(c) Pester Lloyd / 05 - 2011
POLITIK 03.02.2011
Die gekrönte Republik
Verfassungsdebatte in Ungarn geht weiter
Während Sozialisten, LMP und nun auch Gewerkschaften immer deutlichere Kritik an dem Entwurf zur neuen Verfassung äußern, versucht die Regierungspartei ihren
Entwurf als bürgerfreundlich und zukunftsweisend darzustellen. Zwar könnten sich Fidesz-KDNP eine Verfassungsdebatte ersparen und das Grundgesetz des Landes auch
ohne Oppositionszustimmung durchprügeln, aber einen solchen Lärm wir beim Mediengesetz will man bei der für Ostern (Auferstehung) zu verabschiedenden Verfassung tunlichst vermeiden.
Auf welchen Weg führt die neue Verfassung Ungarn? Hausnummer in der Verfassungsstraße in Szentendre.
Die neue Verfassung soll ein "effektives Regieren" ermöglichen, was von Übelmeinenden als kreative
Umschreibung von "Machtsicherung" ausgelegt wird. Die Übergangsverfassung der Nachwendezeit müsse nun abgelöst werden durch eine neues, dem Volkswillen und der Vollendung der
Wende entsprechendes Dokument, das die Vision eines starken, selbständigen Ungarn beinhaltet, so die offizielle
Version. Über die Frage der Notwendigkeit einer neuen Verfassung, Grundzüge ihres Inhaltes, Motivationen ihrer Gestalter und die Aufsehen erregende Mitwirkung des
Präsidenten haben wir bereits hier ausführlicher geschrieben:
Orbáns Manifest - Okt. 2010 Ungarn bekommt eine neue Verfassung, mit TV-Programm - ein kritischer Überblick
Orthographie und Gottesstaat oder Die Offenbarungen des Apostels Pál - Nov. 2010 Die Verfassungsdebatte in Ungarn wird immer absurder
Einige aktuelle Wortspenden beleuchten eine Debatte, die von Regierungsseite und
Opposition(en) nun seit knapp einem Jahr so intensiv wie sachfern und konsequent aneinander vorbei geführt wird. Neben den großen verfassungsrechtlichen "Eröterern",
Fachjuristen, den Philosophen und den sich dazu berufen Fühlenden, gibt es viele ganz praktische Wünsche und Kritiken von allen nur denkbaren Parteien und Interessensgruppen.
Doch den Ton gibt allein das Fidesz an, zumal sich die Sozialisten beleidigt aus der Parlamentskommission zur Erarbeitung der Verfassung, in der sie ohnehin nichts zu melden
hatten, zurückgezogen haben und einen eigenen Entwurf vorlegten.
Die Goldene Bulle von 1222 kann als die erste “Verfassung” Ungarns gelten. Darin regelte König Andreas
II. (Vater aus dem Hause der Árpáden, Mutter französischer Adel) das Verhältnis zwischen Königshaus
und Adel und limitierte teilweise auch die Befugnisse der ungarischen Magnaten und Provinzherrscher über ihre Untertanen.
Das Kreuz mit der Krone
Oh Gott, schütze die Ungarn! soll der
erste Satz in der neuen Verfassung der Ungarischen Republik werden, es ist zugleich die erste Zeile der Nationalhymne. So wünscht es sich der Präsident, Pál Schmitt und auch der Chef
der KDNP, Zsolt Semjén, jener Fidesz-Blockpartei, die sich auf exisztentielle Fragen wie den Zustand der großungarischen Nation und die Bedürfnisse des fundamentalen
Christentums spezialisiert hat. Ungarn wird wohl die erste Republik sein, die sich in ihrer republikanischen Verfassung auf eine
Königskrone bezieht und diese zum Symbol ihrer Staatlichkeit macht. Die Stephanskrone, hier "Heilige Krone" geheißen, soll als über der Nation stehendes Symbol des gesamten
Ungarntums fungieren und die Unabhängigkeit des Landes betonen, auch wenn man hinzufügen muss, dass sie bereits durch viele adelige Häupter mit Migrationshintergrund getragen worden ist.
Die vaterlandslose Opposition hat für derlei Symbolik freilich keinen Sinn, die Kritik reicht
von: Ungarn macht sich lächerlich bis hin zu: gefährliches Symbol neuen Autoritarismus`. Auch das geforderte "Bekenntniss zum Christentum" gehört nicht einmal für jeden
Gutmeinenden in ein solches Dokument, da es selbst die Spitze der weltlichen Ordnung darstellen soll und so nur mit einer anderen, der mutmaßlich himmlischen, vermischt
würde. Läuft alles nach Plan, wird die neue Verfassung Ostern beschlossen werden, dem christlichen Fest der Auferstehung. Eine derart klerikal-nationalistisch gestimmte Präambel
in einer Verfassung, belastet natürlich von vornherein eine offen und pragmatisch geführte Debatte zu der Frage, wie Ungarn in den nächsten Jahren, womöglich Jahrzehnten verfasst sein soll.
