(c) Pester Lloyd / 20 - 2011
POLITIK 19.05.2011
Der Orbán der Linken
Gyurcsány will die Opposition in Ungarn beherrschen
Die Spannungen im Lager der "Sozialistischen Partei" MSZP verschärfen sich, speziell zwischen der offiziellen Parteispitze um Attila Mesterházy und dem Gegenpapst,
Ex-Premier Ferenc Gyurcsány. Selbst Insider grübeln, ob es sich beim Gebahren Gyurcsánys um außer Kontrolle geratenen Idealismus oder chronische Machtsucht
handelt. Die Äußerungen des unbelehrbaren Ex-Vorsitzenden deuten immer mehr auf eine bevorstehende Spaltung der Partei hin. Dabei böten die Regierungsparteien
einer handlungsfähigen Opposition massenweise offene Flanken.
Am Mittwoch trafen sich Vertreter von sieben(!) verschiedenen Plattformen innerhalb der
sich immer noch nicht vom K.O.-Schlag bei der letzten Wahl erholenden Partei, um über "breitere Alternativen" und Konzepte gegen die schiere Übermacht des Fidesz zu
sprechen. Während die MSZP-Führung eine Kooperation unter linken Gruppen vorschwebt, will Gyurcsány (der aufgrund von "Terminen in der Provinz" nicht selbst an dem Treffen
teilnahm) mit seiner parteioffenen Plattform "Demokratische Koalition" auch für "nicht-linke" Gruppen offen sein, womit er vor allem vagabundierend gewordene Liberale
und gemäßigte Konservative meint.
Hiller: die Linke braucht Führung, aber keinen linken Orbán
Gyurcsány versteht bis heute nicht, dass er selbst das Haupthindernis für eine
parteiübergreifende Koalition ist. Denn jede Partei oder Gruppe, die in seine Nähe gerückt werden kann, würde massiv an Zustimmung vor allem im gemäßigt bürgerlichen
Lager verlieren. Gyurcsány, der vor allem von reiferen Damen viel Zuspruch erfährt, erkennt das nicht, Ex-Kulturminister und Parteivorstand István Hiller, Vertreter der
sozialdemokratischen Plattform, versuchte es ihm so zu erklären, dass man zwar mehr Kooperation braucht und auch einen "Teamchef", nicht aber einen "linken Orbán". Die
Einladung an liberale und konservative Richtungen, würde die Partei funktionsunfähig und letztlich obsolet machen. Dass sie beides bereits ist und eine tatsächliche Lösung nur in
Auflösung und Neugründung bestehen kann, erkennt der Parteikader nicht.
Gyurcsány Selbtswahrnehmung ist grenzwertig
Seit Monaten gehen Gerüchte um, Ferenc Gyurcsány plane die Gründung einer neuen
Partei. Er wurde bereits mit der "Demokratischen Partei", offenbar einer Blankogründung im Parteienregister, in Verbindung gebracht, äußerte sich aber bisher immer zweideutig.
Zuletzt hatte er den spalterischen Machtkampf in "seiner" Partei weiter forciert, als er - ohne Abstimmung mit der Parteiführung - ein parteiinternes Referendum über die
weiteren Strukturen und einige Grundfragen anzettelte. Höhepunkt der Lächerlichkeit war seine "Rede zur Lage der Nation" im Februar, mit der er direkt Orbán nachäffte, der
diese "Tradition" als Oppositionsführer einst einführte und - ebenso wie jener - indirekt erklärte, das Land retten zu wollen. Ausgerechnet.
MSZP-Chef: Gyurcsány arbeitet Fidesz in die Hände
Der schwache MSZP-Chef Attila Mesterházy, schon früher
Fraktionschef und eigentlich ein Ziehkind Gyurcsánys, bezichtigte seinen Ex-Chef nun, direkt dem Fidesz in die Hände zu arbeiten. Die Regierungspartei sei die einzige, die
von den Volten profitiere, denn die Wähler bekämen den Eindruck, die MSZP habe nur mit sich selbst zu schaffen. Mesterházy sprach mit Gyurcsány über die Streitpunkte, doch
dieser sei über jede Kritik erhaben und meint, alles was er tue, ist im Interesse der Partei. Der Parteigrande und langjährige
Finanzchef der Partei, László Puch drückte deutlich aus, dass immer mehr Mitglieder und Funktionäre Gyurcsány lieber heute als morgen loswerden wollten, um die schleichende
innere Vergiftung zu beenden. Der Unmut sei groß, eine führende Funktion in der MSZP könnte er ohnehin vergessen, so Puch in einem Interview.
Eine demokratische Sammlungsbewegung funktioniert nicht mit dem großen Ex
Die Szenarien für die ungarische Linke gehen eigentlich nur in zwei Richtungen, bleiben
jedoch solange Theorie, bis programmatische und personelle Erneuerungen sichtbar werden und eine Abkehr von der Gyurcsányschen Rechthaberei stattfindet. Auch in
Ungarn wäre natürlich Platz für eine "Linke" und eine sozialdemokratische oder linksliberale Partei. Die Frage ist aber, wie sinnvoll solche Abgrenzungen heute noch sind,
zumindest jenseits der nostalgischen Kernwähler- und -mitgliedschaft der MSZP. Zukunftsfähiger wäre natürlich eine "Demokratische Partei" ohne ideologische Dogmen,
vor allem, da sie sich der zunehmend "antidemokratischen" Regierungsarbeit gegenüberstellen ließe. Nur: mit Gyurcsány braucht man ein solches Projekt gar nicht erst beginnen.
