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(c) Pester Lloyd / 14 - 2011  POLITIK 04.04.2011

KOMMENTARE

Nationale Brutstätte

Ungarn will Bevölkerungsprobleme ohne Einwanderung lösen

In den ersten Apriltagen trafen sich im Königlichen Schloss zu Gödöllö bei Budapest die EU-Minister für Familien- und Bevölkerungspolitik. Den Schwerpunkt des "informellen Ratstreffens" bildeten die "demographischen Herausforderungen" und die Frage, wie Familie, Kinder und Beruf besser vereinbart werden könnten, auf das mehr kleine Europäer unseren Wohlstand sichern mögen. Ministerpräsident Orbán eröffnete als EU-Ratspräsident persönlich und behauptete, das Problem "darf nicht durch Einwanderung" gelöst werden. Warum, sagte er nicht. Ein Blick in sein Land erklärt es uns.

Premier Orbán beim Familiengipfel am Freitag, neben ihm Miklós Rétheyli, Minister für “Nationale Ressourcen”, bei dem Arbeit, Soziales, Familie, Kultur, Bildung zusammengefasst wurde. Fotos: MEH

Ungarische Version vom "Untergang des Abendlandes"

Zunächst einige Kernsätze aus der Eröffnungsrede des Ministerpräsidenten: Europa läuft Gefahr „im demographischen Wettbewerb der großen Zivilisationen” zu unterliegen, dabei, so Orbán, "darf die EU ihre Zukunft nicht auf die Einwanderung bauen." Daher solle die Gemeinschaft "die demografische Entwicklung umkehren, um ihre internationale Wettbewerbsfähigkeit zu bewahren“. Orbán forderte den "Abbau von Hindernissen", die Familien davon abhalten, mehr Kinder zu bekommen. „Es muss Gleichgewicht zwischen der Familie und der wertschöpfenden Arbeit geschaffen werden”.

Die Regierungen sollten dem Einzelnen keine bestimmte Lebensform aufzwingen, sondern es ermöglichen, dass Eltern ohne Gefahr der Verarmung zwischen der Kindererziehung und dem Zugang zur Beschäftigung wählen können, meinte Orbán weiter. Die Wettbewerbsfähigkeit sei "nämlich umsonst, wenn keine arbeitsfähigen Bürger mehr vorhanden sind", „die erste Voraussetzung für die Wettbewerbsfähigkeit ist, dass es Menschen gibt, die die in besserer Verfassung befindlichen Zivilisationen erfolgreich zum Wettbewerb herausfordern können”. „Die EU darf ihre Zukunft nicht auf die Einwanderung anstelle der Familien bauen”. Für die langfristig ausgewogene Funktion der Gesellschaft sei es wichtig, dass sie sich ohne Hilfe von außen reproduziere.

Ungarns Existenz ist selbst auf Einwanderung begründet

Womit diese Lehrsätze begründbar sind, zumal in einem Europa, das durch Wanderungen (Aus-, wie Ein-) entstanden ist, (wobei "die Ungarn" quasi als Nachzügler erst vor gut 1000 Jahren hier einritten), konnte er nicht sagen, doch die Angst vor dem Untergang des Ungarn an sich, ist im Lande derzeit keine Randerscheinung, sondern ein zentrales Element der öffentlichen Debatte über die Zukunft des Landes. Der Humbug von der sich selbst reproduzierenden Gesellschaft wird ja u.a. durch die USA, Kanada, Neuseeland, Australien, aber auch die Geschichte Ungarns, um nur einige Beispiele zu nennen, widerlegt.

Geführt wird diese Debatte jedoch derzeit immer intensiver und nicht selten mit dem Hinweis auf die fremden Elemente, die das Ungarntum bedrängen, materiell (Juden), demographisch (Roma) und ideell (Schwule, Linke etc.). Es ist nur die ungarische Variante der westlichen Angstdebatte über die Islamisierung samt gleichzeitigem Untergang des Abendlandes, mit dem Unterschied jedoch, dass die Sarrazinen dieses Land bereits erobert haben, die Lehre von der unterschiedlichen Wertigkeit von Leben ist, z.B. gegenüber den Roma, gelebte Praxis, sie sind pathologisch schmarotzend, so der Konsens des "guten Ungarn".

