(c) Pester Lloyd / 10 - 2011 WIRTSCHAFT
10.03.2011
Verrechnet
Ungarn will Unternehmen die Löhne diktieren
Eine Flat tax, den Fetisch des Neoliberalismus, zu benutzen, um die Planwirtschaft wieder einzuführen, dieses nationalökonomische Kunststückchen muss man erstmal
schaffen. Ungarn schafft das. Weil die Steuerreform - völlig überraschend
- untere Einkommensgruppen klar benachteiligt und sogar ärmer macht als zuvor, will die Regierung Kompensationen zahlen und Unternehmen per Gesetz zu Lohnerhöhungen
zwingen. Die Wirtschaft, so der Vorwurf, spart sich die Lohnerhöhungen auf Kosten des Staates.
“Ok, hab mich ein bisschen verrechnet, aber Du machst das schon... “
Wirtschafts- und Finanzminister György Matolcsy mit dem Parteikollegen Antal Rogán
Regierung von eigenem Dilettantimsus überrascht
Erst ab 300.000 Forint Bruttoeinkommen (ca. 1.100.- EUR) profitiert man von dem seit
Januar gültigen Einheitssteuersatz auf Einkommen von 16%. Je mehr man verdient, umso mehr spart man ein. So weit, so unsozial. Der Durchschnittslohn beträgt indes 218.000
Forint (knapp 800.-) und viele verdienen noch weit weniger, in den unteren Gehaltsschichten zahlen die Arbeitnehmer sogar drauf und haben plötzlich weniger im
Geldbeutel als zuvor, dazu braucht es nur ein paar tausend Forint mehr als den Mindestlohn. Hat man sie angeschmiert oder waren sie der Regierung einfach egal?
Außerdem verstehen offenbar viele Unternehmen die Steuerreform als eine staatlich
subventionierte Lohnerhöhung und sparen sich die nächste Lohnrunde. Dagegen geht die Regierungspartei nun genauso rigoros wie desorierntiert vor, so als sei man von der
eigenen Reform überrumpelt worden. Der Dillettantismus überrascht sogar die Regierungsvertreter selbst, wie der unsichere Auftritt des Fidesz-Abgeordneten und
Bezirksbürgermeister des V., Antal Rogán am Mittwoch zeigte, der sonst eher für knackige Ansagen bekannt ist.
Erste Bilanz: Steuerausfälle, Lohndumping, unzufriedene Unterschicht
Die neue Flat tax von 16% auf alle Einkommen beschert der Regierung im Moment eine
Menge Kopfschmerzen. Die Steuereinnahmen aus Einkommen sinken extrem, so dass das Defizit schon im Februar 80% des Jahresziels erreicht hatte. Sondersteuern und die
Rentenbeiträge müssen das Loch später stopfen, beides läuft aber in 2-3 Jahren aus. Weiteres Problem: die Unternehmer nehmen die Steuerreform dankend an, als staatlichen
Ersatz für die nächsten Lohnerhöhungen. Am Ende könnte sich herausstellen, dass man sich mit der Flat tax ein ziemliches Eigentor, ökonomisch wie sozial geschossen hat, obwohl
man durch die Vereinfachung und Absenkung eigentlich die Zahl und Motivation der Steuerzahler in Ungarn erhöhen wollte, einen neuen Deal kreieren: ihr zahlt alle weniger
Steuer, aber ihr zahlt sie alle.
Eine Kommission soll Lohnerhöhungen garantieren und Ausfälle ersetzen
Den sozialen Sprengstoff dieser “bewussten Fehlkalkulation” hat die Regierungspartei
Fidesz zuerst überhaupt nicht erkannt und versucht nun hektisch dem sich allmählich bahnbrechenden Stimmungsumschwung in der nichtprivilegierten Bevölkerung
entgegenzusteuern. Wie früher die Arbeiter- und Soldatenräte, gründet das Fidesz für jedes Problem eine Parlamentskommission, die das Volk vor Unbill "schützen" soll. So gibt
es schon eines gegen Bankenwillkür, nun gründete man selbiges gegen "Lohnschmarotzer" unter den Unternehmen, das sich gleichzeitig um Kompensation für die Lohnausfälle für
untere Einkommensschichten kümmern soll.
