(c) Pester Lloyd / 11 - 2011 GESELLSCHAFT
16.03.2011
KOMMENTARE
Patria divisa
Nationalfeiertag in Ungarn: der amtierende Ratspräsident wettert gegen die EU
Es ist lange her, dass die Ungarn den Nationalfeiertag des 15. März gemeinsam begingen. Seit Jahren dient er den politischen Akteuren als öffentlicher Rahmen für
Selbstdarstellungen und die Austragung parteipolitischer Ringkämpfe, bei denen jede Partei auf ihre Weise das Recht auf das Erbe des Kampfes gegen Fremdherrschaft und
für bürgerliche Freiheiten einfordert. So war es auch in diesem Jahr. Das Land ist geteilt und wird geteilt, wo es gerade jetzt geeint sein müsste.
Orbán: “Ungarn haben mehr als alle anderen für die Freiheit gekämpft”
Ministerpräsident Viktor Orbán hielt auf den Treppen des Nationalmuseums, das bei der
heute gefeierten 1848er Revolution als freies Parlament diente, vor einigen Tausend begeistert jubelnden Anhängern, eine seiner pathetischen Reden, in denen er das Erbe der
damaligen Zeit für seine Partei beanspruchte. Er stellte eine Parallelle zwischen Damals und Heute her, in dem er sagte, dass sich die Ungarn damals geweigert hätten weiter "als
Sklaven fremder Mächte" zu leben. Genauso müssten sie sich heute von fremdem Einfluss befreien, einschließlich ausländischer Waren (!), die Chance sei selten günstig, die
Unabhängigkeit Ungarns wiederherzustellen.
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Er schoss sich ein weiteres Mal auf die EU ein, immerhin der Staatenbund, dem Ungarn
freiwillig selbst angehört und der das Land in der Finanzkrise vor der Pleite rettete: "Brüssel kann uns nichts diktieren" sagte er vor der johlenden Menge. Er beschuldigte
wiederum die Sozialisten, das Land in den Dreck gefahren zu haben und verurteilte die "konzertierte Kampagne" gegen Ungarn am Beginn der Ratspräsidentschaft und forderte
den gehörigen Respekt ein. Ungarn sei das Land, das "mehr als alle anderen für Freiheit
und Unabhängigkeit" kämpfen musste, daher lasse man sich von Brüssel "oder Sonstwem" sicher nichts vorschreiben, so der Ministerpräsident, der gerade die EU-Ratspräsidentschaft
inne hat. Unter mehreren "Vorwärts, Ungarn!"-Rufen ging die Rede im anhaltenden Jubel der Fidesz-Anhänger zu Ende.
Mesterházy: Verfassungsreform ist ein “konstitutioneller Putsch”
Vor dem Café Pilvax, bei dem die
revolutionäre Bewegung damals ihren Ausgang nahm, versammelten sich die Anhänger der Sozialisten. MSZP-Parteichef Attila Mesterházy nannte den aktuellen Entwurf der
Regierungsparteien für eine neue Verfassung und das Verfahren dazu einen "konstitutionellen Putsch" (dazu mehr in diesem Beitrag) und
erinnerte, dass 1848 nicht nur für den Kampf gegen Habsburg steht, sondern auch für das Ringen um bürgerliche Freiheiten und Menschenrechte. In diesem Sinne beanspruchen auch die
Sozialisten diesen Tag, da sie genau diese Rechte und Freiheiten heute gefährdet sehen, freilich ohne zu erkennen, dass sie selbst einen Großteil zur heutigen Situation mit
beigetragen haben. Mesterházy forderte “eine breite Mehrheit der Demokraten” in Ungarn auf, sich gegen den derzeitigen “Angriff auf die Republik” zu wehren, wie es auch
Parteikollege und Ex-Premier Gyurcsány tags zuvor ausdrückte.
Unterstützung kam in Person des deutschen Sozialdemokraten Martin Schulz, Fraktionschef
der Sozialisten im Europäischen Parlament, der nochmals klarstellte, dass eine Kritik an einem schlechten Gesetz (Mediengesetz), keine Kritik an den Menschen eines Landes
darstellt. Niemand käme auf die Idee, eine Kritik an Kanzlerin Merkel als einen "Angriff auf das deutsche Volk" zu interpretieren, wie das Premier Orbán in Bezug auf Ungarn getan
hatte.