Der Familiengipfel im Königlichen Schloss von Gödöllö

Nicht weniger Menschen, sondern mehr Rentner sind das Problem

Dabei handelt es sich bei den demographischen Problemen natürlich um solche, die ganz praktische Auswirkungen auf Ökonomie und Sozialstaat haben, umso wichtiger wäre hier eine ideologieärmere Vorstellung, statt einem Aufruf zur personellen Aufrüstung im als unvermeidlich charakterisierten Kulturkampf.

Dazu ein statistischer Exkurs: Die Bevölkerung wird älter und weniger. Orbán erkennt zusätzlich die unterschiedlichen Beschäftigungsraten von 65 Prozent in der Europäischen Union (Ungarn 55%) der von 75 Prozent in den USA und 85 Prozent in China gegenüber als Problem (ein Vergleich, der aufgrund von extrem unterschiedlichen Produktivitätswerten und entwicklungsbedingter Beschäftigungsstruktur nur teilweise legitim ist), Orbán nannte statistische Daten für die Alterung der Bevölkerung in den EU-Mitgliedstaaten. Demnach werde die Zahl der Kinder unter 14 Jahren bis 2050 von den heutigen 100 Millionen auf 66 Millionen sinken, die Zahl der Bevölkerung im erwerbsfähigen Alter statt der heutigen 331 Millionen auf nur noch 268 Millionen. Unterdessen werde der Anteil der Bevölkerung über 65 Jahren von den heutigen 17 Prozent auf 31 Prozent steigen.

Dieser Trend ist umzukehren, so Orbán. Damit hat er dann indirekt auch zugegeben, dass nicht die sinkende Zahl der Einwohner das Problem ist, sondern die steigende Zahl der Rentner. In seinem Land hat er die Beiträge zur privaten Rentenversicherung gerade verstaatlicht, um den Haushalt zu sanieren, also einen zinslosen Zwangskredit bei der arbeitenden Bevölkerung genommen und sich dafür entschieden, die Renten zukünftig wieder aus dem laufenden Haushalt und nicht, zumindest zum Teil, aus Angespartem zu bezahlen. Richtig ist, dass Ungarn mit den höchsten Anteil an Rentnern in der EU hat, das ist teuer und eine Verschwendung von Ressourcen.

Der Parlamentspräsident bittet um zahlreichere Vermehrung

Die Zielsetzung ist also klar, die Ungarn müssen mehr arbeiten und gebährfreudiger werden, dazu soll es steuerliche Anreize für Familien geben, um das Land - sozusagen - in eine nationale Brutstätte zu verwandeln. Man hat - entgegen dem Trend - eine Frührente für Frauen, die 40 Berufsjahre erreicht haben, eingeführt: "Omas, die auf ihre Enkel aufpassen, damit die Eltern arbeiten können", wurde dies begründet. Parlamentspräsident László Kövér ergänzte Orbáns Ambitionen: derzeit haben zwei Erwachsene Ungarns durchschnittlich 1,3 Kinder. Wir wollen eine „Reproduktionsrate“ von 2,1 erreichen, sagte Kövér.

Wenn nicht mehr Kinder geboren werden, wird die Bevölkerung Ungarns bis 2050 von zehn Millionen auf 8,5 Millionen sinken, und die Hälfte wird älter als 50 Jahre sein. Bereits im Vorjahr sank die Bevölkerung Ungarns erstmals und trotz (der sehr geringen) Einwanderung auf unter 10 Millionen, eine Marke, die die Politik zu parlamentarischen Sondersitzungen und hektischen Gesetzesinitiativen brachte. Seit Beginn des Jahres vergibt Ungarn im Eilverfahren Pässe an die ethnischen Ungarn, vornehmlich die in den Nachbarländern, doch dies ist eher eine politische Aktion, sie führt kaum zu einer räumlichen Repatriierung (Einwanderung soll es ja nicht sein) und daher auch nicht zu dem erwünschten Bevölkerungszuwachs der ethnisch Anverwandten. Ungarn könnte diesen sozial derzeit auch überhaupt nicht verkraften.

