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(c) Pester Lloyd / 15 - 2011  GESELLSCHAFT 13.04.2011

KOMMENTARE

Rettungsschirm der Solidarität

Ungarn: Tag der Hoffnung und des Zorns
50.000 europäische Gewerkschafter demonstrierten in Budapest - Reportage

Dass sich die sechs ungarischen Gewerkschaftsbünde überhaupt einmal einig wurden und dann auch noch so viele Menschen mobilisieren konnten, kann für die Arbeitervertreter als großer Erfolg gewertet werden. Was sie einigte, ist die Arroganz der Politik, "die verächtlich auf die Gewerkschaften herabschaut." und massiv Arbeitnehmerrechte beschneidet. Der Pester Lloyd begleitete einige der Organisatoren vom Heldenplatz zum Oktogon.

Der 9. April ist für Ungarns Gewerkschaften ein großer Tag der Hoffnung und Ermutigung, sagte István Gaskó, Vorsitzender der LIGA Gewerkschaften unsererm Korrespondenten. Noch vor wenigen Tagen sind die sechs ungarischen Gewerkschaftsbünde von Medienvertretern skeptisch belächelt worden als sie "mehrere zehntausend" Teilnehmer für ihre gemeinsame Kundgebung am vergangenen Samstag auf dem Heldenplatz ankündigten. Doch am 9. April stellte sich die riskante Vorgabe einer so hohen „Hausnummer“ keineswegs als Fehleinschätzung heraus. Selbst führende Gewerkschafter gestanden jetzt ein, mit über 50.000 Demonstrierenden (die Schätzungen reichen von 12.000 der Polizei, sie nannte das “konservativ” geschätzt, über 40.000 der offiziösen Nachrichtenagentur MTI bis weit über 50.000 bei anderen Medien und den Veranstaltern) nicht wirklich gerechnet zu haben.

Gemeinsam hätten sie damit einer machtversessenen Regierung, "die verächtlich auf die Gewerkschaften herabschaue und sie für ein Nichts halte", gezeigt, dass mit ihnen noch zu rechnen sei, ziegt sich LIGA-Chef Gaskó erfreut. Auch für den ersten Mann des Ungarischen Gewerkschaftsbundes MSZOSZ, Péter Pataky, beweist die starke Mobilisierung der ungarischen Gewerkschaften, "dass die Regierung das Volk nicht auf Dauer übers Ohr hauen könne."

Regierung warnt vor gewaltbereiten Demonstranten

Bereits am frühen Vormittag tauchten erste bunte Gruppen aus verschiedenen EU-Mitgliedsländern auf und „besetzten“ die Straßencafés um den Heldenplatz herum. Hinter dem Oktogon, dem späteren Kundgebungsort, stellte unterdessen die Polizei Wasserwerfer und Einsatzkräfte in den Seitenstraßen bereit. Auf Informationszetteln in den Pressemappen der EU-Tagungen im nahen Gödöllö sprach die offizielle Propagandamaschine vom möglichen Auftauchen "etlicher hundert gewaltbereiter linker Demonstranten" und riet von einem Besuch des Gebietes ab. Doch diese "Hoffnung" erfüllte sich nicht, die Kundgebung blieb vollständig friedlich. Die Polizei erlebte einen ruhigen Tag, nicht einmal für die Straßenreinigung gab es viel zu tun.

Keinerlei Bereitschaft zum sozialen Dialog

Im Haus der Chemiegewerkschaft ganz in der Nähe des Heldenplatzes versetzten sich die ungarischen Chemiegewerkschafter mit ihren Gästen von den Schwesterorganisationen aus Slowenien, Rumänien und der Slowakei in gute Stimmung. Fast 100 Kolleginnen und Kollegen aus Ajka waren dabei, aus jenem Ort in Westungarn, der im letzten Jahr nach einer schweren Umweltkatastrophe europaweit traurige Berühmtheit erlangte.

Tamás Székely, ein rühriger Gewerkschaftsvorsitzender der jüngeren Generation, rechnete damit, dass sich etwa 3 000 Mitglieder seiner Gewerkschaft an der Demonstration beteiligen würden. Im Gespräch mit dem Pester Lloyd beklagte er, dass die gegenwärtige Regierung der „nationalen Einheit“ keinerlei Bereitschaft zum sozialen Dialog, einem der grundlegenden Werte der Europäischen Union, erkennen lasse. Nach den ersten drastischen Einschränkungen sozialer Leistungen und Arbeitnehmerrechte befürchten die ungarischen Gewerkschaften von der angekündigten „Flexibilisierung“ des Arbeitsgesetzbuches erneute schmerzhafte Einschnitte in ihren „Besitzstand“.

