Hauptmenü

 

 

| More

 

(c) Pester Lloyd / 44 - 2009  FEUILLETON 06.11.2009
_______________________________________________________
 

Zwischen Sabbat und Szoda-Bar

Jung und Jüdisch in Budapest

Wie leben junge Juden in Budapest? Wie werden sie erzogen, welchen Stellenwert hat die Religion und wie passt Judentum in den Alltag? Zwei junge Juden berichten. Daniel studiert Marketing, Anna Sára Sozilogie, beide sind 22. Der eine sieht sich als "jüdischer Ungar", die andere als "Jüdin ohne jüdisch zu sein". Sie berichten von jüdischen Festen, Feindschaft, Resignation und Lebensfreude.

Daniel, 22, Marketing- und Kommunikationswissenschaft-Student

“Ich bin stolz, wenn Ungarn beim Fußball gewinnt oder positiv in den Medien erwähnt wird. Aber trotzdem bin ich kein Ungar, sondern jüdischer Ungar – das ist nicht das Gleiche. Anfang der Neunziger, nach der Sowjetzeit, war es „cool“, jüdisch zu sein. Inzwischen ist das nicht mehr so. Die meisten Jugendlichen haben kein Interesse an dem Glauben. Es gibt ungefähr 10 000 Budapester Juden, die mehr oder weniger aktiv in der jüdischen Gemeinde sind – aber wo sind die anderen 60 000 in der Hauptstadt?

Vor ein paar Jahren habe ich mit Freunden entschieden, dass wir etwas machen wollen, um Jugendlichen das jüdische Leben näher zu bringen. Jetzt bin ich ungarischer Vorsitzender der Jugendbewegung „Hanoar Hatzioni“. Ich umgebe mich bewusst mit jüdischem Leben. Freunde aus der Uni können das nicht richtig nachvollziehen. Die denken, dass Gemeinde und Judentum nur gemeinsames Beten beinhaltet.

Für mich ist die Tradition, das Familiäre und nicht die jüdische Religion das Entscheidende. Jeden Freitag isst meine Familie bei meiner Großmutter. Sie lebt noch richtig jüdisch, isst koscher und ehrt den Sabbat – sie ist das Familienoberhaupt und diejenige, die den Glauben weitergegeben hat. Danach gehe ich oft mit meinen Freunden in jüdischen Bars wie Szoda feiern – den Sabbat halte ich also nicht ein. An Feiertagen wie Channuka, dem Weihefest oder Jom Kippur, dem Versöhnungstag, gehe ich gerne in die Synagoge. Manchmal sogar zweimal an einem Tag. Einmal morgens, um meiner Großmutter einen Gefallen zu tun und dann abends noch einmal. Aber jede Woche? Ich habe meine eigene Version des Judentums gefunden.

2006 hat sich nach dem Politikskandal in Ungarn etwas verändert. Die Rechtsnationalen suchen sich die so genannten Fremden als Schuldige für Arbeitslosigkeit und gesellschaftliche Probleme: Zigeuner und Juden. Wir, ein paar aus der jüdischen Gemeinde, wollten auch unsere Stimme erheben – auf eine friedliche Weise. Wir haben ein öffentliches Chanukka-Fest, ein Fest der Lichter, organisiert. Ort sollte der Heldenplatz sein. Wir bekamen Drohungen von der rechtsextremistischen und inzwischen verbotenen Gruppierung der Ungarischen Garde, und Hinweise, dass der Heldenplatz ein christlicher, ungarischer Platz sei. Kleinbeigeben konnten wir nicht, aber provozieren wollten wir auch nicht. Also haben wir unser Lichterfest mit 500 anderen Menschen quasi auf dem Bürgersteig vor dem Szépmuvészeti-Museum (Museum der bildenden Künste) neben dem Heldenplatz abgehalten. Auf der einen Seite war es schön, wir haben mit Taschenlampen ein Lichtermeer erzeugt und Lieder gesungen. Um uns herum standen aber auch Menschen, die schrien: „Fickt euch, ihr Juden“ und Schlimmeres. Ein ernüchterndes Erlebnis. Ich habe gemerkt: Eine wirkliche Stimme haben wir nicht.

