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(c) Pester Lloyd / 21 - 2011  POLITIK 25.05.2011

 

Die andere Mehrheit

Opposition in Ungarn stellt direkte Demokratie auf den Prüfstand

Die grün-liberale Oppositionspartei LMP startet eine bindende Volksabstimmung zu Fragen von Arbeitnehmerrechten, Reformen am Arbeitsmarkt und in der Rentenpolitik. Die Aktion ist eine Art Gegenreferendum gegen Vorlagen der Regierung und ihr behauptetes Monopol auf "Volkswillen" und ihre "nationale Konsultations"-Show. Gerade zeigten die Machthaber wieder was sie vom Verfassungsgericht als demokratischer Korrekturinstanz halten.

Die ungarische grün-liberale Oppositionspartei LMP ("Eine andere Politik ist möglich"), die mit 7,5% der Stimmen im Parlament sitzt, will eine rechtlich bindende Volksbefragung über wichtige Fragen der Arbeits- und Sozialpolitik auf den Weg bringen und dies als eine Art Gegenreferendum zu den unverbindlichen, aber ins mediale Rampenlicht geschobenen Fragebogenaktionen der "nationalen Konsultation" der Regierung positionieren. Laut LMP machen die aktuellen Gesetzesvorhaben der Regierung die Arbeitnehmer hilf- und rechtlos, - rechtmäßig erworbene Ansprüche und Rechte werden angegriffen. In Konsultationen mit den Gewerkschaften sollen so die Reformvorhaben der Regierung, die zu einseitig in Arbeitnehmerrechte eingreifen, ohne eine Aussicht auf Verbesserung der Gesamtsituation zu bieten, gestoppt werden.

Die LMP will z.B. wissen, ob das Volk die geplante Reduzierung der Länge der Auszahlung von Arbeitslosengeld von 270 auf 90 Tage mittragen will (mehr zu dem Reformpaket) und ob der Auszahlungsbetrag dabei unter 80% des letzten Verdientes fallen soll. Hierbei geht es nicht so sehr um die grundsätzliche Infragestellung von Straffungen bei der Arbeitslosenunterstützung zur Motivation und Belebung des Arbeitsmarktes, sondern darum, dass mit den Kürzungen keine Kürzungen bei den Beiträgen zur Arbeitslosenversicherung einhergehen sollen, was Rechtsansprüche von Versicherten berührt. Zudem würden viele nach drei Monaten ins Elend gebracht, weil es auf die Schnelle überhaupt nicht so viele Arbeitsplätze gibt, wie dann nötig wären. Weitere Fragen behandeln die Rücknahme der geplanten Senkung des gesetzlichen Schulabgangsalters von 18 auf 16 Jahren (mehr zur Bildungsreform), die Einführung eines Mindestlohnes für Überstunden, Urlaubsregelungen für Arbeitnehmer sowie die Frage nach den Ansprüchen aus der zwangsverstaatlichten privaten Rentenversicherung.

 

Nicht zuletzt dient der noch jungen Partei, die sich als Sammlungsbewegung von der etablierten Politik frustrierter Liberaler, Umweltbewegter und links vom Fidesz stehender Bürger erfand, dieses Referendum auch als identitätsstiftendes Politik-Projekt, denn seit dem überraschend deutlichen Einzug ins Parlament quält sich die Gruppe mit Identitäts- und Strukturfindung.

Viele Hürden auf dem Weg zur legislativen Verbindlichkeit

Parteichef András Schiffer teilte mit, dass die entsprechenden Fragen bereits der Nationalen Wahlkommission zur Genehmigung vorgelegt wurden, was Teil des rechtlichen Prozederes für ein ordentliches Referendum ist. Danach müssen die Fragen verständlich sein, eine eindeutige Alternative als Antwort haben, die sich in ein entsprechendes Gesetz niederschlagen kann. In der Vergangenheit wurden reihenweise Fragestellungen abgelehnt. Werden sie zugelassen, müssen die Initiatoren laut Verfassung (auch der neuen) binnen kurzer Zeit 200.000 Unterstützungsunterschriften zusammentragen, werden diese - wiederum von der zentralen Wahlkommission - verifiziert, kommt es zur Volksabstimmung, die 25% Wahlbeteiligung und mehr als 50% Zustimmung pro Frage erfordert, um bindenden Charakter zu erwirken. Dies gelang bisher sehr selten, sogar die doppelte Staatsbürgerschaft für Auslandsungarn - heute angeblich ein inneres Bedürfnis fast aller Ungarn - scheiterte schon einmal am Desinteresse des Wahlvolkes. Eine Gesundheitsreform (Privatisierung) wurde einmal gestoppt.

