(c) Pester Lloyd / 11 - 2011
POLITIK 13.03.2011
Machiavellis Albtraum
Ungarn erklärt, was Europa von Libyen wirklich hält
Ministerpräsident Viktor Orbán offenbarte, was hinter den "Ergebnissen" des EU-Sondergipfels steckt: das christliche Europa hat im muslimischen Nordafrika nichts
verloren und der Schutz der EU vor Flüchtlingen ist wichtiger als der Schutz der Zivilbevölkerung in Libyen. Auch wenn die offizielle Erklärung des EU-Rates
emphatischer und martialischer klingt, dürfte Orbáns Sicht den Unwillen der meisten Regierungschef spiegeln, sich für eine vage Demokratiebewegung, die
möglicherweise im Islamismus endet, auf ein militärisches "Abenteuer" einzulassen.
Neue Kommentarfunktion am Ende des Textes
Der zweitweise und der ständige Ratspräsident der EU,
Viktor Orbán und Herman Van Rompuy am Freitag in Brüssel
Am 11. März trafen sich in Brüssel die Regierungschef der EU-Staaten zu einem
außerordentlichen Gipfel. Der Europäische Rat hat dabei einen Beschluss verabschiedet, der besagt, dass die Mitgliedsstaaten der EU im Interesse des Schutzes der libyschen
Zivilbevölkerung „alle Optionen erwägen werden“. „Die Voraussetzung dafür ist, dass die Notwendigkeit des Eingriffs erwiesen, eine klare rechtliche Grundlage (Un-Mandat und
Zustimmung der Arabischen Liga, Anm.) und die Unterstützung von Seiten der Region (Gegenregierung, Anm.) vorhanden ist“.
Ministerpräsident Viktor Orbán begrüßte als Vertreter der ungarischen
EU-Ratspräsidentschaft die „vorsichtigen“ Beschlüsse und mahnte zugleich - abweichend vom Text - an, dass sich "die Europäische Union aller Operationen militärischer Art
enthalten muss, die zum Verlust des Vertrauens der arabischen Völker führen können." Das Dokument besagt indes, dass „Gaddafi sofort zurücktreten muss, sein Regime jede
Legitimität verloren hat und er für die EU kein Verhandlungspartner mehr ist”, so Herman von Rompuy der ständige Ratsvorsitzende der EU. Doch Orbán sieht die "Nichteinmischung"
als Gebot der Stunde, auch wenn damit klar ist, dass dies einen langen, leidensvollen Bürgerkrieg bedeuten wird, weitere Verbrechen gegen die Zivilbevölkerung seitens des
Gaddafi-Regimes ermöglicht und die militärische Niederlage der Oppositionskräfte beschleunigen wird. Letztlich agiert Orbán heute so, wie die Welt 1956 mit dem
Volksaufstand Ungarn umgegangen war...
Orbán: Araber sollen ihre Probleme selber klären
In einer Erklärung vor der Presse konstatierte Orbán „lange und erschöpfende Diskussion”
bewältigt zu haben, doch sei es gelungen, "einen einheitlichen Standpunkt herauszubilden,
„den wir als Minimum betrachten, worin sich alle einig sind (…), aber es sind natürlich auch Differenzen bestehen geblieben”, womit vor allem den französischen Standpunkt meinte.
Präsident Sarkozy hatte zuvor gezielte Militäroperationen gegen Gadaffis Truppen gefordert. Der Standpunkt der Ungarn deckt sich im wesentlichen mit dem der Deutschen,
dass „nichts geschehen darf, was Europa in einen Krieg mit den arabischen Ländern treiben würde“, so Orbán.
Er nannte die Geschehnisse in Nordafrika „eine ernste Herausforderung für Europa“ und
wies auf die Gefahr hin, "dass der auf Europa lastende Migrationsdruck ansteigen kann." „Wird die südlich von uns gelegene Welt demokratischer werden, wird die Flüchtlingswelle
anhalten, und werden die arabischen Länder dazu imstande sein, ihre eigenen Söhne zu Hause, in ihrer Heimat zu behalten?”, fragte der Ministerpräsident. Andererseits erinnerte
er daran, dass „allein die Araber über das Schicksal der arabischen Welt zu entscheiden haben. Wir können ihnen an ihrer statt nicht sagen, wie sie leben sollen“.
Machtzirkel und Rudelbildung: Deutschland, Tschechien, Griechenland
und Ungarn schauen zum Rest des Kontinents hinüber
“Die christliche Welt, das heißt Europa...”
Ein unterstützender Satz für die oppositionellen Kräfte in Libyen fehlt in Orbáns Erklärung,
die auf der offiziellen Webseite der ungarischen EU-Ratspräsidentschaft veröffentlich wurde, völlig, ebenso die Bekräftigung, dass Gaddafis Legitimität beendet ist, wie sie von
anderen EU-Politikern gekommen ist. Stattdessen artikuliert sich große Angst: „Man muss mit allen Bewegungen, ja, sogar Sätzen, die die Araber so auffassen können, dass die
christliche Welt, das heißt Europa, sich in irgendeiner Form einmischen will und auch vor militärischen Mitteln nicht zurückschrecken würde, sehr vorsichtig sein“, mahnte Viktor
Orbán. Er erklärte, dass „es eine große Diskussion zwischen dem vorsichtigeren und dem weniger vorsichtigen Wortlaut des verabschiedeten Beschluss gegeben hat“.