Bajnai in Wartestellung?
Interessant wird noch, wie sich der neu gegründete
Think tank (just gestern offiziell eingeweiht) "Heimat und Fortschritt" von Ex-Premier und Orbán-Vorgänger Gordon Bajnai entwickelt. Er führte 2009/2010 nach
Gyurcsánys peinlich holprigem Rücktritt eine MSZP-Minderheitsregierung, ist selbst kein Parteimitglied. Ihm wurde auch von nicht-linker Seite,
Fachkenntnis und gute Arbeit attestiert. "Heimat und Fortschritt" ließe sich jederzeit auch als Parteiname verkaufen, zumal mit Péter Oszkó (Finanzen) und
Péter Balázs (Außen) schon zwei ehemalige Minister in der Firmenleitung sitzen.
Potential wäre vorhanden, Enttäuschte werden zu Nichtwählern
Die zunemehnd autoritäre, demokratie- und somit letztlich bürgerfeindliche,
klerikal-nationalistische, insgesamt spalterische und ideologisch ungemein übertreibende Politik von Fidesz-KDNP stößt sowohl bei konservativen Eliten wie bei einfachen Menschen
immer mehr auf Ablehnung, die Umfragen sind da eindeutig, auch wenn von einem Stimmungswandel noch sehr lange keine Rede sein kann. Eindeutig aber auch, dass diese
Enttäuschten sich fast ausschließlich ins "Nichtwählerlager" oder zu den Extremisten verabschieden, was an den Mehrheitsverhältnissen bei der Wahl zu wenig bis gar nichts,
womöglich das Falsche ändern würde, denn die einzige Alternative rechts vom Fidesz sind waschechte Neonazis.
V
ernunft und Normalität gegen Demokratieabbau und pseudoreligiöse Staatsideologie
Offene Flanken bietet die jetzige Regierungspartei dabei jede Menge. Angebote, die auf
breiteren Widerhall stoßen werden, sobald sich dier Hype um die "Wiedergeburt" gelegt hat und die Bevölkerung wieder auf den vier Buchstaben des realen Lebens gelandet sein
wird, sind: eine wirklich soziale Marktwirtschaft statt einer staatsgelenkten, protektionistischen "Nationalwirtschaft", die letztlich wieder nur Wenigen dienlich sein
wird; offene Bildungsgesellschaft statt der angestrebten ständischen Selektion; individuelle Freiheiten und Toleranz statt eines pseudo-christlichen
"Glaubensbekenntnisses" in der Verfassung, aber einer kleinmütigen, provinziellen, weltabgewandten, geist- und kulturfeindlichen Stimmung im realen Leben; die Stärkung
demokratischer Institutionen und Kontrolle, statt Abbau und Gleichschaltung fast sämtlicher "checks and balances", dazu: Aufbau einer wirklichen Bürgergesellschaft statt
des weiteren Ausbaus dieses dirigistischen Zentralstaates; echte Integrationspolitik (Roma) statt Lügen, Sprüchen, Aufgabe und Abgabe an die EU; Entspannung mit den
Nachbarn statt provokantem, geschichtsfälschendem Revisionismus. Kurz: die Einkehr (von einer Rückkehr ist nicht zu reden) von Vernunft und Normalität.
Gyurcsány in Aktion ist die Machtversicherung Orbáns
Eine "Demokratische Partei", die diesen Namen verdient und über Führungspersonal
verfügt, das integer ist, könnte sogar produktiven Druck auf die jetzige Regierung ausüben. Die Angst vor Machtverlust, so absurd das eigentlich ist, ist immer noch die
stärkste Triebkraft für Politiker, die sie manchmal sogar dazu bringt, etwas für die Bürger sinnvolles zu tun. Gelingt das nicht, wäre das Fidesz geradezu gesetzmäßig
ablösbar, vor allem, wenn die wirtschaftlichen Blütenträume nicht so reifen sollten wie verkündet, das Risiko oder die Chance, wie immer man will, steht dafür ziemlich 50:50.
Doch mit dem jetzigen Personal und in diesem chaotischen Zustand von MSZP und der sonstigen linken
und liberalen Opposition braucht sich das Fidesz keine Sorgen machen, es kann derzeit nur über das eigene Selbstbewußtsein stürzen. Wenn alle Stricke reißen, wäre Gyurcsány
dann die letzte Machtversicherung Orbáns. Denn was immer dem Land in den nächsten Jahren widerfährt, den will es nicht zurück.
Mehr zum Thema:
Gyurcsány spaltet ungarische Sozialisten - 9. Mai 2011 http://www.pesterlloyd.net/2011_19/19gyurcspaltet/19gyurcspaltet.html
Prozess gegen Gyurcsány - 2. Mai 2011
Immunität des Ex-Premiers wird aufgehoben - MSZP: Politjustiz http://www.pesterlloyd.net/2011_18/18prozessgyurcsany/18prozessgyurcsany.html
Der Pferdefuß der Demokraten - 21. Feb. 2011
Gyurcsány will schon "wieder" Ungarn retten http://www.pesterlloyd.net/2011_08/08gyurcsanyRede/08gyurcsanyrede.html
Selbstentsorgung - 1. Feb. 2011 Was macht eigentlich die ungarische Opposition? http://www.pesterlloyd.net/2011_05/05opposition/05opposition.html
red / ms.
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