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(c) Pester Lloyd / 03 - 2012      GESELLSCHAFT 20.01.2012

 

Neue Ängste, alte Lügen

Der Fall Ungarn als Warnung und Chance für Europa

Am Beispiel Ungarns kann, ja muss Europa heute studieren, was geschieht, wenn Populisten vom Schlage Orbáns sich unserer finanziellen und sozialen Krisen annehmen, weil die Demokraten die sich stellenden Systemfragen nicht beantworten können - oder wollen. Den Menschen in Ungarn, die - wie hier zu sehen - ganz anderes bewegt als Mediengesetz und neuer Nationalismus, hat man ein ums andere Mal Freiheit und Wohlstand versprochen und sie jedesmal bitter enttäuscht. Wie weiter?

In dieser Woche startete die EU erste Vertragsverletzungsverfahren gegen den einstigen Musterschüler und „Zaunöffner“der Wendezeit. War es vor einem Jahr vor allem das Mediengesetz, das viele westliche Beobachter in Sorge brachte, sieht man heute den ganzen Rechtsstaat und die Demokratie gefährdet, es hagelt „Diktatur“-Warnungen, aus dem Premier wurde ein „Puszta-Putin“. Pauschalurteile, Uninformiertheit und selektive Wahrnehmung im Westen treffen auf ebenso reflexhafte Abwehr aus Ungarn, gegen eine „linksliberale Hegemonie“. Ungarn ist wieder das Opfer von bösem Willen, Fehlinformationen und fremden Mächten. Das Lebenslied eines Landes?

I Neue Existenzangst

„Demokratie kann ich nicht essen“, sagt trocken Ágnes Szabó, und das Mediengesetz versteht sie nicht, „das TV-Programm war unter den Kommunisten genauso schlecht wie heute." Ágnes Szabó, Mitte 40, arbeitet in einer Firma für Textilmarketing in Budapest, zum Mindestlohn von netto 66.000 Forint, wie fast alle ihrer Kollegen. „Den Rest bekomme ich schwarz. Mich richtig anzustellen, das kann sich mein Chef nicht leisten, bei den hohen Abgaben.“ Sie kam Ende Dezember auf rund 400 EUR Einkommen, Vollzeit und mit „Provisionen“. Allein die Heizkosten in ihrem Plattenbau lagen im „milden Dezember“ bei 100 EUR, Benzin kostet mehr als in Österreich, der Liter Milch fast einen Euro.

Weniger Geld als zuvor in der Tasche

„Wegen der neuen Flat tax (dem darin enthaltenen Superbrutto, Anm.) wird es etwas weniger werden dieses Jahr, denn der Chef stellt uns nur noch auf Vier-Stundenbasis, statt acht ein, sonst kann er die Sozialabgaben nicht mehr zahlen", was aber auch ihre Ansprüche an den Staat vermindert, vor allem wenn sie arbeitslos werden sollte, „was jeden Tag passieren kann, dann sieht es finster aus.“ Ihr Chef, der hat ein paar hundert Euro mehr im Monat, auch Dank der Einkommenssteuer von nur noch 16%, die, wegen ihrer vielen Übergangs- und Kompensationsregelungen die erste mehrstufige Flat tax der Welt ist und eigentlich alles besser machen sollte. Von seinen vier Autos hat die Bank gerade zwei gepfändet. Manchmal wartet Frau Szabó auch Wochen auf ihr Gehalt.

An Versprechungen ihres Chefs oder der Politik glaubt Frau Szabó längst nicht mehr. „Die Kommunisten (sie meint damit vor allem die sozialliberalen Vorgängerregierungen), haben sich genommen, was sie brauchten und den Rest des Landes sich selbst überlassen.“ Deshalb hat sie voriges Jahr Fidesz gewählt. Orbán traute sie zu, wie jeder Zweite, der zur Wahl ging, „endlich Ordnung zu schaffen.“ Neue Arbeitsplätze (Eine Millionen binnen zehn Jahren sollten es sein), Schluss mit Korruption und Vetternwirtschaft, endlich ein einfaches Steuersystem, Chancen für jeden, sich freizuschwimmen. Ein sicheres Leben, vielleicht ab und an mal einen schönen Urlaub, „mehr erwartet man gar nicht“. Italien würde sie gern einmal besuchen.