Die LIGA klagt über Entrechtung und "Dienstbotengesetze"

Die LIGA hatte in Vorbereitung auf die europäische Gewerkschaftsdemonstration auf ihrer Seite zwanzig durchgeführte oder geplante Maßnahmen der Regierung aufgeführt, von denen sie meint, dass sie das Recht der Arbeitnehmer auf angemessene Lebensverhältnisse schwer verletzen, etwa das „Dienstbotengesetz“ mit einer Beschäftigung ohne Renten-, Krankenversicherungs- und arbeitsrechtlichen Schutz, die Einführung der Einheitssteuer (flat tax, die bei den geringsten Einkommen negativ zu Buche schlägt und vom Staat teilweise mit Kompensationszahlungen ausgeglichen werden musste), die Senkung des Krankengeldes, die unbegründete Kündigung, die Einschränkung des Streikrechts, die Einschränkung der Rechtsbefugnisse des Verfassungsgerichts oder die Neigung zur politischen Einflussnahme auf die freien Medien. In nur zehn Monaten habe die Regierungspartei Fidesz ihre in der Opposition verfolgte Politik ins völlige Gegenteil verkehrt, erklärte uns LIGA- Vorsitzender István Gaskó, der übrigens einer Gerwerkschaft vorsteht der man viel, aber nicht die Nähe zur ehemaligen sozialliberalen Regierung nachsagen kann.

Orbán glaubt nicht an die EU, nur an "sein" Ungarn

Angesichts dieser Fakten musste die von der ungarischen Regierung nach einem Treffen des Ministerpräsidenten und derzeitigen EU- Ratspräsidenten Viktor Orbán mit John Monks, dem EGB-Generalsekretär, und den Vorsitzenden der sechs ungarischen Bünde, am Tag vor der Euro- Demo abgegebene Erklärung geradezu dreist, provozierend und zugleich lächerlich wirken: Die ungarische Regierung begrüßt und unterstützt die Stellungnahme der europäischen Gewerkschaften gegen die Politik der Sparmaßnahmen. Die mehrere zehntausend ungarischen Demonstranten fielen auf diese Provokation Orbáns nicht herein, von dem ohnehin bekannt ist, dass er nicht an die EU, sondern nur an „sein“ Ungarn glaubt.

Finanzmarkt regulieren ist die beste "Sparmaßnahme"

Bis zur Mittagszeit formierten sich die Vertretungen von 45 Gewerkschaften aus 22 europäischen Ländern hinter Transparenten, die ihre jeweilige Sicht der gemeinsamen Forderungen für ein solidarisch erneuertes soziales Europa nach der Krise zum Ausdruck brachten. So lautete beispielsweise die Losung, hinter der sich die DGB- Delegation versammelte: „Nein zum ungerechten >Pakt für den Euro<- Für ein soziales Europa, Gerechte Bezahlung und Gute Arbeit“. Durch den Pakt von Angela Merkel und Nicolas Sarkozy werde nicht der Euro, sondern auf Kosten der Steuerzahler die Finanzindustrie gerettet, heißt es beim DGB. Und mit der daraus folgenden Sparpolitik gerieten auch die Tarifpolitik und das Arbeitsrecht in bedrohliche Schieflage. Annelie Buntenbach vom DGB-Bundesvorstand kritisierte in ihrer Rede in Budapest den fehlenden Mut und Willen der europäischen Staats- und Regierungschefs, durch nachhaltige Finanzmarkt- Regulierung wirkliche Ursachen- Bekämpfung zu betreiben und mehr Europa zu wagen.

Rettungssschirm der europäischen Solidarität

Dem deutschen Slogan kam das „Nein zu Sparmaßnahmen, Für ein soziales Europa, Für gerechte Bezahlung und Jobs“ des ÖGB ebenso nahe wie die Aufschrift des Europäischen Gewerkschaftsbundes (EGB) an der Spitze des Zuges. Gemeinsam zog die bunte Masse in gelöster Stimmung, die einige ungarische Zeitungen mit der von Festivals oder dem Karneval verglichen, die Prachtallee der Andrássy-Straße entlang bis zum Oktogon zur Abschlusskundgebung. Dort appellierte EGB-Generalsekretär John Monks an die im nahen Gödöllö tagenden europäischen Finanz- und Wirtschaftsminister. „Wir wollen ein Europa der Menschen, nicht der Banken“. Weder Eingriffe in die Tarifautonomie der Sozialpartner noch Beschneidungen von Sozialsystemen zur Finanzierung der von der Finanzwirtschaft verursachten Krisenkosten würden die Gewerkschaften Europas widerspruchslos hinnehmen.

 

Für die ungarischen Gewerkschaften, aber nicht für sie allein, war die Euro-Demo in Budapest ein riesiger Erfolg. Endlich waren sie aus der Schockstarre, in die sie nach dem Erdrutschsieg Viktor Orbáns gefallen waren, erwacht. Endlich hatten sie sich einmal aus der lähmenden Lethargie befreit, die sie nur passiv auf die Zumutungen einer überheblichen Regierung reagieren ließ. Endlich war ihnen eine Mobilisierung gelungen, wie sie Ungarn in jüngerer Zeit nicht erlebt hat. Sie nutzten dabei eine Art „europäischen Rettungsschirm“, die Solidarität von 8.000 Gewerkschaftern aus 21 Ländern der Union.

Diesen Auftrieb könnten Ungarns Gewerkschaftsbünde jetzt nutzen, um ihre innere Zerstrittenheit zu beseitigen. Wenn es ihnen gelingt, der Öffentlichkeit transparent zu machen, wofür sie stehen, könnten sie wieder als selbstbewusste Akteure zurückkehren, die in die Gestaltung ihres Landes eingreifen. Es ist gesünder für ein Land, wenn nicht nur eine Kraft allein über die Zukunft des Landes entscheidet.

Rainer Girndt

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