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(c) Pester Lloyd / 19 - 2011  BILDUNG 12.05.2011

 

Kaderschmieden für den Ständestaat

Die Bildungslandschaft in Ungarn steht vor einem Kahlschlag

Die beim Ministerium für "Nationale Ressourcen" zuständige Staatssekretärin für Bildung, Rózsa Hoffmann, hat am Dienstag auf einer Pressekonferenz einige weitere Aspekte der angekündigten Bildungsreform dargelegt, freilich wieder, ohne zu konkret zu werden. Vor allem wollte sie aber Gerüchte vertreiben, sie plane die Schließung von Unis und Hochschulen. Sie erreichte genau das Gegenteil, denn sie hat genau das Gegenteil vor.

Niemand hat die Absicht...

Nun dürfte auch dem letzten klar sein, dass der ungarischen höheren Bildungslandschaft ein großer Kehraus bevorsteht, personell wie strukturell und damit auch inhaltlich. Die auch beim Regierungspartner Fidesz nicht unumstrittene Staatssekretärin von der KDNP versuchte es mit dem adaptierten Ulbricht-Sager: "niemand hatte je die Absicht oder wird je die Absicht haben in diesem Land Universitäten zu schließen", doch die "Abers" ließen nicht lange auf sich warten. Medienberichte sprachen zuvor davon, dass bis zu dreizehn der 29 staatlichen Universitäten und Hochschulen den Bach hinunter gehen könnten, einschließlich der prestigereichen Corvinus Universität (Foto), spezialisiert ausgerechnet auf Wirtschaftswissenschaten.

Hoffmann versuchte der Presse die Nöte der höheren Bildungspolitik zu verdeutlichen. Heute werden über 300 verschiedene Studiengänge an 210 höheren Einrichtungen angeboten. Hier müssen "Wege der Glättung gefunden werden". Denn das heutige System sei "irrational und nicht lebensfähig und erfülle keine Standards." Noch Ende des Monats (das ist erst die dritte Terminverschiebung) werden ihre "Änderungsvorschläge" auf dem Tisch liegen. Sie hofft weiter, dass die Regierung dann einen "baldigen" Blick drauf wirft.

"Eliminierungen" unvermeidlich - Liste folgt

Dann folgten die entscheidenden Sätze: "Es ist klar, dass einige Universitäten und Hochschulen nicht glücklich damit sein werden, zu hören, dass sie früher oder später die Elimnierung eines Faches oder einer Fakultät hinnehmen müssen." Aber, es ist nicht mehr möglich, "die gleichen Fächer gleichzeitig an zwanzig bis dreißig verschiedenen Insititutionen anzubieten." Bereits zuvor hatte sie gemeint, dass wohl einige bisher staatliche Einrichtungen hinfort auch ganz ohne Staatsfinanzen auskommen müssten. Sie könnten dann eben schrumpfen oder fusionieren oder sich auf dem privaten Markt behaupten. Schließen werde sie jedenfalls keine davon.

Wie eine Drohung hörte sich auch an, als Hoffmann (Foto) darüber sprach, dass man die "wertvollen Institutionen", die "wichtig für die Gesellschaft sind" (nationales Interesse), "am Laufen halten" wird. Wer das wie bewertet, dürfte klar sein. Nachsatz: "Unter welcher Struktur, ist eine andere Sache." Das Parlament wird jedenfalls "bald" ein Gesetz verabschieden, das eine "endgültige Liste der staatlichen Universitäten und Hochschulen" enthält. Ihr Stellvertreter ergänzte, dass höhere Bildungseinrichtungen "einen großen Anteil Steuergelder verbrauchen", die derzeitige ökonomische Situation "diese Ausgaben” in der Höhe nicht mehr verkraftet. "Im Gegenteil der Széll Kálmán Plan verlangt Ausgabenkürzungen".

 

Die KDNP will den Ständestaat zurück

Einig ist man sich in Ungarn mehrheitlich darüber, dass Reformen notwendig sind, doch ebenso offensichtlich ist, dass es sich bei den bisher sichtbaren Schritten um eine intellektuelle Kahlschlagspolitik handelt, die von nicht wenigen Beobachtern als geradezu bildungs- und geistfeindlich sowie politisch geleitet eingestuft wird. Universitäre Bildung, das geht aus vielen Äußerungen hervor, soll in erster Linie direkt messbar dem täglichen Schaffensprozess zuarbeiten, d.h. Ingenieursberufe, technische Disziplinen, Verwaltungslehre etc. sind willkommen, Eliteforschung so sie Patente und internationale Reputation bringen auch, Geisteswissenschaften und andere "Luxusfächer" sind ansonsten suspekt und ohnehin eher ein Hort von sozialrevolutionären Arbeitsverweigerern. Diese Fachbereiche werden eingeschmolzen und dirigistisch behandelt.

Hoffmann nennt das eine Bildungspolitik, "die vor allem jenen wehtun wird, die bisher vom Zustand der Verwirrung profitiert haben." Und man kann sich sicher sein, dass damit nicht nur struktureller Filz gemeint sein wird, den zu beseitigen nur dann eine Wohltat wäre, würde er nicht durch neue Bevorzugungen ersetzt. Warum gerade diese Regierung in ihrem kompromisslosen und unkommunikativen Vorgehen dafür eine Gewähr bieten sollte, hat sie noch nicht erklären oder gar zeigen können.