Ihr Mann, Ervin, ist Frührentner. Das heißt er ist es gewesen. Früher war er Feuerwehrmann, 30 Jahre lang. Seinesgleichen, heute dargestellt als Systemschmarotzer, werden ab diesem Jahr „dem Arbeitsmarkt wieder zugeführt“, wie es der Nationalwirtschaftsminister Matolcsy sagte. Ungarn kann sich das System „großzügiger“ Frührenten nicht mehr leisten. „Wer arbeiten kann, soll auch arbeiten.“ Ihr Mann, sagt Ágnes, wolle auch arbeiten, nicht mehr als Feuerwehrmann, das schafft er nicht mehr, aber er hätte gerne einen Job, vielleicht als Hausmeister. Aber ihn nimmt keiner, es gibt diese Arbeit nicht, von der die Regierung immer spricht. Das Ergebnis: Ervins Frührente von rund 250 EUR wird nun zum „Sozial-Einkommen“ und auch versteuert. Wenn das Amt es will, kann es Ervin auch zum Wald fegen schicken, spurt er nicht, kann die Leistung gekürzt werden, sogar gestrichen. In Veszprém hat sich ein Rentner vor Weihnachten mitten im Arbeitsamt ein Messer ins Herz gerammt, als man ihm den Bescheid über die Kürzungen übergab.

"Wir wissen nicht, was werden soll", sagt Frau Szabó, an die nächsten Wahlen mag sie nicht mal denken. IWF und EU, Mediengesetz und Nationalismusdebatte, das ist ihr alles zu weit weg. Wie drei Millionen Landsleute, zahlt auch Frau Szabó noch einen Fremdwährungskredit ab, für eine kleine Wohnung, die ihre Sicherheit sein sollte, ihre Tochter wohnt jetzt darin. Das „großzügige“ Angebot der Regierung, den Kredit auf einen Schlag zurückzahlen zu können, zu einem bevorzugten Wechselkurs, der nutzte ihr nichts, denn sie hat weder Erspartes noch die Chance einen neuen Forintkredit „zu Horrorzinsen“ aufzunehmen.

Keine Chance, aus eigener Kraft etwas zu ändern

„Was die aktuelle Situation wohl am besten beschreibt, ist, dass die Menschen in Ungarn wieder angefangen haben sich vor der Zukunft zu fürchten. Es gibt eine neue Existenzangst, vor allem bei den arbeitenden Menschen...“. Das sagt Péter Kónya, Gründer und Chef der neuen Oppositionsbewegung „Szolidaritás“ im Interview mit dem Pester Lloyd (hier das ganze Gespräch) Die Leute sehen einfach nicht, dass sie aus eigener Kraft etwas zum Guten ändern können, der Staat schafft dafür wieder nicht die Grundlagen.

ir treffen Kónya im Zentrum von Buda, das vor kurzem noch Moskauer Platz hieß, aber vom beflissenen neuen Fidesz-Oberbürgermeister, István Tarlós, wie Dutzende weitere Orte umbenannt wurde, so als könne man Geschichte einfach abhängen. Der Budapester Stadtverkehr steht kurz vor der Pleite, doch Tarlós brauchte erst einmal einen Elvis-Presley-Platz, und der Platz der Republik ist jetzt nach einem polnischen Papst benannt...