Fidesz: Bürgerrechte werden ausgeweitet, gefragt wird der Bürger aber nicht
Manchmal ist auch bei der Regierungspartei der Versuch
milden Entgegenkommens spürbar, wenn man nicht befürchten müsste, er dient der Überdeckung größeren Ungemachs. Dabei mag die internationale Aufregung um
das Mediengesetz eine Rolle spielen, das man sich bei der Verfassung gerne ersparen möchte. Bence Rétvári, Staatssekretär im Justizministerium wünscht sich, dass
Gesetze, die zukünftig beschlossen werden, bereits im Vorfeld auf ihre Verfassungstauglichkeit zu prüfen sind.
Eines der zentralen Argumente der Regierenden ist, dass die
aktuelle Verfassung lediglich eine Umarbeitung derjenigen aus gulaschkommunistischer Zeit darstellt, die man mit einer neuen Verfassung nun endgültig überwinden will.
Dieses Vorgehen, das der naive Normalbürger vielleicht als selbstverständlich voraussetzen
möchte, solle ebenfalls in der neuen Verfassung verankert werden, in dem man die Art von Gesetzen weiter definiert, die einer vorherigen Zustimmung der obersten Rechtshüter
bedürfen. Rétvári beeilte sich hinzuzufügen, dass dies keineswegs die nachlegislativen Möglichkeiten des Verfassungsgerichtes beschränken werde, "hier bleibt alles so wie es ist".
Nun, freilich hat man vor ein paar Monaten noch dafür gesorgt, dass das Verfassungsgericht bei sämtlichen "das Budget betreffenden oder beeinflussenden
Gesetzen" kein Recht hat Gesetze zu anulliern, es darf sie nur noch bemängeln. Der Status quo ist also schon der rechte.
Fidesz-Entwurf zur neuen Verfassung, zeitgemäß in 3D und zum selber beasteln?! Ok, ein Scherz. Doch
die “Einbettung” der “Heiligen Krone” wie des Christentums in die Präambel einer republikanischen Verfassung wirft zumindest die Frage auf, wer in Zukunft in Ungarn den Hut auf hat...
Weiterhin sollen die Bürgerrechte gestärkt
werden. Na bitte, es geht doch. Hier geht es vor allem um die "Gewährung von rechtlichem Gehör" also einem Grundrecht gegenüber Exekutivorganen. Die Verfassung
wird hier zum Anlassgesetz, denn man bezieht sich dabei auf Vorkommnisse aus dem Herbst 2006, in der die Polizei "exzessive Gewalt gegen Regierungsgegner"
bei Demonstrationen anwandte und auch sonst einige Bürgerrechte mit Füßen getreten habe, wie das ein Parlamentsausschuss festhielt. (Es ging damals um polizeiliche Übergriffe bei Demos nach
dem Sturm auf die Fernsehzentrale durch tatsächlich üblen Mob, eine völlig überforderte und fehlgeführte Polizei hatte sich danach auch an friedlichen Protestieren ausgelassen,
was seitdem von der Rechten ziemlich dramatisiert wird.)
Den Wunsch einer Volksabstimmung bzw. der Zustimmung zweier hintereinander gewählter
Parlamente zu einer so grundlegenden Änderung wie der Einsetzung einer neuen Verfassung wird die Regierung wohl nicht erfüllen: "ist nicht vorgesehen" heißt es hier nur
lapidar. Es gibt indes Gerüchte, dass sich das Fidesz nach der Inkraftsetzung der neuen Verfassung per vorzeitiger Neuwahlen womöglich ebenfalls vom Volk erneut bestätigen
lässt, was angesichts des heute zu erwartenden Ergebnisses die größtmögliche Demütigung für die bedeutungslose ungarische Opposition sein müsste.
Wegweisend diese Geste von Premier Orbán. An was erinnert uns diese Haltung gleich?
Gewerkschaften sehen Arbeitnehmerinteressen übergangen
Die Gewerkschaften, vor allem der als links geltende
Dachverband MSZOSZ (einer von sechs), kritisieren aktuell, dass der Entwurf zur neuen Verfassung allerhand blumige Formulierungen enthalte, aber wenig Konkretes zur
regelung der Angelegenheiten zwischen Arbeitgebern und Arbeitnehmern. Sie vermissen eine Festschreibung des Mindestlohnes ebenso wie Grundaussagen zur Kontrolle der
Arbeitssicherheit und der Arbeitszeit. Stattdessen schreibt sich der Präsident, ein Ex-Olympiafechter, den Sport als Staatsziel hinein.