Hoffmann will auch die Wiederholungsmöglichkeiten von Prüfungen im regulären Studium verringern, also die Zahl der Endlosstudierenden verringern, die in Ungarn ohnehin nicht sonderlich groß ist, weil Studieren hier oft keineswegs so kostenlos ist, wie man immer denken mag. Bologna soll im wesentlichen übernommen werden (weil man muss), da, wo es kontraproduktiv wirkt, will man eigene Wege gehen. Hoffmann "man soll in Ungarn Altgriechisch studieren können, aber doch nicht überall."

Dagegen ist nichts zu sagen, es ist nur schlicht - und das ist die zentrale Kritik - eine Dummheit, zu glauben, dass man durch dirigistische Streichungen die Qualität und Effizienz der Bildung verbessert. Hier hätte man - Vorbilder gibts dazu sowohl in Amerika wie in Europa - einen Wettbewerb ermöglichen können, der von selbst zu notwendigen und sinnvollen Spezialisierungen und Bereinigungen führt. Hoffmann kann den tatsächlichen Bedarf in einem so komplexen Feld wieder höheren Bildung gar nicht überblicken, niemand kann das, er muss sich erweisen. Dazu braucht es neben Zeit auch Geld, vor allem aber Willen.

Wer einmal lügt...

Gebraucht werden im neuen Ungarn Arbeiter, Handwerker, Bauern, die ihre Scholle beackern und sich in Gottesfurcht üben, nicht so viele spinnerte Studenten - und das in einem zentraleuropäischen Staat, an dem der Fachkräftemangel schon heute nagt. Schüler und Studenten kosten nur Geld, Arbeiter bringen welches, so das einfache, ja sträflich naive Kalkül. Daher senkt man auch das gesetzliche Schulabgangsalter um zwei Jahre, gewollt waren zunächst sogar drei. Ein Konzept gegen die steigende Zahl schließender Pflichtschulen hat Hoffmann nicht, hier überlässt sie Dinge sich selbst, bzw. überforderten Bürgermeistern, die die Schulen wiederum der Kirche überlassen. Viele Lehrer wechseln in die Wirtschaft, dauerhaft für das Bildungswesen verloren. Es sind sicher nicht die schlechtesten ihres Standes.

Die Elite - auch das macht Hoffmann durch ihr “Konzept” klar - soll an regierungskontrollierten Einrichtungen ausgebildet werden, das wird das Ergebnis der parlamentarischen Streichliste sein. Die Kaderschmieden des Realsozialismus können also bald im nationalen Gewand ihre Wiedergeburt feiern. Für den Kampf um Chancengleichheit und die Anforderungen an eine Bildungsgesellschaft der Zukunft sind es große Rückschritte. Die Staatssekretärin vertritt das im wahrsten Sinne "jenseitige" Weltbild ihrer fundamental-christlichen Partei, das immermehr zum Mainstream wird und Ungarn - denkt man die Ansätze konsequent weiter - in ein bildungspolitisches Mittelalter, wenigstens aber in den finsteren Ständestaat zurückführen wird. Bildung muss möglichst gleich der Herkunft und materiellen Voraussetzungen zugänglich sein, frei und universell, wie die Lehre selbst, dann ist sie im "nationalen Interesse", nicht, wenn sie Parteileitlinien oder Glaubensbekenntnissen folgt. Im übrigen gibt es dazu auch EU- und Menschenrechtsbestimmungen, so tut sich schon ein weiteres Konfliktfeld Ungarn vs. Europa auf.

Hoffmann hatte sich auch schon gegenüber der EU empfohlen. Bei den Anhörungen im Januar zu Beginn der EU-Ratspräsidentschaft bügelte sie kritische Fragen zur öffentlichen "Philosophenjagd" als "handelt sich nicht um einen Angriff gegen liberale Philosophen, sondern um einen mit der Vergabe öffentlicher Gelder verbundenen Gerichtsfall." ab und belog frech ganz Europa mit der Behauptung: "Die schulische Bildung der Romakinder erfolgt in Ungarn vollständig und frei von Diskriminierung." Über ersteren Fall kann man denken wie man will, eine öffentliche Hinrichtung ohne Gerichtsurteil war es allemal, letztere Bemerkung hingegen ist neben der Lüge auch zynisch und disqualifiziert Hoffman fachlich wie menschlich.

Opposition: der Wirtschaftsminister macht die Bildungspolitik
- wo sind die Studenten?

 

Die Bildungssprecherin der grün-liberalen LMP, Ágnes Osztolykan vermisst denn auch ein generelles Bekenntnis zur höheren Bildung in der Regierung, die sich selbst nicht einig in ihren Konzepten sei. Tatsächlich gibt es zwischen Fidesz-Bildungspolitikern und der KDNP-Quasi-Ministerinöffentliche Dispute über die Bildungspolitik, was die Betroffenen ein wenig hoffen lässt. Die LMP findet es jedenfalls furchtbar, dass der "Széll Kálmán-(Spar)Plan" des Wirtschaftsministers derzeit die Bildungspolitik dieser Regierung repräsentiert. Dabei sei sichtbar, dass Arbeitslose mit akademischer Qualifikation leichter und schneller wieder Arbeitsplätze als andere finden und eine Reduzierung der Hochschschulabschlüsse und eine selektierte Elite sich nachteilig auf den Investitions- und Forschungsstandort auswirken müssten. - Die Frage an die Opposition lautet indes: wo bleiben die protestierenden Studenten. Aber das ist schon das nächste Drama...

red.

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