(c) Pester Lloyd / 26 - 2011
POLITIK 28.06.2011
Hart am Wind
Aktuelle Berichte aus der ungarischen Politik
"Nationales Interesse" verhinderte Demonstrationen gegen Gast aus China - "Ungarn stabilstes politisches System Europas" - 98%: EU-Ratspräsidentschaft "ein voller
Erfolg" - Weitere Verstaatlichungen angekündigt - Kritik: "Plan für Arbeit" = "Plan für
Entrechtung" - Fidesz-nahe Verfassungsrichter eingesetzt - Recht auf Anwalt wird eingeschränkt - tausende öffentlich Bedienstete ohne Begründung gekündigt -
Invalidenrentner werden auf Simulanten überprüft - MAL wird aus Staatsaufsicht entlassen
"Nationales Interesse" verhinderte Demonstrationen gegen Gast aus China
Viktor Orbán verteidigte vor dem Parlament das Unterbinden von Protesten anläßlich des Besuches des chinesischen Ministerpräsidenten Wen Jabao in Budapest. Polizisten hatten mit Sichtsperren und weiträumigen Absperrungen, auch Platzverweisen eine Tibet-Demo
verhindert. Besonders kritisiert wurde, dass das Einwanderungsamt in Ungarn lebende Tibeter just zurm Zeitpunkt einer geplanten Demo ins Ausländeramt einbestellte. Sogar
Fidesz-Politiker unterzeichneten gegen diese Maßnahmen eine Protestresolution, ein für Fidesz-Verhältnisse eigentlich ungeheuerlicher Vorgang. Kommentatoren erinnerten Orbán
an seine Äußerungen, wonach der "Kommunismus das größte Verbrechen an der Menschheit im 20. Jahrhundert" war, wie könne er da einen solchen Kniefall vor den
chinesischen Kommunisten vollführen. Auch sind früher Fidesz-Abgeordnete demonstrativ mit Tibet-Fahnen aufgetreten...
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Total spontan trifft hier Wen Jabao ganz normale Budapester bei seinem Rundgang am Donauufer.
Diese machten von ihrer Meinungsfreiheit Gebrauch, waren frei von Meinung... Foto: MEH
Orbán reagierte darauf mit den Worten, "Ungarn ist ein freies Land, wir wollen
Demonstrantionen gegen ausländische Besuche nicht unterbinden." - Aber(!) - es sei angezeigt, “alle rechtlichen Möglichkeiten einzusetzen, die Staatsziele zu schützen... Es
war zu erwarten, dass die Protestanten Regierungsbemühungen unterminieren, die dem nationalen Interesse dienen". Und weiter: "Die Meinungsfreiheit ist in Ordnung, aber
Skandale und Unruhe stiften sind es nicht." so Orbán über seine Haltung zur Versammlungsfreiheit, kurz: die chinesischen Milliarden waren wichtiger als die
Gewährung lästiger demokratischer Grundrechte, eine Haltung, die von der Rechten mit "Pragmatik" und "Notwendigkeiten" verteidigt wird, mehr dazu: siehe Geschichte der DDR
und weitere. Den Vogel zu diesem Thema schoss Regierungssprecher Péter Szijjártó ab, der in einer Fernsehsendung anmerkte, dass "China deshalb Ungarn für seine Investitionen
gewählt hat, weil Ungarn derzeit das stabilste politische System in ganz Europa hat."
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EU-Kommissionspräsident Barroso und Orbán vor wenigen Tagen in Brüssel. Sie konnten den
erfolgreichen Abschluss der Beitrittsverhandlungen mit Kroatien verkünden. Vollzogen dürfte der Beitritt erst 2013 sein. Foto: fidesz.hu
EU-Ratspräsidentschaft "ein voller Erfolg"
Weiteren Raum nahm das Selbstlob der Regierung für ihre exzellente
EU-Ratspräsidentschaft ein, die Europa - dank Ungarn - handlungsfähiger gemacht habe. In wenigen Tagen übergibt Orbán das Ruder an Polen. Er nannte vor allem die
abgeschlossenen Verhandlungen über den EU-Beitritt von Kroatien als wichtigen Erfolg, aber auch die - wie zu befürchten und von Budapest erwünscht war - äußerst vage gebliebene EU-Romastrategie. Ungarn habe viel von der Reputation wieder gewonnen, die
andere Regierungen vorher verspielt haben, ist sich Orbán sicher, man habe 98% der Ratspräsidentschaftsziele erreicht. Außenminister Martonyi erwartet vom slowenischen
Premier übrigens noch eine Richtigstellung seiner Anmerkungen, wonach Ungarn "gleich mit Ende der Ratspräsidentschaft isoliert" werden wird.
