(c) Pester Lloyd / 03 - 2011 POLEN 18.01.2011
Bittere Wahrheiten
Polen vs. Russland: keine Ruhe für die Opfer von Smolensk
Wer in Polen den russischen Bericht über den Flugzeugabsturz von Smolensk als glaubwürdig einstuft, macht sich in den Augen der Rechten fast des Landesverrats
schuldig. Russen haben prinzipiell nicht recht zu haben, wenn es um polnische Fragen geht. Wegen der Rücksichtnahme auf die Kaczyński-Klientel muss sogar der als
aufgeklärt geltende Premier Donald Tusk von "unvollständig" und "Klärungsbedarf" sprechen, auch wenn man die "bittere Wahrheit" anerkennt. Von ewiger Ruhe sind
die Opfer der Katastrophe noch weit entfernt.
Ein desaströses Bild von Polen in russischem Beamtenstakkato
Dass der abschließende Untersuchungsbericht der russichen Behörden über die Absturzursache der
Präsidentenmaschine in Smolensk im April 2010, nicht den Abschluss der Debatte bedeuten würde, war wohl beiden Seiten von vornherein klar. Da nutzten auch nicht die zehntausenden
Seiten, die Einbeziehung polnischer und ausländischer Experten bei der Auswertung der Voicerekorder und die großangelegte internationale Pressekonferenz.
Jarosław Kaczyński an der Absturzstelle bei Smolensk...
Die Polen bekamen im Bericht ein Bild präsentiert, dass sie schwer treffen musste. Ihr
Ex-Präsident ein egomanes, rechthaberisches Rumpelstilzchen, der Luftwaffenchef ein inkompetenter Trunkenbold und die Piloten ängstliche, schlecht ausgebildete Versager.
Alles zusammen mit schlechtem Wetter und etwas Pech führte zu der Katastrophe, bei der das Präsidentenpaar und fast die gesamte Staats- und Militärführung ums Leben kamen.
Und das alles vorgetragen in eiskaltem russischen Beamtenstakkato, das war einfach zu viel. Und es war auch unklug und überheblich von Russland, nicht gleich eine gemeinsame
Untersuchungskommission einzusetzen. Und natürlich steht die Frage im Raum, ob und wie die Welt davon erfahren hätte, gäbe es eine russische Mitschuld.
Trauer in Polen: Ursache zu banal für soviel Leid
Verdrängung und Verschwörung
Wenn man weiß, wie sehr die über die Jahrhunderte berechtigt gewordene und gebliebene
Skepsis gegenüber Nachbar Russland im Lande zu einem pathologischen Russenhass genährt wurde, kann man erahnen, dass die uns aberwitzig erscheinenden Äußerungen von
Zwillingsbruder und Ex-Premier Jarosław Kaczyński durchaus auf fruchtbaren Boden fallen.
Er sprach von dem vorgelegten Bericht von einer "Verhöhnung des polnischen Staates", sämtliche Anschuldigungen gegen den Luftwaffenchef und das Versagen der
Kommandostruktur betreffend, beruhten nur auf Spekulationen.
Das tun sie beileibe nicht, es liegen Beweise vor, aber das interessiert nicht. Selbst wenn
man ein paar Kommunikationspannen mit dem Airport auf die Russen schieben mag, die Piloten kannten die Lage und handelten - aus verschiedenen Gründen - falsch. In den
einschlägigen Medien der klerikalen Rechten kreisen jedoch Verschwörungstheorien, die denen zu 9/11 alle Ehre machen würden, Grundtenor ist immer: die Russen wollen uns
stets Böses, also werden sie irgendwie ihre Finger mit im Spiel gehabt haben. Wer den Bericht für bare Münze nimmt, ist ein Scherge Russlands und also Landesverräter, Smolensk
klingt in diesen Kommentaren und auch im Munde Bruder Kaczyńskis immer mehr wie Katyn.
Dabei sind nicht einmal alle Skeptiker politisch aufgehezt, oft sitzt einfach der Schock zu
tief, sie wollen einfach nicht glauben, was sie sahen. Die Ursache ist zu banal für so viel Trauer, es muss was Größeres dahinter stecken. Eine hilferufende Verdrängung, die für
Psychologen kein Rätsel ist, die aber von Politikern aus niederen Motiven ausgenutzt wird.
