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(c) Pester Lloyd / 08 - 2011  POLITIK 21.02.2011

 

Der Pferdefuß der Demokraten

Gyurcsány will schon "wieder" Ungarn retten

Der ungarische Ex-Premier und ehemalige MSZP-Chef Ferenc Gyurcsány bekräftigte am Freitag mit einer Art "Rede zur Lage der Nation" seinen Führungsanspruch innerhalb der Opposition und stieß damit neben der eigenen Partei auch andere Demokraten vor den Kopf. Er kündigte, ohne offizielles Mandat, eine grundlegende Erneuerung seiner Partei als Mitte-Links-Sammelbecken an. Zwar fand er auch kritische Töne für das Versagen unter seiner Regierungszeit, zieht aber keinerlei persönliche Konsequenzen daraus.

In der Rede vor Anhängern seiner Plattform "Demokratische Koalition" ging Ferenc Gyurcsány mit der derzeitigen Regierung hart ins Gericht. Orbán habe die dritte ungarische Republik "in den Staub gestoßen" und eine "Tyrannei", ein "System der Willkür" und Einparteienherrschaft errichtet, deren Ende eingeleitet werden müsse, damit "die Ungarn die Demokratie wieder aufbauen" könnten. Das Land habe sich geirrt, wenn es glaubte, dass Viktor Orbán ein Demokrat sei. Daher sollte sich die MSZP "aus sich selbst heraus" zu einer neuen Partei umgestalten, die "bis 2012" ein Sammelbecken aller demokratischen Kräfte von Links bis zur Mitte werden müsste.

Gyurcsány wählte für seinen Auftritt ein staatstragendes Ambiente und konterkarierte das bei
Orbán übliche ungarische Fahnenmeer durch Europaflaggen. Auch auf dem Rednerpult prangte ein Motto: “Eine neue Republik”.

Gyurcsány erkennt seine persönliche Schuld, zieht aber keine Konsequenz daraus

Dabei gab es in der Rede durchaus Ansätze, die eine gewisse Einsicht in den eigenen Anteil an der Misere des Landes und damit in der Folge auch an der heute so überwältigenden Macht des Fidesz erkennen ließen. Doch persönliche Schlüsse zog Gyurcsány daraus immer noch nicht. Er räumte ein, dass man zuerst über seine Verhältnisse gelebt, nach 2004 "weder die Kraft noch den Mut zu notwendigen Veränderungen" gehabt habe und er und die Partei alles daran setzten, 2006 nur die Wahl zu gewinnen, egal wie. Kurz behandelte er auch Korruptions- und Amtsmissbrauchsfälle unter Parteimitgliedern, ohne dahinter etwas systematisches erkennen zu wollen.

Auch der Umstand, dass ausgerechnet die "sozialistische Partei" des Landes diejenige ist, die für die graue Privatisierung und den globalisierten Turbokapitalismus nach der Wende steht, fand keinen Eingang in die Rede des Ex-Premiers und "Self-Made-Milliardärs." Die 2006 öffentlich gewordene "Lügenrede" bei einer Parteiklausur am Balaton, in der Gyurcsány eingestand, dass er und die Partei das Volk bewusst getäuscht hatten, um an der Macht zu bleiben, bezeichnete er als "Verrat". Die Opposition hatte daher nun eine "mörderische Waffe" gegen die Sozialisten in der Hand, sagte der Unternehmer ganz in der seit Jahren in Ungarn gepflegten Grabenrhetorik.

“Ungarn fährt auf einer Straße, die direkt in die Hölle führt”

Das linke Lager müsse sich nun reorganisieren und auch Kräfte der Mitte gewinnen, daher freue er sich auch über die Anwesenheit von einst dem MDF und dem SZDSZ nahestehenden Zuhörern im Raum. Beide Parteien, die gemäßigten Konservativen sowie die Liberalen, beides maßgebliche Kräfte der Wende von 1989, flogen bei den letzten Wahlen aus dem Parlament und verschwanden praktisch von der politischen Bühne. Die grün-bürgerliche LMP, die überraschend den Einzug schaffte und dem Namen nach für "eine andere Politik" steht, distanziert sich jedoch wohlweislich von Gyurcsány und der nach wie vor nicht erneuerten MSZP.

In seiner langen Rede führte Gyurcsány aus, dass das Projekt Orbáns lautet, den Menschen Wohlstand im Tausch für ihre Freiheit zu gewähren. Das wird aber nicht funktionieren, ohne Freiheit gibt es auch kein Brot, bald werden sie dann ohne beides dastehen. Diese Erkenntnis wird sich durchsetzen und "das Ende des Orbánismus" sein. Der jetzige Regierungschef habe "die dritte ungarische Republik eingerissen" und will etwas aufbauen, das politische Konkurrenz verhindert und seine Gegner zerstören soll. Er kehre damit zurück zu jener Art Willkür, die er 1989 selbst mit bekämpft habe.