Er resümierte hinsichtlich der Wirtschaft: "Die Welt um uns herum ist in großen
Schwierigkeiten, wir sollten nicht viel Hilfe von dort erwarten." "Das westliche Europa hat große Probleme, der einzige Grund für Optimismus besteht in der Tatsache, dass wir (in
der EU, Anm.) gegen diese Krise ankämpfen." Mit diesen Worten begründete er vor den Parlamentariern einmal mehr die Notwendigkeit für einen ungarischen Sonderweg. Man müsse hart am Wind segeln und zudem in die entgegengesetzte Richtung wie
Griechenland. Die ökonomische Strategie Ungarns müsse vor allem auf die eigenen Kräfte setzen, zumal nicht einzuschätzen sei, ob die "westliche Krise" zu einer Stagnation oder
bald wieder zu einer Rezession führt. Ungarn werde sich zukünftig nur noch am freien Kapitalmarkt bedienen, Kredite bei anderen internationalen Kreditgebern aufzunehmen,
sei nicht in Ungarns Interesse, weil dies die wirtschaftliche Freiheit behindere.
Weitere Verstaatlichungen in Ungarn angekündigt
Orbán hält die forcierten Privatisierungen in Griechenland für Notmaßnahmen, die dem
Land letztlich nicht nutzen werden, im Gegenteil, seine Abhängigkeit von "fremden Mächten" auf lange Sicht festschreiben. Griechenland sei ja praktisch unter "ausländischer
Aufsicht", Ungarn hingegen werde sich von der Vormundschaft der internationalen Finanzmärkte befreien und - dies ein Standardsatz Orbáns - die Wirtschaft wieder auf die
Füße stellen. Dazu gehören auch staatliche Beteiligungen an strategischen Industrien, sagte der Premier mit Verweis auf den gerade getätigten Erwerb von 21,2% der Aktien an der MOL für knapp 2 Mrd. EUR (+ weitere rund 2,5% aus den beschlagnahmten Beständen
der privaten Rentenversicherer). Vor allem "im Energiesektor werde der Staat eine größere Rolle spielen" sagte auch Minister für Nationalentwicklung, Tamás Fellegi, auf
einer Pressekonferenz nach dem OPEC - EU - Treffen in Gödöllö. Konkrete Vorhaben nannte der Minister jedoch nicht, meinte nur, dass jedes Engagement des Staates profitabel sein sollte.
Kritik am "Plan für Arbeit"
Derweil mehren sich die Stimmen, die den neuen "Ungarischen Arbeitsplan" (wir berichteten hier) kritisieren. Das Kooperationsforum der großen
Gewerkschaftskonföderationen (SZEF) spricht davon, dass "was die Regierung Flexibilität nennt, nichts anderes als Entrechtung" ist. In Zukunft sei es leichter, Mitarbeiter zu
entlassen, sogar für hochqualifizierte Mitarbeiter gäbe es dann weniger sichere Arbeitsplätze, was eine Abwanderung beschleunigen könnte. Insgesamt seien die Pläne der
Regierung nicht geeignet, dauerhaft, nachhaltige Arbeit zu schaffen. Auch Arbeitsmarktexperten bemängeln, dass der Plan wieder einmal auf zu optimistischen
Prognosen hinsichtlich des Wirtschaftswachstums aufgebaut wurde. Auch schaffe die Herausdrängung der Gewerkschaften aus der Sozialpartnerschaft nachteilige
Verhandlungspositionen für Beschäftigte gegenüber ihren Arbeitgebern.
