(c) Pester Lloyd / 03 - 2012
POLITIK 18.01.2012
Krieg der Worte
Ungarn und die EU im verbalen Schlagabatausch - Live aus dem EU-Parlament
Es ist alles eine "feindliche Attacke der Linken" und die Verfahren gegen Ungarn seien ein rein “technischer Dialog”, so die Reaktion der Regierung in Budapest auf
die Einleitung von Vertragsverletzungsverfahren durch die EU. Die politische Opposition betet um eine Art Selbstheilung, der neugewählte Präsident des
EU-Parlamentes, Martin Schulz, "wusste gar nicht, dass Barroso ein Linker ist" und läuft sich schon mal warm für den heutigen Showdown mit Premier Orbán in Straßburg.
UPDATE, 19.01.:
Zusammenfassung der Plenarsitzung zum Thema Ungarn
Die umfassenden Überprüfung der Vereinbarkeit des ungarischen Rechts mit
europäischem Recht wurde gestern von der EU-Kommission in seiner ersten Phase abgeschlossen und mehrere Vertragsverletzungsverfahren gegen Ungarn eingeleitet. José
Manuel Barroso erlärte, dass die ungarische Regierung weder Anpassungen noch ausreichende Erläuterungen zu den neuen Gesetzen geliefert habe. Mehr dazu.
Im folgenden einige Kommentare und Reaktionen aus Budapest aus den letzten Tagen.
Angesichts der Mischung aus nationaler Kriegsrhetorik, diplomatischem Trotz und oppositionellen Selbstheilungswünschen warten wir gespannt auf den heutigen Auftritt
Viktor Orbáns vor dem Europäischen Parlament am Jahrestag seines unvergessenen Auftritts zum Mediengesetz.
Hier der Live-Stream ins EU-Parlament in Straßbourg. Der Tagesordnungspunkt “Ungarn”
und der Auftritt von Premier Orbán ist für 15 Uhr angesetzt.
Auf der Broadcast-Seite des Europäischen Parlamentes kann man zur Übertragung auch die
entsprechenden Simultan-Übersetzungen zuschalten: http://www.europarl.europa.eu/ep-live/de/schedule/live-broadcast
Aus dem offiziellen Statement der ungarischen Regierung:
(...) Die ungarische Regierung nimmt die Entscheidung der Kommission zur Kenntnis...
und sieht darin eine Mögichkeit in einen technischen Dialog über erklärungsbedürftige Fakten mit der dafür zuständigen Autorität, der Kommission als Hüterin der Verträge zu treten...
Die ungarische Regierung hält die Unabhängigkeit der Zentralbank, der Judikative und der
Datenschutzbehörde für ebenso wichtig wie die EU-Kommission. Darin gibt es keine Unstimmigkeiten ... Nun werden wir eine Analyse der Kommissions-Argumente beginnen.
Unser Ziel ist es, befriedigende und passende Antworten zu den gestellten Fragen zu geben, um eine Lösung der problematischen Fälle zu finden, so schnell wie möglich,
möglichst ohne durch den ganzen Verfahrensprozess gehen zu müssen.
Péter Szijjártó, Sprecher des Ministerpräsidenten: Orbán wird sich im Europäischen Parlament dem Angriff der „internationalen Linken“ von Angesicht zu Angesicht stellen.
Premierminister Viktor Orbán wird am heutigen Mittwoch Nachmittag eine Rede im
Europäischen Parlament in Strassbourg halten, wie Péter Szijjártó gestern der ungarischen Nachrichtenagentur MTI mitteilte. Der Premierminister habe die Rede am Montag beim
Präsidenten des EP Jerzy Buzek beantragt, um die Parlamentarier über die Haltung Ungarns zu informieren. „Die internationale Linke wird versuchen einen erneuten Angriff
auf Ungarn zu starten“, sagte Szijárto in Erwartung der Rede im Straßbourger Abgeordnetenhaus.
„Wir werden es der internationalen Linken nicht erlauben, uns mit Lügen und haltlosen
Anschuldigungen auf einer internationalen Bühne anzugreifen und daher erneut Ungarn und die Integrität der Ungarn verteidigen“, hieß es in dem Statement in Anspielung auf
das exakt einjährige Jubiläum der letzten Orbán-Rede vor dem EP, welche von einem für für europapolitische Verhältnisse heftigen und ungewohnten Schlagabtausch zwischen
Orbán und mehreren Vertretern der unterschiedlichen Fraktionen des europäischen Parlaments gekennzeichnet war. Damals ging es in erster Linie um das Mediengesetz.
Premier Orbán meinte heute gegenüber der BILD-Zeitung, dass “wir uns zwar der Macht,
nicht aber den Argumenten beugen werden.”
Zsolt Semjén, ungarischer Vizepremier, Chef der Fidesz-Partnerpartei KDNP: EU-Austritt abwegig, Jobbiks Fahnenverbrennung eine „emotionale Antwort“
Die europäische Kritik an den verabschiedeten Gesetzen sei haltlos, Kritiker müssten ihre
Kritikpunkte genauer benennen, beispielsweise einzelne Paragraphen und beweisen, dass diese gegen europäisches Recht verstoßen, sagte Vizepremier Semjén am Montag den
Radiosender Lánchid. Der stellvertretende ungarische Premierminister stellte die Legitimität der ausländische Kritik in Frage, da z.B. beim Medien- und beim
Kirchengesetz, die ungarische Gesetzgebung teilweise weniger streng sei als in einigen anderen EU-Ländern und betonte, dass Ungarn stärker auf "diese Misshandlungen und
Beleidigungen reagieren" müsse.
