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(c) Pester Lloyd / 01 - 2011

30.12.10

Auf großer Bühne

EU-Ratspräsidentschaft: Ungarn unter verschärfter Beobachtung

Die EU-Ratspräsidentschaft Ungarns hat begonnen und gleich zu Anfang zeigen sich eindrucksvoll beide Masken des Spektakels. Nach außen geben sich die Protagonisten staatstragend, fast sanft und sehr europäisch. Man will, so erklärt man, die Gemeinschaft stark machen. Nach innen aber bleibt man genauso despotisch und kleinkariert wie das ganze letzte halbe Jahr. Ob man will oder nicht, Europa interessiert sich nun jedenfalls viel mehr für Ungarn als zuvor.

Am 1. Januar übernahm Ungarn - zunächst noch inoffiziell - für ein halbes Jahr die EU-Ratspräsidentschaft, offiziell beginnt der Turnus mit einer Sitzung der EU-Kommission am 6. Januar. Ministerpräsident Orbán nannte es als sein Hauptanliegen für ein "starkes Europa" zu sorgen. Im Zentrum der Präsidentschaft steht neben den anstehenden Problemen der Stabilisierung des Euros und den damit einhergehenden Herausforderungen für Regeln in der Finanzpolitik der Mitgliedsstaaten auch die Implementierung der "Europa 2020"-Strategie, die für Wachstum und Arbeitsplätze sorgen soll.

 

Um im kommenden halben Jahr effektiv agieren zu können, hat sich der ungarische Premier zuvor auf eine Tour zu allen Regierungschef der EU-Mitgliedsstaaten sowie zu Schlüsselpartnern der sogenannten "Ostpartnerschaft", u.a. Ukraine, Russland und verschiedenen Balkanstaaten aufgemacht. "Meine Erfahrung dabei war, dass jeder an einem starken Europa interessiert ist."

Neben den großen Herausforderungen in der Wirtschaft stehen für ihn die Schaffung einer europaweiten Strategie zur Verbesserung der Lage der Roma und die Stabilisierung der Balkanregion durch Schaffung einer klaren Beitrittsperspektive im Zentrum seines Handelns. Auch während der Präsidentschaft will Orbán nochmals alle Mitgliedsstaaten bereisen, um "den großen Abstand zwischen dem europäischen Geist und den europäischen Bürgern zu verringern", so der Premier in einem Interview auf einer offiziellen EU-Webseite.

Zweitägige Feier in Budapest

In Ungarn wurde die Präsidentschaft mit einer zweitägigen Feier unter dem Jubelmotto "Wir sind Europa" im Millenáris Center in Budapest eingeläutet. Einige tausend Menschen feierten bei Live-Konzerten und Promotion-Filmen. Außer der Regierungssprecherin und der Sprecherin der Präsidentschaft, waren keine Offiziellen anwesend, weil das Fest, so die Verlautbarung, dem Volk gehören sollte. Neben etlichen Kulturprogrammen in Ungarn, die die EU-Ratspräsidentchaft begleiten werden, sollen auch über 100 Veranstaltungen im Ausland organsiiert werden, u.a. in Wien, Brüssel, Berlin, Paris, London, Rom und Barcelona, Zagreb, Madrid, Riga und Poznan.

Die große Sorge um "den guten Ruf"

Beobachter gehen davon aus, dass Ungarn alles daran setzen wird, als ehrlicher Makler der europäischen Agenden aufzutreten und so ein Bild von Kooperationsbereitschaft und europäischer Reife abzuliefern. Vor allem dem Außenminister János Martonyi wird dafür auch das internationale Format zuerkannt. Das offizielle Ungarn hatte bereits im Vorfeld angekündigt, die Ratspräsidentschaft zur Wiederherstellung des Rufes des Landes nutzen zu wollen, meinte damit aber zunächst den durch die Misswrtschaft der Sozialisten ramponierten Ruf. Nun kommt es jedoch mehr darauf an, Ungarns Ruf als Demokratie europäischer Prägung nachzuweisen. Durch eine wahre Flut von Gesetzen, Verordnungen und personellen Umbesetzungen hat die Regierung Orbán und die Regierungspartei Fidesz seit Ende Mai ihre Macht zementiert und zuletzt mit einem neuen Mediengesetz das Fass für den Westen zum Überlaufen gebracht.

Das Mediengesetz in Aktion

Dass die westliche Kritik am Mediengesetz zwar auffallend unisono einsetzte, aber nicht ausschließlich einer so uniformierten wie politisch korrekt meinenden Hysterie von Sozialisten des Westens zuzuschreiben ist, wie sowohl Regierung wie auch regierungsnahe Medien und sonstige Mitläufer erwiderten, belegt das aktuelle Beispiel Tilós Rádío, dessen Details Sie auf diesem Blog ausführlich dargestellt finden. Das Ergebnis dieser absurden Geschichte ist nicht nur, dass jetzt alle ungarischen Jugendlichen die sudelnden Texte des inkriminierten Rappers kennen (die Medienbehörde hatte eine amtliche Übersetzung ins Netz gestellt), sondern es wurde auch ein deutliches Signal gesendet, welche Art von Medien sich vor dem neuen regierungstreuen Medienrat zu fürchten haben. Die Dauerhetzportale der extremen Rechten, die tagtäglich Hasspredigten verbreiten, bekamen nämlich noch keine offizielle Post von der NMHH.

