(c) Pester Lloyd / 11 - 2011 GESELLSCHAFT 18.03.2011
KOMMENTARE
„Ich wünsche euch ein Leben ohne Angst“
Ungarische Zeitzeugin berichtet in Deutscher Schule Budapest vom Holocaust
Éva Pusztai, die 1944 als Achtzehnjährige von Debrecen nach Auschwitz-Birkenau deportiert worden war, erzählte am Donnerstag, 17. März, im Thomas
Mann-Gymnasium in Budapest SchülerInnen der 9. und 10. Klassen von ihrem Leben und Leiden vor, während und nach dem Holocaust. Zwei berührende
Geschichtsstunden, die geradezu nach einer Fortsetzung und Vertiefung mit dem Blick aufs Heute rufen.
Éva Pusztai zu Besuch in der Deutschen Schule Budapest,
Fotos: Stefan Osnowski/Deutsche Schule Budapest
Darüber zu sprechen und zu mahnen, dass Menschen zu den schlimmsten Dingen fähig
seien, bleibe nach wie vor wichtig, gerade in Ungarn, wenngleich sie derartige Veranstaltungen bisher häufiger in Deutschland als in Ungarn abgehalten hat, was ein sehr
dezenter, aber nicht uninteressanter Hinweis auf die Situation im Lande war. Frank Jung, Leiter des Fachbereichs Geschichte und mit Dr. Anat Kálmán Moderator der Veranstaltung,
eröffnete indes mit der Frage, wie die ungarischen Juden die Entwicklungen in Deutschland verfolgt und ab wann sie diese als Bedrohung empfunden hätten.
Noch bis 1940 fühlten sich viele Juden als “enthusiastische Ungarn”
Éva Pusztai räumte ein, dass sie selbst erst sehr spät von den Geschehnissen in Deutschland
und ihren Auswirkungen auf Ungarn erfahren habe. Für das Verständnis des ungarischen Kontexts sei es aber wichtig, zu betonen, dass Ungarn der fragwürdige Ruhm zukomme,
1920 als eines der ersten Länder in der Moderne ein gegen Juden gerichtetes Gesetz eingeführt zu haben, die Numerus clausus-Regelung zur Einschränkung der Zahl der Juden
an Hochschulen. Juden hatten zuvor im Rahmen der Revolution von 1848 die vollständigen Bürgerrechte erhalten und die meisten fühlten sich noch in den 1940er Jahren
„enthusiastisch als Ungarn“. Dies galt auch für ihre Familie, die über Verwandtschaftsbeziehungen in alle Gebiete Großungarns verfügte und neben Ungarisch auch Deutsch und Slowakisch sprach.
In einem “Ei” aufgewachsen
Pusztai besuchte eine Klosterschule, die die Judengesetze zunächst ignorierte und an der es
keine Unterscheidung zwischen Schülerinnen jüdischer oder nicht-jüdischer Herkunft gab. Dort erfuhr sie allerdings auch nichts von den Ereignissen in Deutschland und den besetzten
Gebieten und hielt sich später vor, als sie nach Ende des Kriegs gleichaltrige Holocaust-Überlebende traf, wie diese so viel für ihre Familie hätte tun können (wie das
rechtzeitige Organisieren von Verstecken), wenn sie von Anfang an gewusst hätte, was in der Welt geschah. Dankbar für den Halt und die moralische Prägung, die sie von ihren
Eltern erfahren hätte, stellte sie fest, dass diese sie „in einem Ei“ aufwachsen ließen.
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Am 19.03.1944 überfiel die Wehrmacht Ungarn, zwei Tage später wachte die Familie
durch heftiges Klingeln an der Tür auf. Die deutschen Soldaten forderten zunächst nur die Übergabe des Hauses und den Umzug der Familie in das Ghetto. Pusztai erinnert sich, dass
die ungarischen Behörden es sehr eilig hatten, die Juden „loszuwerden“, in 51 Tagen wurden im gesamten Land über 430.000 Juden in Ziegelfabriken gesammelt und nach
Auschwitz-Birkenau deportiert. Wichtig zu betonen sei auch, dass es viele nicht-jüdische Ungarn aus allen Schichten der Gesellschaft gab, die den bedrohten Juden halfen, indem sie
ihnen gefälschte Ausweise besorgten oder sie versteckten; die Mehrheit der Bevölkerung war allerdings nicht so gesonnen und durch die antijüdischen Gesetze und Propaganda
vorbereitet, die Enteignungen und Deportationen gut zu heißen oder zu ignorieren.