Wer der "Empfehlung" nicht folgt, wird von Staatsbeihilfen ausgeschlossen
Die Parole lautet: kein Ungar hat nach der Steuerreform weniger Geld als zuvor. Dafür
wurden ad hoc bereits 11 Milliarden Forint aus dem Budget beiseite gelegt, um die Verliergruppe im öffentlichen Dienst zu bedienen. Eine Hotline wurde eingerichtet, bei der
sich Betroffene melden können, binnen weniger Tage meldet das Kommittee 2.425 Fälle! Weiterhin hat man bereits mit den Chefs der großen Staatsbetriebe gesprochen, darunter
die Bahn MÁV, der Nahverkehr BKV, die Elektrizitätswerkt MVM und anderen, bei bis zu 4.000 der über 100.000 Mitarbeiter dieser Betriebe sind die Nettolöhne effektiv gesunken,
meist handelt es sich dabei um Dienstleister, die über Subunternehmen bzw. Zeitarbeitsfirmen angestellt sind, also ohnehin zu Hungerlöhnen schuften müssen. Diese
Fakten boten dem Chef des Kommittees, Antal Rogán, gleich nochmal die Möglichkeit auf die PPP-Projekte zu schimpfen.
"Wir werden arbeiten, bis sogar die Menschen ein Gehaltsplus haben, die unter 300.000
Forint im Monat verdienen und die durch die Steueränderungen negativ betroffen sind" sagte Antal Rogán am Mittwoch vor Medien, machte aber nicht den Eindruck, dass dahinter
ein längerfristiger Plan stand, eher "Trial and Error".
Unternehmen werden schon um 140 Milliarden entlastet
So richtig freuen dürfen sich die Arbeitgeber, die nun wahrscheinlich per Gesetz
vorgeschrieben bekommen, wann sie um wieviel die Gehälter ihrer Mitarbeiter zu erhöhen haben. "Die Details arbeiten wir noch aus, das wird ein bis eineinhalb Monate dauern, da
sich einige Schwierigkeiten ergeben haben", so Fidesz-Politiker Rogán ebenso bestimmt wie verunsichert. Bis zum Mai soll im öffentlichen Dienst und bei den staatlich kontrollierten
Betrieben alles geregelt sein.
Die Privatwirtschaft gedenkt er an die Empfehlungen des Nationalen Interessenrates OÉT,
einem Gremium der Sozialpartner Regierung, Arbeitgeber, Gewerkschaften zu binden. Dieses gab für 2011 eine Lohnsteigerungsempfehlung (kein Befehl) von 4-6% aus, wobei 4%
mutmaßlich gerade die Inflation ausgleichen würden. Das Fidesz will nun durchsetzen, dass Unternehmen, die sich nicht an diese total freiweillige Empfehlung halten von staatlichen
Zuschüssen für Investitionen, möglicherweise sogar vom Zugang zu Ausschreibungen ausgeschlossen werden. Ein Gesetz dafür sei in Vorbereitung. Und Rogán hat ein nicht so
schlechtes Argument bei der Hand, denn immerhin sinken neben der Einkommens- auch die Unternehmenssteuern, rund 140 Milliarden Forint, ca. 500 Mio EUR weniger müssen Firmen
in diesem Jahr weniger an Gewinnen an den Staat abführen (wenn sie nicht gerade von Sondersteuern belastet werden, die als negativer Umsatz, nicht als Steuern abgerechnet werden).
Wirtschaft: Wo ist die Rechtsgrundlage? Fidesz: Wir sind die Rechtsgrundlage.
Die Arbeitgebervertreter sind entsprechend entsetzt. Nie wäre man dort darauf
gekommen, dass man ausgerechnet eine Flat tax, einen Fetisch der Neoliberalen als Hebel einsetzen könnte, um die Planwirtschaft wieder einzuführen. Die mächtigste
Arbeitgebervereinigung VOSZ versteht nicht ganz auf "welcher rechtlichen Grundlage die Regierung die OÉT-Empfehlungen" durchsetzen will, das das Gesetz doch sagt, diese seien
freiweillig, so Generalsekretär Ferenc Dávid. Der Mann muss die letzten Monate abwesend gewesen sein. Die rechtliche Grundlage schafft sich das Fidesz einfach selbst und redet
dabei grundsätzlich auch nicht mit den Betroffenen.
Dávid mahnt die Freiheit der Wirtschaft, sozusagen die Tarifautonomie an. Treibt man die
Unternehmen derart in die Enge, würde das letztlich zu Entlassungen führen, kommt das gute alte Totschlagargument bald. Das böse Gegeneinander von Staat und Wirtschaft,
Wirtschaft und Bürgern, Bürgern und Staat konnte bisher auch die ausgerufene "Nationale Kooperation" nicht beenden, wie es aussieht, wird es sich sogar wieder vertiefen.
red.
Bluff, Verbrechen, Segen? - 18. Okt. 2010
Debatte um die neue Einkommenssteuer in Ungarn
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