Aber Angst? Nein, die habe ich nicht – und ich glaube, die meisten der 70 000 Juden in Budapest auch nicht. Eher herrscht eine resignierte Haltung, dass es einfach einen latenten Antisemitismus gibt. Ob ein verpflichtender Religionsunterricht für alle Religionen mehr Offenheit und Verständnis schaffen würde? Ich denke eher, dass alles vom Lehrer abhängt. Wie unterrichtet er die ungarische Geschichte, welche Rolle schreibt er den Juden zu – das ist das, was wirklich in den Köpfen der Schüler hängen bleibt. Das Bild des reichen, geldgierigen Juden existiert ja noch, „die Juden da oben in der Wirtschaft“. Ich habe einmal einer flüchtigen Partybekanntschaft nach einer Weile erzählt, dass ich Jude bin. Nach ein paar Minuten kam er zurück und fragte mich, bei welcher Bank er sein Geld anlegen soll. Nur weil ich Jude bin, soll ich das wissen? Das Bild kommt nicht von ungefähr, die Rolle der Juden im Geldgeschäft ist ja in der Geschichte verankert. Aber von dem einen auf das andere zu schließen, das ist keine objektive Sichtweise.

Mein Zukunftsplan steht schon in den Grundzügen fest: Ich möchte noch ein paar Jahre etwas für die jüdische Gemeinde machen, dann möchte ich arbeiten. Meine jetzige Freundin ist Jüdin – sie versteht, warum ich so aktiv in der Gemeinde bin. Ob ich sie heirate, weiß ich nicht. Aber wenn ich heirate, dann gerne eine Jüdin. Ich möchte meinen Kindern die Möglichkeit geben, jüdisch aufzuwachsen.”
 

Anna Sára, 22, Soziologie-Studentin

“Ich bin jüdisch, ohne jüdisch zu sein. Meine Mutter ist Christin und nur durch die Mutter wird die jüdische Religion vererbt. Hier in Budapest sind religiöse Mischehen häufig.  Weder mein Vater noch meine jüdischen Großeltern haben viel über das Judentum geredet. Die Geschichte Ungarns hat viele ältere Juden gelehrt, zu schweigen.

Ich bin auf eine jüdische Schule gegangen, es gibt drei in Budapest. Mit dreizehn habe ich meine Bat Mizwah, den Eintritt ins Judentum, in der neologen Gemeinde gefeiert. Aber auch das hat mir die jüdische Geschichte nicht viel näher gebracht, die Jugendorganisationen waren wichtiger. Schon als Achtjährige bin ich in das jüdische Sommercamp Szarvas gefahren. Ich war als Kind sehr schüchtern, aber in den Camps habe ich gelernt, Ängste abzubauen: Ich kann nun problemlos vor einer großen Gruppe Leute frei reden. Ich habe, als ich älter wurde, auch Fahrten geleitet. Jetzt leite ich die jüdische Jugendgruppe „Hashomer Hatzair“. Es macht mir sehr viel Spaß, Kindern durch Spiele die jüdische Religion und Bräuche näher zu bringen.

Ob ich selbst religiös bin? Naja, das wichtigste am Judentum ist mir die Gemeinschaft, meine Freunde. Ich respektiere die traditionellen Regeln des Judentums, aber identifizieren kann ich mich damit nicht. Ich fühle mich nicht wohl in der klassischen Rolle der Frau im strengen Judentum. Wenn ich in die Synagoge gehe, dann will ich nicht in einem abgetrennten Raum beten, sondern inmitten der Gemeinde. Mein liebstes jüdisches Ritual ist die Havdalah, ein Ritual nach dem Sabbat am Samstag, das den Beginn der neuen Woche zelebriert. Da der jüdische Kalender sich am Mond orientiert, fängt der Tag mit dem Abend an. Das wird mit Liedern und Kerzen gefeiert.

Ich bin Ungarin. Ich fühle mich ungarisch, ich spreche ungarisch: Ich habe mein gesamtes Leben in Budapest verbracht, die Stadt ist mein Zuhause. Aber ich fühle mich auch als Teil des jüdischen Volkes, einer Gemeinde, die sich über die ganze Welt erstreckt: Israel ist als Land sehr wichtig für mich. Wenn die Israelis kritisiert werden, fühle ich mich auch ein wenig persönlich angegriffen. Ich weiß, dass die Palästinenser nicht alle böse und nicht alle Israelis gut sind. Aber trotzdem – hier in Ungarn kriegt man eine einseitige Berichterstattung. Das ärgert mich.

Es wird immer sehr viel über den Holocaust geredet, vielleicht zuviel. Die Juden müssten weitergehen und sich weniger an dem Vergangenen orientieren. Ich wünsche mir, dass die ungarischen Juden selbstbewusster werden.”

Fiona Weber-Steinhaus

| More

 

IHRE MEINUNG IST GEFRAGT - KOMMENTAR ABGEBEN

 

(c) Pester Lloyd

IMPRESSUM

 

Pester Lloyd, täglich Nachrichten aus Ungarn und Osteuropa, Kontakt