Die jetzige Regierung schüre sozialen Unfrieden, durch ein ungerechtes Flat-tax-Steuersystem und die Verschiebung der Euroeinführung um zehn Jahre. Das Fidesz habe zwar die Steuerpolitik der letzten Regierungen (also vor allem seiner) ganz zu recht kritisiert, sie fahre aber auf der gleichen Straße weiter, die direkt in die Hölle führt. Außerdem würde sie die Kraft der privaten Wirtschaft durch ihre Sondersteuern schmälern. Orbán könne seine vielen Versprechungen nicht halten, "es gibt kein Rezept für Wunder". Als Gegenvorschläge brachte Gyurcsány eine weitere Erhöhung der öffentlichen Beschäftigung ins Gespräch, forderte höhere Bildungsausgaben, die Einführung einer Vermögenssteuer auf Vermögen ab 100 Mio Forint (ca. 370.000 EUR), sowie im Gegensatz zur Flat Tax von 16%, einen höheren Steuersatz für Besserverdienende, Entlastungen für die unteren Gehaltsgruppen.

Parteifreund Puch: Besser er geht, als dass er die Partei weiter spaltet

Er warnte die Ungarn davor, nostalgisch zurückzuschauen, "weder die Ära von István Tisza noch die von János Kádár wird jemals zurückkommen." Orbáns Ideologie beschrieb er dabei als eine Mischung aus dem Standesdünkel eines István Tisza, dem Nationalismus des Gyula Gömbös sowie dem "Führerkult" des national-klerikalen Fundamentalismus eines József Mindszenty. Diese Geschichte gehört abgeschlossen.

Während sich die wie paralysiert auf Gyurcsány starrenden MSZP-Führung beruhigt sah, dass die Befürchtung, Gyurcsány würde eine neue Partei gründen, nicht eintrat, stammelte der äußerst führungsschwache Parteichef Attila Mesterházy "verwundert" von den vielen "unabgestimmten" Ankündigungen. Bei anderen Mitgliedern herrschte hingegen blankes Entsetzen. Der einflussreiche László Puch, lange Finanzchef der MSZP und Wirtschaftspolitiker, riet seinem Ex-Chef, er solle "die Partei lieber verlassen als sie weiter zu ruinieren". Er könne ja seine eigene liberale Partei gründen, statt die MSZP zu zerbrechen. Gyurcsánys Plattform der "Demokratischen Koalition" fungiere ja schon jetzt als "Partei in der Partei". Er warf ihm weiter vor, dass es nicht genüge, nur "anti-orbán" zu sein. Es sei letztlich Sache eines Parteitages und einer Abstimmung unter den Mitgliedern, welche Art von Partei die MSZP werden wolle. Gyurcsány könne das dann "akzeptieren oder gehen", so Puch in einem Zeitungsinterview.

Gyurcsány geht vor der Wählerbasis auf die Knie.

Allerdings verfügt Gyurcsány vor allem bei vielen nostalgischen und weiblichen Parteimitgliedern über eine treue Anhängerschaft, die ihm reichlich Zuspruch gewährt und ihn als Opfer seiner versagenden Umgebung sieht. Dass Gyurcsány Steherqualitäten besitzt, hatte er - auch parteiintern - immer wieder bewiesen. Für die Formierung einer über die alten Gräben hinaus glaubwürdigen und schlagfertigen Opposition, stellt er sich mit seiner rechthaberischen Beharrlichkeit jedoch heute als größtes Hindernis heraus, als schwer abzuschüttelnder Pferdefuß der ungarischen Demokraten. Gyurcsány ist das politisch halbtote Beispiel für den schiefgelaufenen Teil der Transformation in den mittelosteuropäischen Staaten. Orbán ist sein sehr lebendiges Gegenstück und damit der logische Nachfolger. Beide - übrigens bald genauso lang im Amt - sind bisher den Nachweis schuldig geblieben, ihrem Land genutzt zu haben.

red. / ms.

Zum Thema:

Selbstentsorgung: Was macht eigentlich die ungarische Opposition? - Februar 2011
http://www.pesterlloyd.net/2011_05/05opposition/05opposition.html

Zahnlose rote Furie - Nov 2010
Ungarns "Sozialisten" demonstrieren am Volk vorbei - MIT KOMMENTAR
http://www.pesterlloyd.net/2010_48/48MSZPDemo/48mszpdemo.html

Gyurcsány mobilisiert 2000 zu Demo gegen die Regierung
http://www.pesterlloyd.net/2010_44/44demo/44demo.html

Böswilliges Spiel - Ex-Premier Gyurcsány verweigert sich Untersuchungsausschuss - Sep 2010
http://www.pesterlloyd.net/2010_39/39gyurcsany/39gyurcsany.html

Analyse: Stehaufmännchen - Gyurcsány tritt ab – und irgendwie doch nicht... - März 2009
http://www.pesterlloyd.net/2009_12/0913stehaufmaennchen/0913stehaufmaennchen.html

Gyurcsány geht ab: Ungarns Ministerpräsident tritt zurück - März 2009
http://www.pesterlloyd.net/2009_12/0912ruecktritt/0912ruecktritt.html

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