Tamás Szekely, Chef der Gewerkschaft Chemie und
Energie vermisst weiterhin das Verbot von Gesetzen mit rückwirkendem Effekt, wie ihm überhaupt die Art der
Debatte als "sozial nicht weit genug" geführt vorkommt. Er erwartet neben der Verankerung eines Mindestlohnes auch einen Passus, der die Einnahmen aus den
Sozialbgaben ausschließlich für die Deckung von Kosten aus "sozialen Dientleistungen" vorsieht. Käme ein solcher Passus, hätte die Regierung freilich ein ziemliches Problem mit
ihren Milliarden an Rentenbeiträgen, die sie sich gerade eingezogen hat.
Staatsprsäident Schmitt scheint keine Probleme damit zu haben, der Republik eine höhere Macht als die
des Volkes ins Stammbuch zu schreiben. Hier küsst er schonmal Gottes Stellvertreter die Hand, wiewohl der Ausländer ist.
László Varga, Leiter einer dachverbandsübergreifenden Arbeitsgruppe (SZEF) sieht die Verankerung bzw. Erwähnung oder
Würdigung des Christentums in der Verfassung als "unakzeptabel" an, wenn nicht gleichzeitig das Prinzip der Trennung von Kirche und Staat Verfassungsrang erhält. Péter
Pataky, MSZOSZ-Chef, vermisst zudem die Festschreibung gewerkschaftlicher Grundrechte, ohne die eine Verfassung diesen Namen nicht verdient. Um sich nicht
sozialistischer Anwandlungen verdächtig zu machen, wies er daraufhin, dass es 1848 den ersten ungarischen "Kollektivvertrag" gegeben habe. Eine magische Jahreszahl als dessen
Vollender sich Premier Orbán gerne sieht (neben 1956 und 1989, mutmaßlich sogar 896) "Gewerkschaften sind keine Überbleibsel einer kommunistischen Vergangenheit, sondern
Teil des europäischen und ungarischen Vermächtnisses", sagte er, aber gerade für seinen Verband müsste er diesen Satz erst noch beweisen.
LMP sieht keinen Grund für eine völlig neue Verfassung
Ebenfalls so deutlich wie für den Gesetzesfindungsprozess unmaßgeblich, fällt die Kritik der
grün-liberalen Bewegung LMP, der kleinsten im Parlament vertretenen Partei, aus. Man habe ein vierzigseitiges Konzept ausgearbeitet, dass vor allem die Stärkung der
demokratischen Kontrollsysteme ("Checks and Balances") betont, sagte Fraktionschef András Schiffer, es soll am Donnerstag der Öffentlichkeit vorgelegt werden. Ihnen ginge es
weiter um die Ausweitung der Rechte des Verfassungsgerichtes, die Verankerung von langfristigen Gesellschaftszielen, u.a. die soziale Marktwirtschaft, die Wirtschaft mit
nachhaltiger Entwicklung verbindet.
Insgesamt sieht Schiffer keinen drängenden Grund für eine komplett neue Verfassung und
auch aus anderen Richtungen, u.a. dem konservativen Ex-Präsidenten Sólyom stört man sich daran, dass die Verfassung viele Passagen beinhalten könnte, die weit über das
hinausgehen, was in eine solche hineingehört. Der Verdacht wurde geäußert, dass etliche geschaffene Gesetze durch eine Verankerung in der Verfassung einer Änderung oder
Abschaffung entzogen werden könnten, sollten die Mehrheiten im Parlament einmal wieder wechseln.
Der LMP-Entwurf enthält eine "Limitierung der Macht des Ministerpräsidenten" und die
Übergabe größerer Kontrollvollmachten an das Parlament und den Präsidenten. Die Chefs von unabhängigen staatlichen Körperschaften (z.B. Generalstaatsanwaltschaft, Medienrat,
Nationalbank etc.) dürften demnach nicht wiedergewählt werden.
Mit ihrem Entwurf übt die LMP also eine zeitnahe Kritik an der aktuellen Regierungspolitik,
was ihn genauso obsolet macht wie seine deutliche Abweichung zur Grundintention der Nationalkonservativen, ihre archaische Retro-Ideologie, einschließlich eines manipulierten
Geschichtsbildes samt Opfermythos auf Verfassungsrang zu heben und gleichzeitig ihre ehrlich erworbene Macht auf lange Sicht zu zementieren, zu Nutzen und Frommen des ganzen großen Ungarns.
red. / MS.
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