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(c) Pester Lloyd / 08 - 2011  WIRTSCHAFT 01.03.2011

 

Krieg der Schuldenkrake

Befreiungsschlag, Teil 2: Ungarn schnürt weiteres Reformpaket

Ganze 900 Milliarden Forint, ca. 3,3 Mrd. EUR will Ungarn ab 2013 jährlich einsparen bzw. zusätzlich erwirtschaften. So soll die Schuldenrate des Staates von derzeit 80% auf 70 bis 65% bis 2014 gedrückt werden und das Land endlich gesunden. Kein Lebensbereich von Gesundheit über Arbeit bis zum Verkehr bleibt ausgespart. Diesmal sind jedoch auch einige für das Volk unangenehme Kürzungen und Kosten dabei, nur mit Robin-Hood-Steuern geht es eben doch nicht. Die Fachwelt ist auch nicht sonderlich zufrieden.

Pathetisches Vorwort des Regierungschefs

"Die Zeit für Ungarn ist gekommen, den Schulden den Krieg zu erklären, die unser Leben wie eine Krake zuschnüren". Mit diesen gewohnt martialischen Worten leitet Premier Orbán das zweit große Reformpaket seiner Regierungszeit ein, das am Dienstag präsentiert wurde. "Neun Monate haben wir uns auf diese Schlacht vorbereitet", so Orbán weiter in seinem Vorwort, das auch spezifizierte, wer diese Krake ist: "niemand anderes soll sich an ungarischer Arbeit bereichern..." Er stellte fest, dass es nicht wahr sein könne, dass in Ungarn zwei Drittel der Einkommenssteuer für die Begleichung von Staatsschulden draufgehen, das meiste noch dazu an Schulden im Ausland. Ungarns finanzielle Abhängigkeit vom Ausland ist zu hoch, daher auch die Anfälligkeit der Wirtschaft. "Nur wenn der Kampf eine allumfassende Offensive wird, haben wir Erfolgsschancen. Wir müssen die Schulden in jedem Winkel unseres Lebesn bekämpfen, vom Gesundheitswesen über die Bildung bis hin zum Verkehr." - "Dies ist der Moment, auf den wir seit Generationen gewartet haben. Eine solche Chance gibt es nur einmal."

Unscheinbar, aber bedeutend. Diesmal ließ die Regierung sogar den rot-weiß-grünen Tant weg, der sonst solche Werke zierte: der “Kálmán Széll Plan”. Fotos: fidesz.hu

Um die Bedeutung der Stunde weiter zu betonen, hat man diesem Plan den Namen des ehemaligen Ministerpräsidenten Kálmán Szell aufgestempelt, der von 1899 bis 1903 wichtige Staats- und Finanzreformen anstieß, schon mit dem Investitions- und Beschäftigungsprogramm hatte man sich bei Széchenyi auf die Vergangenheit berufen, um die Zukunft patriotisch auszuschmücken. Lange hat man die Öffentlichkeit hingehalten und vertröstet, internationale Experten kritisierten, dass die Maßnahmen der Regierung fast nur auf die Einnahmeseite setzen und mittelfristig nicht tragfähig sind. Der Wirtschafts- und Finanzminister hat, gemeinsam mit Vizepremier nun das lang erwartete große Reformpaket geschnürt, dass Ungarns Staatshaushalt langfristig heilen und das Land auf Wachstumskrus bringen soll.