LMP-Parteichef András Schiffer

Angriff auf das Monopol: der "Volkswille" ist in Ungarn die Sache einer Partei

Verläuft alles nach Plan, könnte das Referendum 2012 abgehalten werden, interessant wird dabei die Reaktion der Regierungspartei, die schon mehr als einmal gezeigt hatte, dass sie bereit ist Verfassungsnormen zu ändern, um ihre Vorstellungen in der Tagespolitik durchzusetzen. Wie sie bei einem gelungenen Referendum allerdings den in ihre Interpretationshoheit reklamierten "Volkswillen" umdeuten wird, dürfte spannend sein. Einfach ignorieren kann sie die Mehrheit wohl kaum, eher schon dürfte der Fidesz-Propagandaapparat schon im Vorfeld dafür sorgen, die LMP-Initiative als "nicht im nationalen Interesse" zu diskreditieren oder sonstiwe eine Schicksalsfrage damit zu verknüpfen, wenn sie überhaupt die 1. Hürde Wahlkommission schafft.

Verfassungsericht entmachtet und umgangen

Ein aktuelles Beispiel des Hantierens mit Verfassungsorganen und demokratischen Spielregeln stellt eine Gesetzesänderung dar, die gestern im ungarischen Parlament beschlossen worden ist. Danach sind ab 1. Januar 2012 keine Kündigungen im öffentlichen Dienst mehr ohne Angabe von Gründen möglich. Die offiziöse Nachrichtenagentur MTI stellt den Vorgang so dar, als würden Weisheit und Einsicht der Abgeordneten zu diesem Entschluss geführt haben.

In Wirklichkeit reagiert das Parlament dabei lediglich auf die Anullierung dieses Gesetzes durch das Verfassungsgericht im Februar. Dieses hatte die Regelung als gegen Grundrechte wie die Menschenwürde verstoßend verworfen und eine Neuregelung verlangt. Der Trick: die Regierung hatte durch Dauer der gerichtlichen und parlamentarischen Prozeduren sich ingesamt rund 18 Monate Zeit herausgearbeitet, begründungslose Kündigung zu praktizieren und machte davon auch regen Gebrauch, zuletzt an prominenter Stelle beim Leiter der Holocaust-Gedenkstätte in Budapest. Bis Ende des Jahres dürfte den Machthabern so noch ausreichend Zeit bleiben, um die aus ihrer Sicht wünschenswerten, personellen Bereinigungen umzusetzen.

 

In anderen Fällen - all jenen, die Einfluss auf das Budget haben - hatte die Regierungspartei mit ihrer Zweidrittelmehrheit die Kompetenzen des Verfassungsgerichtes gänzlich beschnitten. Diese Entmachtung ist auch in der neuen Verfassung so verankert, deren Aufhebung an die Erreichung von bestimmten Staatszielen verknüpft, nämlich der Erreichung einer Staatschuldenquote von 50% (derzeit 80%). Demokratie wird hier als Erfolgsprämie spendiert und wie dekadenter Luxus gehandelt, den man sich erst leisten könne, wenn die eigentliche Arbeit gemacht sei - ohne Aufsicht und Kontrolle, denn was gut fürs Volk ist, weiß - wieder einmal - allein die Partei.

Quaero populo - 5. Mai 2011
Wünschen Sie mehr Rente? Die Regierung von Ungarn befragt wieder das Volk
http://www.pesterlloyd.net/2011_18/18volksbefragung/18volksbefragung.html

red., Stefano Solaro

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