „normale“ legale Tätigkeit in ihrem Alter angeboten bekäme, das schließt Joanna Raffael aus: „Klappt sowieso nicht.“ Wünschen würde sie sich eine Straßenverkaufslizenz. Sie lächelt: „Und einen Verkaufstisch, so dass ich meine Waren richtig präsentieren kann.“ Joanna Raffael verschwindet in der Metro.

22.53 Uhr, Haltestelle Moskzva Tér.

Einen Blumenstrauß muss Margó Takács noch verkaufen, mit Paketschnur hat sie die leicht welken Chrysanthemen zusammengebunden. Morgen ist ein neuer Arbeitstag für sie. Sie hofft, viele Sträuße loszuwerden. „Hoffnung, wie sagt man das im Deutschen? – stirbt zuletzt“, sagt Margó Takács und steigt in den Bus.

Fiona Weber-Steinhaus
Mitarbeit und Übersetzung: Anna Ilin

 

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