Ein Offizier will die Demokratie in Ungarn retten

Kónya, ein Oberstleutnant der Ungarischen Armee und bis vor kurzem Chef der Konföderation der Gewerkschaften der bewaffneten Organe, - beide verließ er vor wenigen Wochen „aus Gewissensgründen“, - bestätigt den Frust, der überall in der Stadt zu spüren ist: „Aktuell sehen wir, dass 65% der Wahlberechtigten keine der derzeit existenten Parteien wählen würde. Fidesz hat zwar die Hälfte an Zustimmung verloren, aber bis auf die neofaschistische Jobbik profitierte davon keine etablierte Partei. “Diese große Gruppe enttäuschter Wähler wollen wir ansprechen und davon überzeugen, dass man selbst etwas dafür tun muss, dass dieses Land wieder eine gute Richtung einschlägt."

Kónya erwartet, "dass sich diese Entwicklung im Frühjahr zuspitzen wird und sich auch die gesellschaftliche Unzufriedenheit dann erst richtig Ausdruck verschafft, wenn die Menschen am eigenen Leibe, an ihren Gehältern, an der Senkung ihrer Renten und Sozialleistungen, an ihrem sinkenden Lebensstandard die Folgen dieser Politik radikal erfahren werden.“ Die Szolidaritás will dabei "eine neue Mitte bieten", weder links noch rechts sein. Vielleicht findet sie die Kraft, endlich Schluss zu machen mit den jahrzehntelangen Grabenkämpfen, die das Land gespalten haben wie ein zweites, hausgemachtes Trianon.

II Alte Lügen

Was will Orbán? Allmacht, einen nationalistischen Ständestaat, Großungarn? Er selbst spricht von einer „konservativen Revolution“, einem neue Zeitalter. Und gelingt es, den ganzen propagandistischen Budenzauber beiseite zu schieben, ist erkennbar, dass Orbán ganz richtige Fragen aufwirft. Er analysierte die wirtschaftlichen und moralischen Verfehlungen seiner Vorgänger genau und richtig. Er stellt die funktionsunfähige Zins- und Schuldenlogik, deren Helfershelfer auch der IWF und auch die EU waren und sind, in Frage. Diese erzeugt vor allem bei noch recht schwachen Ländern eine tödliche Spirale, die nicht nur der Wirtschaft schadet, sondern den sozialen Frieden gefährdet. Er wehrt sich gegen Genfood und den Ausverkauf der „ungarischen Scholle“ und will die Landsleute auf Tradition und ein Gemeinschaftsgefühl besinnen.

Was hat Orbán anzubieten?

Aber was hat Orbán anzubieten? Wenn alle Ideen so folgerichtig und dem Volke zugetan sind, warum dann diese Angst vor dem eigenen Volk? Warum die totale Kontrolle oder Gleichschaltung über die Instanzen der checks and balances, warum ein Staatsfunk, warum überall Fidesz-Parteisoldaten auf den Posten, das Aussperren der Opposition, die Ignoranz gegenüber den Roma, warum die kriegerische Rhetorik, die maßlosen Lügen, oder - ganz aktuell - sogar die Einschränkung der Versammlungsfreiheit, und warum all der Hass und das Zündeln bei den Nachbarn, wo er den ungarischen Minderheiten mit seinem neuen Nationalismus einen Bärendienst erweist?

Ungarn solle sich auf seine eigenen Kräfte besinnen, so das Credo des einstigen Wendehelden, der sich vom liberalen Patrioten zur nationalistischen Furie gewandelt hat, dessen gleichzeitig kleinlicher wie größenwahnsinniger Charakter Wahlniederlagen nicht einfach wegstecken konnte. Die eigenen Kräfte: die flat tax hilft „seinem“ Mittelstand, seiner Klientel, die hinfort das Rückgrat eines ständisch organisierten Landes werden soll. Doch die Mehreinnahmen wurden weder konsumiert, noch investiert, sondern ins Ausland geschafft.