Alles was man liebt, ist für immer fort
In drastischen Worten erzählte Pusztai von der dreitägigen Fahrt nach Auschwitz, die sie
mit 80 Personen in einem Viehwagon unter der Junisonne zurücklegen musste, in dem es kaum Platz und nur einen Kübel als Toilettenersatz für alle gab, und die Leiche eines
während der Fahrt verstorbenen Mannes zunächst zwischen den Lebenden blieb.
Die Ankunft im Konzentrationslager erlebte sie nicht bewusst mit, plötzlich stand sie
getrennt von den Eltern und der jüngeren Schwester, die wenig später getötet werden sollten, in der Gruppe der Frauen, die als prinzipiell tauglich für Experimente und ähnliches
eingestuft worden waren.
Zur Veranschaulichung ihres Gefühls in dieser Situation erklärte Pusztai den SchülerInnen,
sich vorzustellen, alle für sie wichtigen Personen und Gegenstände auf ein großes Blatt Papier zu schreiben. Dieses werde dann in einer Sekunde zerrissen und alle, die darauf
standen, seien für immer fort.
Das Überleben in Auschwitz-Birkenau war geprägt von dem Zwang, auf dem Boden in
teilweise nicht fertiggestellten Baracken, in die es hineinregnete, zu schlafen, wenig Trinkwasser und „entsetzlicher Nahrung“, vom Hochbetrieb der Krematorien verrauchter
Luft und vor allem der Gewissheit, jederzeit getötet werden zu können. Am wahrscheinlichsten, dem zu entkommen, erschien es, für die Verlegung in eine Fabrik in
Deutschland ausgewählt zu werden, wo in den letzten Kriegsjahren ein Mangel an Arbeitskräften für die Rüstungsindustrie herrschte.
Es gab Menschen, die halfen
Pusztai wurde nach sechs Wochen in eine Granatenfabrik im hessischen Allendorf geschickt.
Giftigen Stoffen wie Salpeter schutzlos ausgeliefert, verfärbten sich die Haare der ZwangsarbeiterInnen in Lila-, die Haut in Gelbtöne. Wenn sie morgens zur Fabrik geleitet
wurden, riefen die Anwohner (die sehr wohl vom Schicksal der Gefangenen wussten) oft „Da kommen ja die Zitronen“. Unter den Anwohnern gab es aber ebenfalls Menschen, die
versuchten, das Leben der Gefangenen etwas erträglicher zu machen, beispielsweise ließ die Frau des Vorarbeiters diesen heimlich Nüsse und Äpfel für die Juden mitbringen, beide
hätten dafür schwer bestraft werden können.
„Wir waren keine Helden“ erklärte Pusztai, da sie und die anderen jüdischen Gefangenen
sich nicht trauten, im großen Maße zu sabotieren (ob gelegentliches heimliches Werfen kleiner Gegenstände in die Salpetermischung wirklich etwas bewirkte, wussten sie nicht);
dagegen sabotierten die russischen Gefangenen mit allen Mitteln unter Risiko ihrer Leben.
“Entschädigungen” zunächst nur für Westeuropäer
Auf die Frage, ob sie später von der BRD Entschädigung erhalten habe, erwiderte Pusztai,
der Verlust der Familie könne nicht entschädigt werden. Jede und jeder Überlebende komme mehrmals im Leben an Punkt, sich die Frage zu stellen, warum gerade sie oder er
überlebt habe. Aus ihrer Familie waren alle umgekommen bis auf eine Tante, die sich nahm nach der Rückkehr nach Ungarn das Leben nahm. Das Bundesentschädigungsgesetz
wies ohnehin den problematischen Aspekt auf, dass im Rahmen des Kalten Kriegs zuerst nur Überlebende aus Ländern in Westeuropa Gelder erhielten; und erst in den 2000ern auch
Menschen aus Osteuropa, wenngleich sich dann bereits weitaus weniger noch am Leben befanden.
Die Rückkehr nach Ungarn
gestaltete sich nicht einfach, der US-amerikanische Militärgouverneur Hessens wollte sie zuerst nicht nach Ungarn zurücklassen („da sind die Kommunisten“), sie und andere
waren aber erfüllt von der Hoffnung, dass doch noch jemand daheim sein müsste. In die USA oder ab 1948 nach Israel zu gehen, kam für Pusztai nie in Frage, die ihre „Wurzeln tief in Ungarn“
verankert beschreibt. Das Haus ihrer Familie, das sie am 04.November 1945 wieder erreichte, bewohnten inzwischen andere Personen, die sie wegschickten.