Die fünf neuen Richter des Verfassungsgerichtes gestern in Parlament (hinter der Balustrade)
Fidesz setzt parteinahe Verfassungsrichter ein
Die Regierungskoaltion von Fidesz-KDNP hat - wie zu erwarten - alle fünf eigenen
Kandidaten für die neu zu besetzenden Posten am Verfassungsgericht abgesegnet. Die
Fünf sind allesamt der Regierung zugeneigt, einige davon sogar direkt aus Parteikreisen stammend. Der neue Verfassungsrichter István Balsai, war früher Justizminister und ist
heute Fidesz-Abgeordneter, der Anwalt Péter Szalay vertritt die Belange vieler Parteigrößen. Weiter auf der Liste, Mária Szivos, früher Richterin am Hauptstädtischen
Gericht in Budapest, der "Politikwissenschaftler" Béla Pokol sowie - für die Christdemokraten am Start - Egon Dienes-Oehm, der als Experte für EU-Recht bezeichnet
wird. Die Ernennungen folgen dem neuen Gesetz, in dem die Zahl der Verfassungsrichter erhöht wurde, bereits zuvor wurde eine freie Stelle mit István Stumpf, dem ehemaligen
Kabinettschef der ersten Orbán-Regierung besetzt, die endgültige Umwandlung des ohnehin eingeschränkten Verfassungsgerichtes in eine Fidesz-Filiale kann dann mit Inkraftreten der neuen Verfassung 2012 stattfinden, in der die Absenkung des
Rentenalters der obersten Richter auf 70 Jahre für entsprechende Bereinigungen sorgen wird.
Die Oppositionspartei LMP blieb aus Protest gegen das Prozedere der Abstimmung fern,
die Art und Weise der Nominierung sei eine weitere Verhöhnung des Parlamentes gewesen, die "Befragungen" der Kandidaten war in weniger als zehn Minuten
abgeschlossen, eine Prüfung, ob sie für die verantwortungsvollen Posten überhaupt geeignet sind, war so überhaupt nicht möglich.
Recht auf einen Anwalt wird eingeschränkt
Ebenfalls durchgewunken, wurde eine Bestimmung, wonach bei “besonderen Fällen” 24
Stunden lang polizeiliche Verhöre ohne Beistellung eines Rechtsvertreters ermöglicht werden. Damit wurde der ursprüngliche Vorschlag von 48 Stunden zwar halbiert, was aber
nichts an dem Umstand ändert, dass es in dem EU-Land Ungarn in Zukunft möglich wird, Menschen ohne Zeugen und Rechtsschutz zu verhören. Die besonderen Fälle wurden von
“Amtsmissbrauch, Korruption, Untreue von Steuermitteln”, noch um “Kriegsverbrechen und Verbrechen gegen die Menschlichkeit, Mord, Entführung, Terrorakte und
Mitgliedschaft in einer terroristischen Vereinigung” erweitert, weil man wohl im Eifer um die Jagd auf die sozialliberalen Diebesbanden glatt Kapital- und Menschheitsverbrechen
vergaß. Bei der Abstimmung hierüber ergab sich das Novum, dass 14 Fidesz-Abgeordnete sowie ein Angehöriger der KDNP gegen den Regierungsentwurf votierten, dieser erklärte,
dass der Zugang von Anwälten zu Verdächtigen in keinster Weise eingeschränkt werden darf. Die Mehrheit der Regierungsfraktion sieht das anders. Weitere Verschärfungen beim Umgang mit Verdächtigen sind im Gespräch. Eine Reaktion des Obersten Gerichtshofes finden Sie hier.
Auch ein Gesetz zu Sondersteuern für die Pharmabranche sowie Reformen bei der
Medikamentenfinanzierung ging am Montag durchs Parlament. Über die “minimalinvasiven” Reformen und deren Hintergründe berichteten wir hier, über die
Drohgebärden der Pharmalobby hier.
Tausende öffentlich Bedienstete fielen Kündigungswelle zum Opfer
Eine parlamentarische Anfrage veranlasste das Ministerium für Justiz und Öffentliche
Verwaltung Zahlen über die umstrittenen "Kündigungen ohne Begründung" zu veröffentlichen. Nach Ministeriumsangaben ereilte 749 Mitarbeiter von "Regierungsstellen"
also Ministerien und nachgeordneten Einrichtungen das Schicksal der begründungslosen Kündigung. Die links-liberale Zeitung Népszabadság machte hingegen eine andere
Rechnung auf, denn sie fand heraus, dass 5% aller 65.000 als Staatsmitarbeiter geführte seit der "Wende" entlassen worden sind, 11% davon ohne Begründung, was 3.200
Menschen betrifft. Teilweise seien ganze Abteilungen pauschal ausgetauscht worden. Die Gewerkschaft des öffentlichen Dienstes geht sogar von 5.000 Fällen aus, jene
mitgerechnet, die zwar eine Begründung, jedoch eine vollkommen abwegige erhalten hätten.