Grüne: AKW Paks muss auf den Prüfstand
Die grün-liberale Partei LMP nutzte den Dienstag, um, angesichts der Katastrophe in
Japan, eine Überprüfung der Sicherheitsstandards für das ungarische Atomkraftwerk in Paks zu fordern. Die Sicherheit, so zeigen es die Ereignisse, müsse über
energiestrategische und wirtschaftliche Überlegungen gestellt werden. Daher müsse auch die gefallene Entscheidung über die Laufzeitverlängerung um weitere 20 Jahre für die alten
Blöcke und den Ausbau um zwei weitere Blöcke erneut auf den Prüfstand. Hier unser ausführlicher Beitrag zu dieser Thematik.
Größte Demo gegen Mediengesetz
Ebenfalls am Nationalfeiertag am
Dienstag, fand die bisher größte Demonstration gegen das Mediengesetz, aber auch andere autoritäre Tendenzen in Ungarn statt. Deutlich mehr als zehntausend Menschen (offiziöse
Nachrichtenagentur MTI), die Organisatoren sprechen sogar von bis zu 50.000 (was leicht übertrieben scheint), trafen sich an der Elisabeth-Brücke im
Stadtzentrum und bildeten bis zum Ferenciek tere dichte Reihen. Organisiert wurde die Veranstaltung von Zivilorganisationen, Facebook-Initiativen und Berufsverbänden der
Medienarbeiter. Grundaussage war, dass die von der Regierung auf "Druck" der EU-Kommission umgesetzten Änderungen am Gesetz nicht ausreichen, um es europäischen
Standards anzupassen und die Meinungsfreiheit und Medienvielfalt nicht nur zu gewähren, sondern auch zu garantieren. Es wird weiter eine komplette Neufassung gefordert.
Weiterhin wurde von Rednern darauf hingewiesen, dass viele demokratische Institutionen der Republik angegriffen
werden, auch hier fehlten die Hinweise auf das Erbe von 1848/49 nicht. Die Polizei bestätigte, dass die Demo friedlich verlief und ordnungsgemäß abgehalten wurde. Es war
auch die einzige Demo, die ohne Transparente und parteipolitische Parolen auskam
Auch die neofaschsitische Jobbik hielt eine öffentliche Kundgebung ab, deren
menschenverachtende Inhalte sind hinlänglich bekannt.
“Großer Kossuthpreis” seit fast fünfzig Jahren wieder vergeben
Bereits am Montag verlieh der ungarische Staatspräsident Pál Schmitt die höchsten
Auszeichnungen für die Bereiche Kunst und Kultur sowie Wissenschaft, die Kossuth- und Széchenyi-Preise. Schmitt überreichte dabei - erstmals seit 1963 - wieder einen "Großen
Kossuthpreis" und zwar an den Filmemacher und -produzenten István Nemeskürty für sein
"Lebenswerk". Der 86jährige ist vor allem für sein Wert "Requiem für eine Armee" (1972) bekannt geworden als er den Untergang der zweiten ungarischen Armee 1943 am Don
thematisierte, was zu Kádárzeiten ein Tabuthema war. Heute werden die "Leistungen" der Soldaten als Heldentum verehrt, bei weitem nicht nur durch die Rechte im Land.
Nemeskürty war u.a. auch Regierungsbeauftragter der ersten Fidesz-Regierung für die Milleniumsfeiern 1999/2000, besitzt ein Filmstudio (Dee Kreuzritter etc.).
Mehr dazu: Heldentod für Hitler? - Januar 2010
Ein Kuhhandel Horthys führte zum "Stalingrad der Ungarn" Verteidigungsministerium spricht heute noch von Heldentod http://www.pesterlloyd.net/2010_03/0367jahredon/0367jahredon.html
Ebenfalls ein "Großer" Széchenyi-Preis ging an den ungarischstämmigen US-Forscher Georg
Olah, der 1994 den Nobelpreis für Cheme erhielt. Weitere Kossuth-Preisträger sind u.a. der Dirigent an der Staatsoper Ádám Medveczky, die Schauspielerin Anna Kubik, der
Volkskünstler András Berecz, der Schriftsteller Gábor Czakó, László Földes von der Hobo Blues Band, die hungaroschweizerische Schrifstellerin Agota Kristof sowie eine
slowako-ungarische Musikgruppe und rund ein Dutzend weitere.
red.
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