Die Politik will die Gestaltungshoheit von der Wirtschaft zurückerobern...

Während die Innenpolitik also ganz auf Machtzementierung und -konzentration ausgerichtet ist, versucht man in der Wirtschaftspolitik einen Befreiungsschlag von der Schuldenlogik á la IWF und den internationalen Finanzmärkten sowie die Abhängigkeit von multinationalen Konzernen zu verringern und gleichzeitig die eigenen Kräfte (Mittelstand, Beschäftigung etc.) zu beleben. Die Politik will die Gestaltungshoheit von der Wirtschaft zurückerobern, was ein in Europa ziemlich einmaliges Experiment zu sein scheint. Eine paternalistische Rentenreform wird umgesetzt, die Einkommenssteuern und die Unternehmenssteuern für den Mittelstand massiv gesenkt, Sondersteuern für Großkonzerne und Banken eingeführt, um Budgetlöcher zu stopfen und Schulden zu verringern. Im nächsten Jahr dürften ähnliche Rosskuren wie bei der Rente auch dem Gesundheitswesen (Pharma), der Arbeitslosenversicherung und etlichen defizitären Staatsbetrieben bevorstehen.

Ein gutes Dutzend multinationaler Konzerne forderte nun in einem Brief an die EU Maßnahmen gegen diese - aus ihrer Sicht - Strafbesteuerung, die sie einseitig benachteilige und Investitionen und Arbeitsplätze gefährde. Tatsächlich sind aber durch die Regelungen nicht explizit ausländische Konzerne benachteiligt, sondern vor allem Unternehmen von einer bestimmten Umsatzgröße, was ein beredtes Licht auf die Asymmetrie der Stärke der Wirtschaftsakteure in Ungarn (aber auch anderswo im "Osten") wirft und damit eines der wirklichen Übel gut beleuchtet. In dem Brief wird nämlich nicht erwähnt, dass die Konzerne, die nun um ihre Gewinne fürchten, jahrelang nicht nur investiert, sondern auch Milliarden an Gewinnen in ihre Heimatländer abführten.

Im Frühjahr erhält Ungarn eine neue Verfassung

Im Zusammenhang mit der zu erwartenden Selbstdarstellung Ungarns in Europa ist ebenfalls die Debatte über die neue Verfassung zu sehen. Die Regierung betonte nochmals, dass man diese in jedem Falle im Frühjahr zu einem Abschluss bringen werde. Darin werden - nach dem jetzigen Entwurfsstand - viele Passagen und Bestimmungen enthalten sein, die durch die Regierungspartei in letzter Zeit beschlossene Gesetze so in der Verfassung verankern, dass deren Änderung selbst bei einem Machtwechsel kaum möglich wird. Umstritten ist auch die national-konservative Grundausrichtung der geplanten Präambel, die vielen mit seiner Verankerung von Christentum und einer Reverenz an die Stephanskrone und andere reaktionäre Gängelungen als gestrig gilt. Kritiker wurden vom Sprecher des Ministerpräsidenten, Péter Szijjártó wieder einmal mit der schon standardisierten Bemerkung abgefertigt, dass "es wohl einigen Probleme bereitet, eine demokratisch gewählte Regierung zu sehen, die den Volkswillen erfüllt" und dass "nur ein starkes Ungarn als einer der Motoren eines starken Europas" funktionieren kann.

Mehr Aufmerksamkeit kann nicht schaden

Dass Stärke zum Guten wie zum Schlechten eingesetzt werden kann, bewies diese Regierung schon seit ihrem Amtsantritt zur Genüge. Sie hat kräftig durchregiert und dabei gleich ein paar Grundrechte mit hinweggesäbelt, etwas, wozu sie durch kein Wahlergebnis ermächtigt werden kann, auch wenn sie das behauptet. Die lautstarke Entrüstung des Westens hätte jedoch schon weit vor dem Mediengesetz einsetzen müssen, spätestens bei der Entmachtung des Verfassungsgerichtes. Hätte sich Alt-Europa die letzten Jahre mehr für Ungarn, wie auch die anderen östlichen Beitrittsländer interessiert, wäre es gar nicht erst so weit gekommen, dass man nun sogar einen Niedergang der Demokratie befürchten müsste. Dieses Versäumnis können sich übrigens neben den Medien auch so gut wie alle politischen Parteien anrechnen.

Immerhin steht Ungarn nun dank der EU-Ratspräsidentschaft stärker im Fokus der europäischen Öffentlichkeit, was sowohl für Europa wie für Ungarn nur von Nutzen sein wird, wenn man die Sitzungen, die nun im Wochentakt auf der lieblichen Bühne des Sisi-Schlösschens in Gödöllö abgehalten werden, nicht mit protokollarischen Belanglosigkeiten zur Show vertändelt.

.red

Offizielle, viersprachige Webseite zur ung. Ratspräsidentschaft
http://www.eu2011.hu

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