Die "Kündigung ohne Begründung" war nach einem Fidesz-Gesetz zur "Effektivierung des
öffentlichen Dienstes" möglich geworden, wurde jedoch vom Verfassungsgericht als "gegen
die Menschenwürde" gerichtet, gestoppt. Daraufhin hat sich die Regierungspartei eine
großzügige Übergangsphase verschafft, bis die Verfassungskonformität wieder hergestellt wird. Nun, seit Juni sind unbegründete Entlassungen nicht mehr möglich, allerdings gelten
solche Kategorien wie "Vertrauensverlust" oder "unwürdig" auch ohne weitere Spezifikation
als ausreichender Grund. Gründliche Aufräumarbeiten in den ministeriellen Einrichtungen sind aufgrund der ausgeuferten Korruption nebst entsprechender Netzwerke eine
dringende Notwendigkeit, allerdings wurde in der Praxis schnell ersichtlich, dass die dafür geschaffenen Sondergesetze vor allem der parteilichen Gleichschaltung dienten.
Invalidenrentner werden auf Simulanten überprüft
In Ungarn gibt es ca. 750.000 Invalidenrentner, mit die höchste Quote in der EU, z.B.
neben Griechenland. Viele dieser Invaliden bessern sich ihr staatliches Einkommen indes durch Schwarzarbeit auf, ein doppelter Schaden für den Staat und für die ehrlichen
Steuerzahler entsteht. Bereits vor mehreren Monaten hatte die Regierung angekündigt, die Attestierung des Invalidenstatus` nicht mehr einfach leicht bestechlichen Ärzten zu
überlassen, sondern eine zentrale staatliche Kommission damit zu beauftragen. Diese wird auch viele "Altfälle" unter die Lupe nehmen.
Nach Informationen aus dem Gesundheitsministerium werden die Akten von rund 220.000
Invalidenrentnern geöffnet, sie müssen sich auf eine neuerliche Überprüfung ihres Gesundheitszustandes und möglicherweise auf Aberkennung des Invaliditätsstatus`
einstellen. Untersucht werden demnach alle, die mehr als fünf Jahre unter dem gesetzlichen Rentenalter sind, da es "sinnlos wäre, ältere Menschen wieder zum arbeiten
zu zwingen", sagte Staatsekretär Gábor Posfai. Eine Äußerung, die mehr als geheuchelt erscheint, werden doch bald per Gesetz sämtliche Frührentner - auch die älteren - zu
Sozialhilfeempfängern deklariert und mit finanziellen Sanktionen bedroht, wenn sie nicht zu einer Arbeits- resp. Beschäftigungsaufnahme bereit sind.
MAL wird aus Staatsaufsicht entlassen
Die vom Parlament im letzten Oktober per Eilgesetz ("Lex MAL") unter Staatsaufsicht
gestellte Aluminiumhütte in Ajka, deren Abfälle für den Tod von zehn Menschen, zerstörte Orte und eine ruinierte Umwelt verantwortlich sind, wird zu Ende Juni beendet. Das teilte
der Regierungsbeauftragte Zoltán Bakondi mit. Mit dem Gesetz wollte der Staat verhindern, dass Katastrophenverursacher Kapitalwerte beiseite Schaffen und sich so aus
der Verantwortung stehlen können. Dieses Vorgehen war aber von Anfang an rechtlich umstritten, da so eine Vorverurteilung am Rechtsweg vorbei stattfindet, die den Staat
später vor Gerichten teuer zu stehen kommen könnte.
Staatskommissar Bakondi ist sich sicher, dass von der MAL "nicht länger ein signifikantes
ökologisches Risiko ausgeht", das Unternehmen hätte "eine technische Überholung erfolgreich abgeschlossen ohne seine Marktposition einzubüßen." Ob die bisherigen
Manager in ihrer Position bleiben “müssen die Eigentümer entscheiden”.
Derzeit laufen einige erste zivilrechtliche Prozesse von Opferfamilien um Schadensersatz,
ein Grundsatzurteil zur Schuldfrage und strafrechtlichen Verwantwortung gibt es immer noch nicht. - Was mit dem Giftschlamm wirklich los ist, erfahren Sie in dieser Reportage über “schmutzige Geheimnisse”, alles weitere über die Katastrophe und ihre Aufarbeitung auf unserer Themenseite.
red. /ms.
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