(c) Pester Lloyd / 48 - 2011
POLITIK 28.11.2011
Kein Essen, kein Licht
Polizei statt Demokratie: In Esztergom wächst die Wut
Die Situation in der Stadt Esztergom hat sich ein weiteres Mal verschärft. Die Machtspielchen der Fidesz-Fraktion führten dazu, dass Straßenbeleuchtung und
Schulessen eingestellt werden mussten. Polizeiverstärkungen rückten ein, um die Stadtverordneten vor wütenden Bürgern zu schützen. Die protestieren nicht nur
gegen die absurde Arroganz der Lokalpolitiker, sondern auch gegen die Ad hoc-Übertragung städtischer Einrichtungen an den Zentralstaat.
Neuwahlen, so die Hauptforderung der Demonstranten, die letzte Woche wegen des Ausverkaufs der
städtischen Einrichtungen vor das Rathaus zogen. Sie wolle der Fidesz-Mehrheit endlich die Quittung für deren Einstellung zu Rechtsstaat und Demokratie präsentieren. Fotos: MTI
Nachdem der frühere Fidesz-Bürgermeister Meggyes, der die Stadt ruinierte, Eigentum
der Stadt verpfändete, Gelder für sachfremde Zwecke abzweigte, von einer breiten Bürgerkoalition abgewählt worden war, verhinderte er zunächst die Amtsübergabe,
seitdem blockiert die Fidesz-Mehrheit in der Stadtversammlung jeden Versuch der unabhängigen Bürgermeisterin Éva Tétényi, Ordnung in den hinterlassenen Saustall zu
bringen. Die Schulden der Stadt sind enorm, nicht durch Mangel an Einnahmen, sondern durch Misswirtschaft und Unterschlagung in Größenordnungen.
Bereits einmal, genau vor einem Jahr, stand die Stadt, die längst zum Symbol
machtpolitischer Idiotie geworden ist, im Dunkeln (siehe hier), seit Mittwoch ist wieder einmal ein Großteil der öffentlichen Straßenbeleuchtung abgeschaltet, der Versorger Tivi
zog so die Konsequenzen aus verstrichenen Zahlungsultimaten. Rund 130 Mio. Forint sind ausständig (heute noch ca. 400.000 EUR).
Besonders kurios: statt Hilfsgeldern oder eines weisen Rates an die Parteikollegen in
Esztergom, setzte die Regierung in Budapest zusätzlich 40 Polizisten in Marsch, "um die öffentliche Sicherheit" während der Dunkelphase aufrecht zu erhalten, so die offizielle
Version. Wütende Esztergomer schrien ihnen entgegen, dass die Polizei lieber im Rathaus aufräumen sollte als auf den Straßen. Das taten sie dann auch und gingen zum Teil
gewaltsam gegen Demonstranten vor, die in den Rathausfluren ihrem lange angestauten Unmut Luft machten.
Heiß her ging es auch im Rathaus. Die Polizei entfernte mit Gewalt diverse “Ruhestörer”, die der
Stadtversammlung ihre Sicht der Dinge kundtun wollte. 40 Polizisten wurden dafür zusätzlich aufgeboten, dafür gibt es also Kapazitäten. Warum MTI die Polizisten unkenntlich macht? Schlechtes
Gewissen?
Fidesz-Fraktion übergibt öffentliche Einrichtungen in Staatsobhut
Neben der Misswirtschaft und der Blockadepolitik richteten sich die Proteste der Bürger
gegen einen aktuellen Beschluss der Fidesz-dominierten Stadtversammlung, die wichtigsten Institutionen der Stadt (Schulen, Spitäler, Gymnasien, Berufsschulen,
Kulturhäuser) in die Trägerschaft des Staates zu übergeben. Ein Eil-Sondergesetz, gestern ins Parlament eingebracht vom (Fidesz-)Justizminister, macht das möglich, mit
komitatseigenen Einrichtungen wurde die Übernahme bereits flächendeckend per Dekret
durchgesetzt. Auf diese Weise ist man die Finanzierungsproblematik und die Schulden los
und ganz nebenbei sichert sich das Fidesz so den Einfluss in den Institutionen auch über eine erwartbare Verschiebung der Machtverhältnisse bei Neuwahlen in Esztergom hinaus.