Barroso & Van Rompuy: Starke Worte, aber nichts dahinter...
Nach dem EU-Gipfel zum Thema Libyen drängte José Manuel Barroso, der Präsident de
Europäischen Kommission, auf den Abgang von Gaddafi. „Das Problem heißt: Gaddafi. Und Gaddafi muss gehen.“, sagte José Manuel Barroso auf seiner gemeinsam mit Herman Van
Rompuy, dem Präsidenten des Europäischen Rates, abgehaltenen Brüsseler Pressekonferenz. Herman Van Rompuy hob hervor: Allein die Tatsache, dass die Staats-
bzw. Regierungsoberhäupter der Europäischen Unionzu diesem Gipfel zum Thema Libyen gekommen sind, sei ein starkes Signal. Ähnliche Ereignisse habe es bisher nur dreimal
gegeben: in der Zeit des Krieges in Georgien bzw. während des Irak-Krieges sowie nach dem Terrorangriff am 11. September 2001. Der geneigte Leser mag selbst einschätzen,
welchen Einfluss diese Sondergipfel auf den Lauf der dortigen Dinge gehabt hatten.
„Das libysche Regime wendet gegen sein eigenes Volk Gewalt an. Die Verantwortlichen
können mit schweren Folgen rechnen”, mahnte Herman Van Rompuy in einem ganz anderen Ton als sein temporärer Kollege. Der Europäische Rat habe den in Bengasi
gebildeten provisorischen Übergangsrat als politischen Verhandlungspartner anerkannt, da er die Körperschaft für „ausreichend zuverlässig“ halte, fügte er hinzu. Die Staats- bzw.
Regierungsoberhäupter der Europäischen Unionbeurteilen die an der libyschen Grenze entstandene humanitäre Lage als bedenklich, und sie wenden sich in diesem
Zusammenhang an den Rat für Justiz und Inneres, „sofort eine Sitzung einzuberufen“, und weiterhin für das Gipfeltreffen im Juni in Zusammenarbeit mit der Kommission einen Plan
zur Handhabung und Bewältigung des Flüchtlingsstroms auszuarbeiten. Im Juni!
Eine ermächtigende UN-Resolution ist unwahrscheinlich, die EU damit “fein raus”
Während eine Gruppe, angeführt von den Franzosen, kein Problem mit proaktiven und
entsprechend riskanten Maßnahmen hat, um Veränderungen in ihrem Sinne herbeizuzwingen (nicht in erster Linie aus Menschenfreundlichkeit, sondern
Interessenpolitik), bevorzugt eine andere, Deutschland und Ungarn eingeschlossen, das Prinzip der "Nichteinmischung", hinter dem sich jedoch auch eine gehörige Portion
Machiavellismus offenbart: Ein Herrscher hat für andere Herrscher immer schon Legitimität, allein weil er herrscht, Königsmorde sieht man in den Machtzirkeln in Brüssel
und Washington, erst recht in Peking und Moskau generell nicht so gern, weil das zu grundlegende Fragen aufwerfen könnte. Daher wird es auch keine ermächtigende
UN-Resolution geben, und die EU ist “fein raus”.
Machiavellismus im Mantel der Besonnenheit
Außenminister János Martonyi bewertete beim Außenministertreffen in Budapest am Freitag die
Entwicklungen in Marokko als positiv und beispielgebend. Dort hatte König Mohammed VI. "Verfassungsreformen" angekündigt, "einschließlich der Ausweitung kollektiver und
individueller Rechte und einer Stärkung der politischen Parteien und lokalen Verwaltungen". Damit soll verdeutlicht werden, dass man lieber zu Despoten steht, wenn sie sich eine
demokratische Maske verpassen als schwer einzuschätzende Demokratiebewegungen zu unterstützen, die möglicherweise im Islamismus enden, auch wenn diese Einschätzung
zahllose Menschenleben kostet. Dass sich die Umstürze in der Region gar nicht mehr aufhalten lassen, unabhängig davon, was am Ende dabei herauskommt, erkennt man im
verängstigten Europa nicht und gibt damit jede Möglichkeit der Einflussnahme aus der Hand.
red. / M.S.
Sie möchten den PESTER LLOYD unterstützen?
Hinweis: diese neue Kommentarfunktion dient dazu, eine sachbezogene Debatte zu den einzelnen
Themen der Beiträge zu ermöglichen. Bei Eingabe wird eine Email abgefragt. Diese wird NICHT
veröffentlicht und dient nur zur Verifizierung. Die Freischaltung erfolgt manuell durch die Redaktion, um
Missbrauch zu vermeiden. Für allgemeine Meinungsäußerungen steht Ihnen weiterhin unser GÄSTEBUCH zur Verfügung.
|