Schuldenquote soll unter 70% gedrückt werden

Ganze 900 Milliarden Forint (3,3 Mrd. EUR, bzw. ca. 3% des BIP) will man jährlich ab 2013, 550 Mrd. bereits 2012 einsparen bzw. zusätzlich erwirtschaften. So soll die Schuldenrate des Staates von derzeit 80% auf 70 bis 65% bis 2014 gedrückt werden, sagte Nationalwirtschaftsminister Matolcsy auf einer Pressekonferenz am Dienstagmittag in Budapest, bei der auch Orbán anwesend war, aber nichts sagte. Er traf sich hinterher mit einigen Wirtschaftsgrößen. Um die Schulden loszuwerden wird man auch 63% der gerade zwangsverstaatlichten Beiträge aus der ehemaligen obligaten privaten Rentenversicherung verwenden. Weiterer wichtiger Punkt auf der Einnahmenseite ist die Einführung einer allgemeinen Straßennutzungsgebühr (vermutlich ab 2013) und die Ausweitung der Bankensteuer auf drei (statt bisher zwei) Jahre. Sämtliche Einnahmen aus den drei Maßnahmen sollen ausschließlich der Schuldentilgung dienen.

Anspruchszeit auf Arbeitslosengeld wird um zwei Drittel gekürzt

Die Rechnung, die die beiden Regierungsmitglieder aufmachten, beruht allerdings auf der Annahme, dass bis 2014 - vor allem durch die schon umgesetzte Steuerreform - wenigstens 300.000 neue Arbeitsplätze entstehen, andernfalls, so die Drohung, könnte man die Reduzierung der Unternehmenssteuern auch wieder rückgängig machen. Die neuen Arbeitsplätze sollen letztlich 195 Mrd. HUF Mehreinnahmen durch Steuern bzw. eingesparte Sozialunterstützung bringen. Die Zahlung des Arbeitslosengeldes wird dramatisch verkürzt, von derzeit bis zu 270 auf dann maximal noch 90 Tage.

György Matolcy, Nationalwirtschaftsminister erklärt am Dienstag die Eckpunkte des Reformpakets

Rentenanspruch nur noch bei Erreichen des gesetzlichen Rentenalters

Weiterhin soll die Möglichkeit der Frührente stark eingeschränkt werden, Renten sollen nur noch die Personen erhalten, die das gesetzliche Rentenalter erreicht haben und die Invalidenrentner stärker auf echte Bedürftigkeit kontrolliert werden. (Ungarn hat die höchste Invalidenrentnerrate der EU, bisher genügte ein leicht käufliches Attest vom Arztm nun gibt es eine staatliche Kommission.) Die neue ungarische Verfassung, die im Frühjahr verabschiedet werden und 2012 in Kraft treten soll, wird auch eine "Schuldenbremse" beinhalten, die die Verschuldung des Staates gesetzlich begrenzt.

Straßenbenutzungsgebühr & Hamburgersteuer, Krisensteuern verlängert

Über ein erweitertes, aber nicht näher spezifiziertes System "öffentlicher Arbeit" soll die Zahl derjenigen, die statliche Beihilfen ohne Arbeitsleistung erhalten, deutlich reduziert werden. Matolcsy wiederholte seine Prognose von einem dauerhaften Wachstum des Landes von 4-6% ab 2013, das "Ungarn zu einem der wettbewerbsfähigsten und für Investitionen attraktivsten Länder Europas" machen wird. Von den angekündigten 900 Milliarden Budgeplus sollen 300 Mrd. durch die o.g. zusätzlichen Einnahmen, 600 Mrd. aber durch Einsparungen generiert werden. Die Straßenbenutzungsabgabe, mutmaßlich zuerst eine Autobahnvignette, die nicht auf Zeit, sondern auf Kilometer berechnet ist, soll allein rund 180 Mrd. Forint, ca. 600 Mio EUR einbringen.

Viel Neues ab Sommer, Details fehlen aber noch

Einen ziemlich dicken Posten stellt auch die angepeilte Kappung der Arzneimittelausgaben um 83 Mrd. Forint im nächsten und weiteren 37 Mrd. Forint im übernächsten Jahr dar. Ungarn hat zwar vergleichbar sehr hohe Pro-Kopf-Ausgaben an Medikamenten, dennoch ist dieser Betrag ohne eine deutlich erhöhte Zuzahlung seitens der Patienten nicht einsparbar. Weitere Reformpunkte sind: Investitionen von fast 300 Mrd. Forint in das Gesundheitswesen und eine Umstrukturierung der Finanzierung bereits ab 1. April. Ab 1. Juli gibt es: neue Regeln für öffentliche Ausschreibungen, ein neues öffentliches Beschäftigungsgesetz, ein neues Besoldungs- und Beförderungsgesetz für den öffentlichen Dienst sowie eine neue Rentenberechnung. Die Parteienfinanzierung wird eingefroren, das Parlament verkleinert (halbiert).

