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(c) Pester Lloyd / 47 - 2011  POLITIK 23.11.2011

 

Retourkutschen auf Probefahrt

Wieder nationalistischer Kleinkrieg zwischen Ungarn und der Slowakei

Die Slowakei bürgert einen Angehörigen der ungarischen Minderheit aus, weil er sich den ungarischen Pass besorgt hat. Das ruft die ungarischen Nationenschützer auf den Plan, aber auch das slowakische Verfassungsgericht. Und so eskaliert wieder einmal der völlig absurde und gekünstelte Streit zwischen beiden Ländern, ein lächerliches Schmierentheater der führenden Politikern beider Länder. Vor den Neuwahlen in der Slowakei diktieren dort die gleichen irrationalen Argumente die Politik, die in Ungarn längst Staatsdoktrin sind.

Als Ungarn das Gesetz zur vereinfachten Erlangung der ungarischen Staatsbürgerschaft verabschiedete, um damit den Zusammenhalt der "Nation" zu erhöhen, rächte sich der damalige slowakische Premier Robert Fico mit zwei Gesetzen an den Nachbarn. Das eine war ein Gesetz, das die Anwendung von Minderheitensprachen im öffentlichen Raum reglementierte und zur Gängelung der Slowakenungarn eingesetzt werden sollte, das andere ermöglicht es, slowakischen Bürgern, die sich für den ungarischen Zweitpass entscheiden, die slowakische Staatsbürgerschaft abzuerkennen.

Der damalige Oppositionsführer Viktor Orbán reklamierte 2010 auf der symbolisch stark belasteten Grenzbrücke von Komárom die “Vertretung aller Ungarn im Karpatenbecken”. Nun kann er seinen Worten Taten folgen lassen...

Der Fall Boldoghy lässt alten Streit wieder aufflammen

Es war das Verdienst der Mitte-Rechts-Koalition unter Ministerpräsidentin Iveta Radovica, dass der von beiden Seiten kalkuliert zur Eskalation gebrachte Streit zwischen den Nachbarn beruhigt wurde und eine Rückkehr zu einer gewissen, wenn auch fragilen Pragmatik möglich wurde. Doch seit einigen Tagen ist wieder "Stimmung" zwischen den beiden Kampfhähnen, ging die Bombe doch noch hoch, als Spätzünder sozusagen: Am Dienstag Nachmittag berief das ungarische Außenministerium den slowakischen Botschafter Peter Weiss im Fall des Olivér Boldoghy ein.

Dem Angehörigen der ungarischen Minderheit in der Slowakei wurde letzte Woche vom slowakischen Innenministerium die slowakische Staatsbürgerschaft entzogen, nachdem dieser die ungarische aufgenommen hatte. Zsolt Németh, Staatssekretär im Außenminister, teilte seinem Kollegen Weiss mit, dass Ungarn das Vorgehen der Slowakei als inakzeptabel bewerte und die ungarische Regierung eine derartige Einschüchterung der ungarischen Minderheit in der Slowakei entschieden ablehne. Das Vorgehen sei nicht mit den grundsätzlichen Werte der Europäischen Union kompatibel.

Die Slowakei als außerirdischer, fremdartiger, feindlicher Krieger: keine Pressecollage, sondern gefunden auf der Facebook-Seite von Boldoghys Initiative: http://hu-hu.facebook.com/EJKPT

Boldoghy, gebürtiger Slowake und Aktivist der national orientierten Bewegung „Egy jobb Komáromért“ (Für ein besseres Komárom) hatte letzte Woche auf einem slowakischen Nachrichtenportal bekannt gemacht, dass am Freitag ein Brief aus Bratislava kam, der ihn darüber in Kenntnis setzte, dass nachdem er nun ungarischer Staatsbürger sei, man ihn aus dem slowakischen Staatsbürgerregister gestrichen habe und er daher keinen offiziellen Wohnsitz mehr besitze.

Der Vizepremier macht sich Sorgen um den selbständigen Unternehmer...

Zsolt Semjén, für Nationalitätenpolitik zuständiger Vizepremier und Zsuzsanna Répás, stellvertretende Staatsekretärin für Nationalitätenpolitik, hatten das Vorgehen der Slowakei bereits am Samstag in einer gemeinsamen Verlautbarung scharf kritisiert und die Empörung der ungarischen Regierung darüber ausgedrückt, dass „der betroffene Person gegen ihren Willen die slowakische Staatsbürgerschaft aberkannt wurde“. Außerdem wiesen sie darauf hin, dass Boldoghy als selbstständiger Unternehmer aufgrund dieser Entrechtung erhebliche Beeinträchtigungen in seiner Lebensgestaltung erfahre.

Außenminister János Martonyi betonte am Abend in einer Fernsehsendung die Absurdität des Gesetzes, auch deshalb, weil es gegen die slowakische Verfassung verstoße, welche besagt, dass man niemanden gegen seinen Willen die slowakische Staatsbürgerschaft entziehen darf. Die Einberufung des slowakischen Botschafter sei nur der erste Schritt des Prozesses gewesen. Er versprach Boldoghy die uneingeschränkte Unterstützung der ungarischen Regierung, über weitere Schritte könne man jedoch erst beraten, wenn das slowakische Verfassungsgericht über die Fico-Gesetze entschieden habe.