Nun steht er da mit den alten und neuen Haushaltslöchern. Bisher mühsamst gestopft mit der Requirierung der privaten Rentenbeiträge, einem erzwungenen Geldregen von fast 10% des BIP. Aber das ist nur ein Einmaleffekt, der bereits verpufft ist. Immer neue Wunschkennzahlen und „nationale Strategien“ werden verkündet, erst später werden sie auch mit der Realität abgeglichen. Gefährliche Stümperei nennt es die Opposition, selbst regierungsnahe Ökonomen, wie zuletzt der Aufsichtsrat der Nationalbank, Zsigmond Járai, der als Chef des Alibi-Haushaltsrates zurücktrat, fordern eine „neue Wirtschaftspolitik“.

Doch was sind diese Alternativen? Die Opposition findet auch keine Antworten. Noch nicht. Die geschlagenen „Sozialisten“ sind gespalten und mit sich selbst beschäftigt, unfähig ihre eigene Verantwortung an der Misere zu erkennen und einzugestehen. Bürgerbewegungen, neue Parteien sammeln sich erst, ringen um Fassung unter der neuen Verfassung, die mit ihren Kardinalsgesetzen Ideologie und Tagespolitik zementiert und Nachfolgern das Regieren ohne die „wahren Ungarn“ unmöglich machen wird.

Auch die „Szolidaritás“, die sich als „Katalysator für eine Bewegung“ sieht, die letztlich zur Ablösung Orbáns führt, steht noch ganz am Anfang, so wie viele neue Oppositionsgruppen, die alle versuchen sich und die anderen zu mobiliseren.

Versuchslabor für den worst case

Bis dahin verteidigen Orbán und seine Mannschaft das Land weiter gegen die „konzertierten Angriffe der europäischen Linken“, vertreten sie „alle Ungarn im Karpatenbecken“ und führen ihren „Befreiungskampf gegen die internationalen Finanzmärkte“. Sie singen das Lebenslied Ungarns von der Fremdbeherrschung, spielen sich als Opfer auf. Orbán versucht die Quadratur des Kreises, die „Befreiung“ seines Landes durch neue Ketten, diesmal angemalt in rot-weiß-grün. Und Europa, die zahnlose EU samt den „Schwesterparteien“ des Fidesz schauen dabei zu, wie Ungarn zum Versuchslabor für den worst case wird.

Alte Lügen auf der einen und political correctness auf der anderen Seite helfen hier nicht weiter. Die EU muss ihre Prioritäten wechseln, ein Binnenmarkt ohne garantierte Grundwerte funktioniert nicht, das hat nicht nur Ungarn gezeigt. Das Parlament muss dafür die entsprechenden Instrumente schaffen, die Bürger müssen dieses dafür mit mehr Macht ausstatten. Taugen die bestehenden Politiker und Parteien nicht dazu, sind diese auszutauschen. So wird Ungarn zur Chance auf eine Neuorientierung und damit Festigung einer wirklichen Gemeinschaft, wenn wir die Dinge nicht sich selbst überlassen. Kurz: Ungarn kann man nur ändern, wenn sich Europa ändert.

 

Wird das unterlassen, sieht man am Beispiel Ungarns, wohin es führt, wenn Populisten vom Schlage Orbáns, „unsere“ Krisen lösen. Am Beispiel Griechenland sieht man, wenn gar keiner die Krisen löst. Finden die europäischen Demokraten keine Antworten auf die gestellten Systemfragen, übernehmen wieder jene das Ruder, denen ihre Positionen und Ideologien wichtiger sind als die Zustände in einem Land und die Existenz- und Zukunftsängstängste von Frau und Herrn Szabó oder Müller.

Marco Schicker

Dieser Beitrag erschien, leicht bearbeitet, am 19.1. auch im "Tagesspiegel" und auf "ZEIT online".
http://www.tagesspiegel.de/politik/proteste-in-ungarn-die-nackte-angst/6082534.html
http://www.zeit.de/politik/ausland/2012-01/ungarn-opposition-proteste

 

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