Dass Semjen ganz Ungarn zum Kampf gegen europäische Kritiker aufruft, will er aber
derzeit nicht als Absichtserklärung eines EU-Austritts verstanden wissen und legitimiert in diesem Kontext antieuropäische Aussagen der Jobbik und damit das Verbrennen einer Europa-Fahne durch den Abgeordneten Elöd Novak in Anwesenheit des EU-Abgeordneten
Csanás Szegedi bezeichnete Semjén als „emotional aufgeladen.“
Péter Gyorkos, Ungarischer EU-Botschafter: Ungarn nimmt EU-Kommission ernst, Vertragsverletzungsverfahren jedoch nicht „Ende der Welt“:
Ungarn nehme die Positionen der Europäischen Kommission bezüglich aktueller
ungarischer Gesetze ernst, sagte der ungarische EU-Botschafter Péter Gyorkos noch am Montag Brüsseler Journalisten. Der Diplomat fügte hinzu, dass es unausweichlich sei, dass
in diesem „hochdynamischen Gesetzgebungsprozess“ einige Komponenten Kritik hervorgerufen hätten. Wie Gyorkos ausführte, beträfen die bisherigen Einwände vor allem
die Unabhängigkeit der Zentralbank, der Justiz und der Datenschutzbehörde, sowie die Frühpensionierung von Richtern. Sollte die EU die betreffenden Gesetze tatsächlich
anfechten, werde Ungarn in auf eine der drei Weisen reagieren können: Ersten könne es die Kritik akzeptieren und die entsprechenden Gesetze ändern. Zweiten könne es
Gespräche mit der EU initiieren, um in Verhandlungen Wege zu ergründen, die ein eine Annäherung der Positionen zulassen könnten . Drittens könne es die Beschwerden als
unbegründet bewerten. Im letzteren Fall werde Brüssel ein Vertragsverletzungsverfahren initiieren müssen. Diese Verfahren würde zwar nicht wünschenswert sein, jedoch nicht
„das Ende der Welt“ bedeuten, erklärte der Botschafter.
Ferenc Gyurcsány, ehemaliger ungarischer Ministerpräsident und Vorsitzender der „Demokratischen Koalition“ meint, Ungarn muss seine Probleme selber lösen:
Während eines Treffens seiner neu gegründeten Partei, der MSZP-Abspaltung
"Demokratische Koalition" ließ Ex-Premierminister Ferenc Gyurcsány diesen Sonntag verlauten, dass Ungarn ohne Hilfe internationaler Organisationen zurechtkommen solle.
Die ehemaligen Finanzminister László Békesi und Lajos Bokros waren ebenfalls anwesend und sprachen sich für einen Wechsel von Ungarns Wirtschaftspolitik aus. Gyurcsány
charakterisierte die Regierung Orbáns als ein autoritäres Regime, welches man jedoch nur mit verfassungsgemäßen Mitteln ändern dürfe. Die Opposition solle sich darüber bewusst
werden was nach einem Regierungswechsel umgesetzt werden müsse.
Die derzeitige Regierungspolitik, die vor allem den Besserverdienenden zu Gute komme,
müsse geändert werden, strukturelle Reformen im Gesundheits-, Bildungs- und Rentensektor seien vonnöten. „Ich denke, dass eine strenge und disziplinierte Fiskalpolitik
verfolgt werden sollte und schmerzhafte Strukturreformen passieren müssen“ sagte Gyurcsány während des Treffens und betonten, dass es nicht das erste Mal sei, dass
Ungarn mit einer tiefen politischen und ökonomischen Krise konfrontiert sei. Das beide parallel verliefen und dabei auch noch von einer internationalen Isolierung begleitet
würden, sei laut Gyurcsány in Ungarn seit den 1960er Jahre nicht mehr der Fall gewesen.
Die Sprecherin der Fidesz-Partei Gabriella Selmeczi kommentierte, dass die Menschen
keinen Rat von Leuten erhalten möchten, welche die aktuelle Krise durch ihre Politik der letzten zwanzig Jahre verursacht hätten.
Martin Schulz, der neu gewählte Präsident des Europäischen Parlaments: Orbán „mutig“ und mit neuen Wahrheiten über Barroso:
Der gerade neu gewählte Präsident des Europäischen Parlaments Martin Schulz
bezeichnete Viktor Orbán in einem Gespräch mit der regierungskritischen und linksliberalen ungarischen Tageszeitung Népszabadság als „mutigen Mann“, da er seine
Rede vor dem Europäischen Parlament der Presse bereits ankündigt hatte, noch bevor das Europäische Parlament ihm die Rede offiziell gestattet hatte. „Ich wusste nicht, dass José
Manuel Barroso ein Mitglieder der internationalen Linken ist“ sagte Schulz in Anspielung auf Orbáns Anfrage, vor dem Haus sprechen zu dürfen, um „Ungarn vor dem Angriff der
internationalen Linken zu verteidigen“. Schulz betonte, dass die Mehrheit der Kommission, genau wie Barosso selbst, welche die Vereinbarkeit der ungarischen
Gesetzgebung mit EU-Recht anzweifeln, dem rechten Lager zugehörten und riet Orbán daher, „ganz genau hinzuhören“, was Barroso und ich selbst am Mittwoch zu sagen haben
und die notwendigen Schritte danach einzuleiten“.
Noch vor der gestrigen Kommissionsentscheidung sagte Schulz, dass Orbáns Vorgehen bei der „Beschaffung“ der
Rede nicht die einzige bemerkenswerte Sache über dessen Person sei und fügte hinzu, dass er sich an Spekulation über einen Entzug der ungarischen Stimmrechte in Konsequenz
der Artikel 7-Verfahren nicht beteiligen wolle, bis die Prüfung der ungarischen Gesetzgebung nicht komplett abgeschlossen sei.
Phillip Karl, Hannah Hecker, Christian-Zsolt Varga
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