Menschlichkeit geht auch ohne Glauben
Die SchülerInnen fragten auch nach Verlust oder Festigung Ihres Glaubens in den
Geschehnissen. So sehr sie es als wichtig erachtet, einen Glauben als Stütze zu haben, hatte sie nach dem Krieg zunächst keinen mehr. Sie lebt heute im Glauben, selbst ein
guter Mensch geblieben zu sein und ihr Leben lang bemüht gewesen, keinem anderen Menschen bewusst Leid zuzufügen, da sie weiß, was Erniedrigung und der Verlust der
Menschenwürde bedeuten können – diese Haltung sei aber auch ohne Glauben erreichbar. Nach dem Krieg habe sie sich für mehrere Jahre geweigert, Deutsch zu sprechen und lebte
im Bewusstsein, dass viele (Mit)Täter nicht verurteilt worden waren und ihr auf der Straße begegnen konnten.
Heutigen Kindern wünsche sie ein Leben, in dem keine Angst zu haben sei („gottlob könnt
ihr das nicht begreifen“); und die Einrichtung einer Gesellschaft, die selbst das Wort „Angst“ nicht mehr kenne.
Die “bourgeoise Kommunistin”
Sie räumte ein, für das Leben in Ungarn ab 1945 einen neuen Glauben gesucht und ihn bei
„Genosse Marx“ gefunden zu haben. Das Ziel, dass alle Menschen glücklich und frei leben sollten, ließ es zunächst keine „stärker begeisterte Kommunistin auf der ganzen Welt“ als
sie geben. Die ungarische Realität führte jedoch schrittweise zu einer Desillusionierung gegenüber der Marx-Interpretation der Partei, wobei sie Marx’ Theorie nach wie vor für
richtig und wichtig erachtet. Nach der gescheiterten Revolution 1956 wurde sie für „bourgeois“ erklärt und musste zur Hilfsarbeiterin im Bauwesen umschulen.
Die letzte Frage richtete sich danach, warum sie erst 2004 angefangen hatte, zu sprechen.
Sie habe die Geschichte lange „zu sehr im Nacken“ gespürt, der Besuch Auschwitz-Birkenaus am 01.07.2004 (60 Jahre nach ihrer Ankunft dort) führte zur
Entwicklung eines Bewusstseins, dass sie, wenn sie noch etwas bewirken will, es aufgrund ihres Alters sobald wie möglich tun sollte. Seitdem widmet sie sich aktiv der
Erinnerungsarbeit, ermutigt dadurch, dass Menschen ihr zuhörten. Wenn diese auch nur wenige Sätze erinnern würden, die sie ihnen sagte, habe sie den Eindruck, etwas Gutes damit getan zu haben.
Fortsetzung erwünscht: den Blick für das Heute schärfen
Die aktuelle Situation in Ungarn spielte bei der Veranstaltung keine vordergründe Rolle. Es ist aber
wichtig, die Mechanismen, die zu diesen historischen Gewaltexzessen stehen und die durch das indivduell Erlebte so sichtbar werden, zu verstehen, um die richtigen Lehren daraus zu
ziehen und den Blick für die Zukunft zu schärfen. Das könnte eine Anregung für die Deutsche Schule Budapest sein, solch lobenswerte Veranstaltungen fortzusetzen, auch über
diese berührende, lebendige Geschichtsstunde hinaus. In diesem Bereich gibt es keine Pflicht und auch kein Recht auf Nichteinmischung beim Gastland. Aktuelle Themen, die sich
dafür eignen, gibt es ja leider zur Genüge, wie man den nebenstehenden Links entnehmen kann.
Ein Buch zu verfassen, lehnte sie zuerst unter Verweis darauf ab, dass es „schon 2065
Autobiographien“ gebe, als sie doch eines schrieb, war die erste Auflage in Ungarn in kurzer Zeit ausverkauft. Am 23. Juni wird sie in Berlin die deutsche Erstübersetzung vorstellen.
Eine ausführliche Linksammlung mit relevanten Beiträgen finden Sie in der rechten Spalte.
Simon Rahdes
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