...und auf einem Kongress seiner Partei
Keine wundersamen Wandlungen, sondern
zynischer Opportunismus
Dabei hatte Jarosław Kaczyński nach dem Absturz eine
Wendung durchgemacht, die viele zunächst erstaunte. Der nach außen als kontrovers und nach innen als arrogant geltende Chef der Partei "Prawo i
Sprawiedliwość" (Recht und Gerechtigkeit, kurz PiS) hatte plötzlich Kreide gegessen und machte auf versöhnlich, ging auf seine Kritiker zu und legte die
Kettenhunde seiner Partei an die Leine. Dennoch verlor er die Präsidentschaftswahl, danach hieß es wieder: Kommando zurück. Jarosław fand zu alter Radikalität
zurück und drosch wieder auf alles vermeintlich kommunistische, schwule, ungläubige ein und setzte seinen Kreuzzug (man erinnere sich nur an das unwürdige Spektakel um das Holzkreuz vor dem
Präsidentenpalast) und die, die sich vorher noch gewundert hatten, mussten nun feststellen, dass es sich bei den wundersamen Wandlungen schlicht um den tagtäglichen
Opportunismus eines machtbesessenen Politikers handelte, der zur Erlangung von Mehrheiten sogar den Tod des eigenen Bruders ins Kalkül zieht, um nicht schlimmere Worte dafür zu verwenden.
Tusk: einseitig und unvollständig, aber eine bittere Wahrheit
Doch die Verschwörungstheorien und das klerikal-nationalistische Geschrei Kaczyńskis
hatten in Polen immer Anhänger und es scheinen wieder mehr zu werden. Der liberalkonservative Ministerpräsident Donals Tusk erkennt und erfühlt diese Stimmung und
muss ihr seinerseit gerecht werden, obwohl alle Welt weiß, dass er die ganze Sache endlich ad acta legen will.
Tusk und Putin an der Unfallstelle
Doch die gefühlte Hälfte des Landes kann
man nicht rechts liegen lassen und so spielter er das zynische Spiel umt und ließ sich dazu bewegen, den Bericht der Russen als "einseitig und unvollständig."
zu kennzeichnen. Er betonte auch, dass es nicht seine Absicht sei, "die polnische Verantwortung herunterzuspielen." Der Bericht lasse jedoch zu viele Fragen über
die russische Seite in der Katastrophe offen. Zum Beispiel fehlten Untersuchungen des Zustands des Flughafens Smolensk-Nord und der Aktionen der Flugverkehrskontrolle. Auch seien die
polnischen Anmerkungen zur im Oktober vorgelegten vorläufigen Version kaum berücksichtigt worden. Insgesamt aber, sprachen Vertreter der Regierungspartei von
einem "bitteren" aber "glaubwürdigen" Bericht, auch der parteilose Innenminister, Jerzy
Miller, zugleich Leiter der polnischen Untersuchunskomittee sieht das so und fügt nur leise an, dass wohl auch der Flughafen in Smolensk nicht im besten Zustand war.
Die PiS will noch eine Untersuchungskommission, unter US-Leitung...
Tusk verlangte eine „objektive und vollständige Rekonstruktion der Unglücksursachen“ und
kündigte an, die russische Seite zum Erstellen eines gemeinsamen Berichts bewegen zu wollen. Polen könne sich dabei auf das Chicagoer Abkommen über die internationale
Zivilluftfahrt berufen. Ein Bericht, der die polnischen Untersuchungsergebnisse stärker berücksichtige, könne die Verantwortung der polnischen Seite möglicherweise noch
deutlicher herausstellen. Tusk erwartet von der russischen Seite „die gleiche Courage“ und die Bereitschaft, „das gesamte Bild vorzubringen“ und betonte, dass die kürzlich
verbesserten polnisch-russischen Beziehungen nicht unter dieser Angelegenheit leiden sollten. Stattdessen sei Wahrheit eine der Grundlagen für gute Verhältnisse.
Gleichzeitig griff er die PiS aber scharf wegen ihrer "Instrumentalisierung" der Tragödie an.
Eine von der Partei geforderte "unabhängige Kommission unter Leitung der USA" lehnte er ab. Nun will PiS die Sache ins Parlament bringen und hat eine Sondersitzung beantragt. Die
Toten von Smolensk taugen offensichtlich noch als politisches Agitationsmaterial. Daher gönnt man ihnen die ewige Ruhe nicht.
red. / Simon Rahdes, M.S.
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