Auch gab Martonyi seine Überraschung über das slowakische Vorgehen preis, da er eine solche Provokation nach den guten Entwicklungen der ungarisch-slowakischen Beziehungen der letzten Zeit nicht erwartet hatte und betonte, dass er sehr darauf vertraue, dass die Maßnahme keine bewusste politische Provokation und ein einmaliger Vorfall bleibe.

Hatte viel vor, aber mit der Eurokrise längst die Kontrolle verloren. Die damals noch hoffnungsfrohe Ministerpräsidentin Iveta Radovica mit ihren Koalitionspartnern.

Gezielte Provokation aus dem Fico-Lager - Kontrollverlust von Radovica

Das Gesetz sorgte bereits bei seiner Verabschiedung für viel Aufsehen und wurde als slowakische „Revanche“ des damaligen Ministerpräsidenten Robert Fico, als Antwort auf das neue ungarische Staatsbürgerschaftsgesetz gewertet. Nachdem die auf Fico folgende Ministerpräsidentin Iveta Radicova letztes Jahr jedoch ankündigte, das Gesetz rückgängig machen zu wollen, kam wieder etwas Ruhe in die Affäre.

Auch die Abschwächung und Strafaussetzung des umstrittenen Sprachengesetzes flößte Vertrauen ein (es wurde bis heute faktisch nicht angewandt.) Nun, da Radovicas Regierung über die Eurorettung stolperte und der slowakische Wahlkampf für die Wahlen im März langsam ins Rollen kommt, könnte auch der slowakisch-ungarische Konflikt wieder Fahrt aufnehmen, denn Radovica hat keine automatische Mehrheit mehr im Parlament.

So ist die Aktion gegen den Slowakenungarn als politische Provokation der in Umfragen knapp vorne liegenden Sozialdemokraten um Robert Fico zu betrachten, die schon einmal mit der offen rassistischen SNS koalierten. Immerhin sind weite Teile der Verwaltungs- und Exekutivstruktur der Slowakei immernoch von Fico-Leuten besetzt. Doch auch auf konservativer Seite ist nicht viel demokratisches Verständnis zu erwarten. So wurde gerade der Verteidigungsminister entlassen, weil er Journalisten als Staatsfeinde bespitzeln ließ. Der Vorstoß des Innenministeriums in der Passfrage ist ein weiterer Hinweis darauf, dass Regierungschefin Radovica die Kontrolle entglitten ist, denn wie kann es sein, dass eine Entscheidung, die zwangsläufig Wellen schlagen musste, hinter ihrem Rückgen getätigt wurde, wie das behauptet wird.

Setzt stramm auf die nationalistische Karte, nennt sich aber dennoch: Sozialdemokrat (was sagen eigentlich die europäischen Genossen dazu?) und nutzt auch einen ausgewiesenen Rassisten und Hassprediger als Mehrheitsbeschaffer. Ex-Premier und Smer-Chef Robert Fico, dahinter der ehemalige SNS-Parteivorsitzende Jan Slota.

Das politische Personal ist zu europäischem Handel unfähig und unwillig

Die gleiche Funktion wie die Fico-Rachegesetze, nämlich die einer Wahlhilfe und Machtstütze, erfüllt im übrigen auch die "Nationenpolitik" der ungarischen Regierung, einschließlich des anachronistischen, weil durch EU- und Schengenregelungen längst vom Leben überholten Staatsbürgerschaftsgesetzes, das Ungarn nicht aus Bekenntnis, sondern nach Abstammung definiert, dessen Kriterien nachweislich völkische Züge tragen, auch wenn das von Regierungstreuen immer wieder geleugnet wird.

Auch bei der ungarischen Politik geht es nicht um Minderheitenrechte, sondern eine Erweiterung der Einflusssphäre und der zukünftigen Wählerbasis. Angehörige der ungarischen Minderheiten im Ausland erhalten künftig das Wahlrecht für Ungarn, obwohl sie nie in Ungarn gelebt haben, was die Frage nach der Loyalität durchaus zu einer berechtigten macht.

Dazu geriert sich das "Kernland" als Aufpasser und Sponsor in Minderheitenangelegenheiten, auch wenn sich gewählte Vertreter dieser Minderheiten selbst längst besser artikulieren können und in Rumänien, aber auch der Slowakei sogar mit in der Regierung - im Parlament sowieso - sitzen und relativ behutsam an einem vernünftigen Verhältnis mit der Mehrheit arbeiten. Auf eine parlamentarische Vertretung ethnischer Minderheiten, gar auf eine Regierungsbeteiligung wird man in Ungarn - von einer Alibilösung im nächsten Wahlgesetz abgesehen - bis zum Sanktnimmerleinstag warten.

Orbán formulierte durch seine Taten nicht nur einmal den Alleinvertretungsanspruch für "alle Ungarn im Karpatenbecken", womit er sich vom Niveau in ungefähr bei den sich in ihrer Staatlichkeit bedroht fühlenden Slowaken vom Schlage Ficos und Slotas bewegt. Parlamentspräsident Kövér sieht schon mal "überall Ungarn, wo Ungarn leben" und slowakische Nationalisten wollen am liebsten die Armee aktivieren. Solange solche Akteure am Werk sind, ist eine gleichberechtigte europäische Normalität für Mehr- und Minderheiten, die aufgrund bestehenden Gemeinschaftsrechtes ohne weiteres möglich wäre, offenbar nicht machbar, denn die Handelnden sind dazu weder fähig noch willig.

Varga / red.

 

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