Orbán pries das ungarische Einkommensteuersystem, das die Familien fördere; er sagte, dass die Familie auch in der sich in Arbeit befindlichen neuen ungarischen Verfassung unter besonderen Schutz gestellt werde. Staatssekretärin Rózsa Hoffmann, die den Vorsitz eines Treffens zur Bildungspolitik inne hatte, ergänzte die quantitativen Wünsche noch um qualitative Forderungen, "Jugendliche müssen zu aktiven, verantwortungsbewußten Staatsbürgern erzogen werden". ("Vielseitig gebildete sozialistische Persönlichkeiten" hießen die einmal in der DDR...)

Zusätzliche Wählerstimmen als gesellschaftlicher Anreiz

Mit der Einführung von "Kinderstimmen", zusätzlichen Wählerstimmen für Familien mit Kindern und deren Verankerung in der neuen Verfassung wollte die Regierungspartei Fidesz auch den politischen Einfluss von Eltern erhöhen und so der Sache insgesamt ein gesellschaftliches Gewicht verschaffen. Es ist ja volkommen richtig, dass Eltern, Mütter mitsamt ihren "Plagen" als Last behandelt werden, das sollte sich wirklich dringend ändern. Mütter sollten ihre Bedürfnisse durch die zusätzlichen Stimmen ihrer Kinder besser artikulieren können und allein aufgrund dieses gewachsenen Stimmengewichts, die Parteien schon von sich aus zu einer familienfreundlicheren Politik "zwingen".

Doch aus dem hehren Vorschlag ist mittlerweile eine absurde Debatte geworden, bei der sich auch das sonst so sehr um Einheit bemühte Fidesz zerstritt. Zuerst schrieb man den Vorschlag in den Entwurf zur neuen Verfassung. Als man aber feststellte, dass diese Idee auf 85% der zurückgesandten Fragebögen, also "vom Volk" verworfen worden ist, stellte Fraktionschef Lázár einen entsprechenden Änderungsantrag, um die Sache wieder zu streichen. Premier Orbán erläuterte im Fernsehen, dass diese hohe Ablehnungsquote womöglich damit zusammenhängt, dass die Bevölkerung fürchtet, die Roma könnten - aufgrund ihres Kinderreichtums - einen "überproportional" großen Einfluss auf die Politik bekommen. Juristische Bedenken hinsichtlich des in der EU gängigen Diskriminierungsverbots spielten nur am Rande eine Rolle.

Kinder sind willkommen, aber nicht von allen...? - Streit im Fidesz

Nun dachte man also die Sache sei vom Tisch, da beklagt sich der Chef des "Nationalen Konsultationrates" zur Verfassung und Leiter der ungarischen EU-Parlamentsdelegation József Szájer am Samstag über den "Ausschluss" von Kindern im derzeitigen Wahlrecht, das sei "ein Skandal", immerhin machten Kinder rund 20% der Bevölkerung aus. Man soll die "historische und weltweit einmalige" Chance nutzen und eine Kommission einsetzen "aus Anwälten, öffentlichen Intellektuellen, Familienvertretern bis hin zum Präsidenten und sogar Premier Orbán", um doch noch eine gangbare und akzeptierte Lösung zu finden. Es sollte eine Diskussion in Gang gesetzt werden, "die die gesellschaftliche Meinung verändert", fordert Szájer und widersprach Orbáns Roma-Sager ganz energisch, "ein solcher Ansatz ist unmoralisch und ein ungeeigneter Versuch", den Leuten die wahren Beweggründe für die "Kinderstimmen" auszureden.

 

Auch der staatliche Romabeauftrage Zoltán Balog "unterstützt persönlich dieses Abenteuer". Fraktionschef Lázár, meinte, er habe den Änderungsantrag nur "brechenden Herzens" eingebracht, da er doch sehe, dass die Grundidee dahinter eine gute sei. Übrigens: nach Expertenschätzungen könnten die ungarischen Roma, wenn sie ebenso am Arbeitsmarkt integriert wären wie die "Mehrhreitsungarn" ein Plus von 4-6% zum BIP beisteuern, ganz ohne Einwanderung übrigens und jedes Jahr aufs Neue. Stattdessen verlangt man von der EU quasi Reparationsleistungen für die unlösbar scheinende sozial Unbill und nennt das ganze dann gemeinsame EU-Romastrategie. In dieser Woche beginnen auch die Debatten über diese darüber, vielleicht hätte man beide Veranstaltungen besser zusammengelegt, zu trennen sind sie jedenfalls nicht.

red.
 

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