Zuschüsse an MÁV und BKV werden reduziert, aber wie?

Vor einer Überholung steht auch das öffentliche Transportwesen. Eine Studie brachte ans Licht, dass 85% aller Benutzer von Bahnen, Bussen und öffentlichen Verkehrsmitteln Anspruch auf Nachlässe haben, von Schülern, über Studenten, Vielfahrer, Zonenkarten, Arbeitslosentickets, Rentner sind ohnehin frei. Das soll sich ändern. Die Zuschüsse aus dem Staatshaushalt für MÁV und BKV sollen um 45 Mrd., danach um jeweils 60 Mrd. HUF pro Jahr sinken. Wie die morschen Betriebe dies überstehen sollen, dazu wurde noch nichts gesagt. Angedacht ist auch eine weitere Erhöhung der Alkohlosteuer und die Einführung einer sogenannten "Hamburgersteuer" auf ungesunde Lebensmittel.

Frankenkurs soll "eingefroren" werden

Eine unkonventionelle Methode zur Bekämpfung der privaten Verschuldung wurde auch bekannt. So will die Regierung bis 2014 den Wechselkurs des Franken zum Forint (die meisten Kredite lauten auf Schweizer Franken) bei 190 HUF / CHF einfrieren (derzeit steht er bei um die 210). Die Differenz daraus soll dann nach Abzahlung in einen Nachfolgekredit ausgegliedert werden, so dass die Belastungen für die Schuldner berechenbar und begrenzt werden.

Märkte bleiben skeptisch: tolle Ziele, aber zuviel Ankündigung, zu wenig Details, zu optimistische Prognosen

Die ersten Reaktionen der Fachwelt waren nicht nur positiv, obwohl die angekündigten Haushaltseinsparungen größer ausfallen sollen als zunächst angekündigt. Viele Fragen bleiben jedoch offen, vor allem, ob bei der Umsetzung die genannten Zielwerte so ohne weiteres erreicht werden können. Vor allem die Zahlen, die direkt mit der Konjunktur und dem Entstehen neuer Arbeitsplätze verbunden sind, werden skeptisch betrachtet. Auch wird angemerkt, dass die schlagartige Reduzierung der Schulden durch Verlängerung von Sondersteuern und Einbeziehung von Rentenbeiträgen, keine strukturellen Reformen, sondern Einmaleffekte darstellen. Nicht gerade glücklich ist man auch damit, dass das vorliegende Dokumente zwar wieder jede Menge zahlen liefert, aber wenig Details der Umsetzung, obwohl man den Veröffentlichungstermin schon zweimal verschoben hatte.

Auf das Volk kommen zählbare Belastungen zu

Klar ist auch, dass einige Punkte auch die Bürger Geld kosten werden, das war bei dem ersten 28-Punkte-Sofort-Paket noch nicht der Fall. Damals schoss sich die Regierung vor allem auf Banken und Konzerne ein und schenkte dem Land eine Flat tax, die vor allem den etwas besser Verdienenden mehr einbringt. Nun kürzt man das Arbeitslosengeld, erhöht die Lebensarbeitszeit und verteuert Medikamente, beliebter macht sich die Regierung damit nicht. Auch bei der Rente wird wohl gespart werden müssen. Als "Geste der Solidarität mit dem Volk" reduziert sich die Regierung immerhin ihren bezahlten Urlaub...

red.

Mehr Informationen zur Wirtschaftspolitik, dem Széchenyi-Plan, dem Sofort-Programm, den Schulden und weiteren Aspekten in der WIRTSCHAFTSPOLITIK und im FINANZMARKT

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