Das Sondergestz sagt lapidar, dass die Stadt Esztergom "nicht über genügend Ressourcen"
zum Betrieb der mehr als ein Dutzend in Frage stehenden Einrichtungen verfügt, die "Betreibung sei daher verfassungswidrig.", so Justziminister Navracsics. Dass es allein der
"Arbeit" des Fidesz-Bürgermeisters Meggyes und seiner bis heute aktiven Fraktion zu verdanken war, dass Esztergom fast zahlungsunfähig wurde, hat hingegen keine Konsequenzen.
1600 Kinder bleiben ohne Essensbelieferung
Mehr als einmal hatte die Bürgermeisterin die Fidesz-Zentrale gebeten, die Parteikollegen
in Esztergom zur Vernunft zu bringen, half aber nichts, sogar die Einsetzung eines Regierungskommissars schlug sie vor. Nun entsandte Orbán also die Polizei, um die
Fidesz-Macht im Ort aufrecht zu erhalten, offenbar hofft man immer noch, die Bürgermeisterin werde irgendwann hinschmeissen.
Ebenfalls eingestellt hat seine Lieferungen das Catering Unternehmen HunGast, auch
wegen unbezahlter Rechnungen, somit bleiben 1600 Kinder in Kindergärten und Schulen ohne Essensversorgung, auch Kinderheime und Einrichtungen für Behinderte und Rentner
sind betroffen, der Schuldenstand hier: 130 Mio. Forint.
Besonders zynisch klang da die Ankündigung des Fidesz-Fraktionschef in der
Stadtversammlung, Balázs Steindl, der meinte, dass "die Stadtversammlung eine Entscheidung vorbereite, die die Probleme lösen werde." Dabei lässt die Fraktion jeden
Antrag, jede Sitzung platzen, so lange nicht dessen Forderung nach Wiederherstellung einer Quasi-Alleinherrschaft erfüllt werde. Nun forderte die Fidesz-Fraktion die
Bürgermeisterin empört auf, die Rechnungen "umgehendst" zu bezahlen, nachdem die gleichen Leute vorher die Freigabe der Gelder verhindert hatten.
Éva Tétényi, deren aussichtsloses Ringen um ein Mindestmaß an Vernunft sie mittlerweile
landesweit berühmt gemacht hat, wäre jederzeit bereit für Neuwahlen zurückzutreten, wenn die Stadtversammlung ebenfalls ihre Auflösung erklärte. Einige demonstrierende
Bürger der Stadt forderten am Freitag das gleiche vor und im Rathaus, bis die Polizei sie wegtrug. Auch ein kurzes Gespräch der Stadträte mit der Bürgermeisterin an "neutralem
Ort" brachte wieder einmal nichts. In Budapest verweist man lustigerweise immer auf die
"Autonomie" der Selbstverwaltung und dass man sich nicht in "demokratische Prozesse" der Kommunen einmischen könne. Die Bürger von Esztergom finden das langsam nicht mehr
lustig.
Die Lichter an der berühmten Basilika von Esztergom sind übrigens nicht ausgegangen, die
Kirche zahlt ihre Rechnungen pünktlich. Nun, da das Christentum quasi Verfassungsrang hat, wäre es da nicht an der Zeit, dass das Gebot der Nächstenliebe auch zu praktischen Schritten führt?
red.
Zum Thema:
Chaos in Esztergom geht weiter - Mai 2011 http://www.pesterlloyd.net/2011_21/21chaosesztergom/21chaosesztergom.html
Viktor, hilf! - Neues aus Absurdistan
Machtkampf im ungarischen Esztergom spitzt sich zu - Juli 2011 http://www.pesterlloyd.net/2011_29/29esztergom/29esztergom.html
Demokratie im Dunkeln - November 2010
Warum in Esztergom die Lichter ausgegangen sind http://www.pesterlloyd.net/2010_47/47esztergom/47esztergom.html
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