(c) Pester Lloyd / 04 - 2012
POLITIK 24.01.2012
Steigender Druck
Orbán bei Barroso: EU verschärft Ton und Gangart gegen Regierung von Ungarn
Ministerpräsident Orbán traf sich am Dienstag in Brüssel mit EU-Kommissionspräsident Barroso, Parlamentspräsident Martin Schulz sowie dem ständigen Ratspräsidenten
Herman van Rompuy. Die EU hielt die Gespräche absichtlich informell und forciert nun erstmals auch über den Rat Vertragsverletzungs- und Defizitverfahren, um den
Druck auf Orbán zu steigern. Die ungarische Seite versucht sich weiter in ihrer Schaukelpolitik, doch allmählich wird es eng und bald kann es teuer werden. / Leitzins überraschend unverändert.
Beide schauten auch schon einmal fröhlicher, wenn sie sich trafen. Premier Orbán am Dienstag in
Brüssel mit EU-Kommissionspräsident Barroso. Foto: EU
Barroso hält formale Distanz zu Orbán
Während die ungarische Regierung das Treffen mit Barroso als Gelegenheit zur "Klärung"
der allfälligen Fragen erklärte, machte dieser kurz zuvor nochmals klar, dass es sich lediglich um ein informelles Gespräch handeln würde, "das nicht den normalen juristischen
Prozess ersetzen, kann, in dem wir uns befinden". Daher erwartete er "von unserem Treffen keine Entscheidung. Die werden in den entsprechenden Verfahren getroffen."
Die distanzierte Formalität, die Barroso einhielt mag auch der Grund für sein sehr kurz
gehaltenes Statement Barrosos im Anschluss an das Treffen, in dem er lediglich erklärte, dass nun alles seinen amtlichen Gang gehen werde. “Für die EU-Kommission ist es
essentiell, dass das EU-Recht von Ungarn wie von jedem anderen Mitgliedstaat vollständig respektiert wird - in Wort und Geist.” und er fügte einen Satz hinzu, der Orbán gar nicht
passen dürfte: “Es gibt weitergehende politische Bedenken, zu denen die ungarische Regierung Stellung zu beziehen hat.” Denn gerade in Zeiten von Krisen, sind das
Vertrauen “der Bürger und Märkte” wesentlich zu deren Lösung. Wir berichteten bereits, dass die EU weit mehr als die drei bekannten Punkte untersucht.
Nach einem Treffen mit EP-Präsident Schulz sagte Orbán auf einer Pressekonferenz, dass
Ungarn, ungeachtet der Kritik, "eine Politik der Konsolidierung des Landes" fahre und das
seine "sozial- und wirtschaftspolitischen Maßnahmen zur Einheit der Nation" führen sollen.
Schulz führte aus, dass er das Treffen genutzt habe, um dem Premier "seine persönlichen Bedenken" hinsichtlich der neuen Verfassung und der politischen Strategie mitzuteilen.
Schulz repsktiere natürlich die Unabhängigkeit von Nation und Regierung, warf Orbán aber doppeltes Spiel vor, in Budapest würde er das eine, in Brüssel das andere sagen, er
solle aber die EU-Parlamentarier nicht für dumm verkaufen.
EU fragt nach Unabhängigkeit der Richter, Budapest spricht von "Rentenreform"
Orbán blieb genau diesem Kurs treu, als er das EU-Parlament das "Herz der Demokratie"
nannte, auch wenn er mit dort vertretenen Positionen nicht immer übereinstimmte. Er sei verhandlungsbereit, um jeden "komplizierten Sachverhalt" in offener Form zu
diskutieren. In Budapest hingegen meinte er, dass es nur um ein paar kleinere Formalitäten ginge und man sich von der EU nicht die ungarische Politik vorschreiben lasse.
Das Gegenbeispiel der Schaukelpolitik lieferte diesmal Justizminister Navracsics, er
behauptete in einer Radiosendung in Budapest, dass die Senkung der Altersgrenze für Richter von 70 auf 62 Jahre Teil einer "allgemeinen Rentenreform" sei und daher "nicht
diskriminierend." Message: eh alles nur ein Missverständnis. Die EU hatte auch dagegen jedoch ein Vertragsverletzungsverfahren eingeleitet, das die grundlegende Frage aufwirft,
ob durch die Hunderten dadurch notwendigen Neubesetzungen die Unabhängigkeit der Justiz gefährdet sein könnte, zumal die Chefin der Richterkammer, die wesentlich für
diese Neubesetzungen verantwortlich ist als Ehefrau des Fidesz-EP-Parlametariers Szájer als der Regierungspartei nahestehend gilt, was beide vehement und als "diskriminierend"
bestreiten.
Rehn kauft Ungarn das Defizit nicht ab - Zahlungsstopp droht
Derweil gehen die verschiedenen Verfahren ihren Gang. Neben den drei
Vertragsverletzungsverfahren, eingeleitet durch die EU-Kommission, verschärfte auch Hauhsaltskommissar Olli Rehn die Gangart, in dem er auf dem heutigen Treffen der
Finanzminister einen negativen Bericht über Ungarns Anstrengungen zum Abbau des "exzessiven Defizits" ankündigte, was die nächste Stufe des Defizitverfahrens einleitet. Im
Gegensatz zu Ungarn hätten die anderen Länder, die in dem Verfahren stehen, Belgien, Zypern, Malta und Polen rechtzeitig die notwendigen Maßnahmen ergriffen. "Ungarns
Maßnahmen waren nicht ausreichend, um das Defizit nachhaltig und glaubwürdig zu korrigieren", sagte Rehn und ergänzte, dass Ungarn seit Juli 2011 über die Notwendigkeit
weiterer Schritte informiert worden war, man in Budapest die Deadline aber verstreichen ließ, man habe Ungarn zweimal in drei Jahren Terminverlängerungen gewährt.
Auch der Rat hält Ungarns Anstrengungen für ungenügend
Rehn erläuterte, dass er dem Land das Defizit von 3,5% für 2011 nicht abkaufe, weil darin
Einmaleffekte von 10% des BIP enthalten sind, allein der "Transfer" der privaten Rentenbeiträge mache 9,75% aus (Mehr dazu). Ohne diesen Geldregen hätte das Defizit
bei über 6% gelegen, so der Kommissar. Ungarn muss nun damit rechnen, dass schon von Beginn des Jahres 2013 an, die Zahlungen aus dem Kohäsionsfonds eingefroren werden
"und zwar zu bis zu 100%", sagte Rehn vor Journalisten. Die ungarische Seite betonte, dass man sehrwohl strukturelle Maßnahmen vorgenommen habe, die sich jedoch erst jetzt
auszuwirken begännen.
Neu war, dass erstmals auch der Europäische Rat, also die Runde der nationalen
Regierungen und letztlich das mächtigste europäische Gremium eine Ungarn kritisierende Message gab und damit der Kommission den Rücken stärkte, was angesichts der
konservativen Mehrheit beachtenswert scheint. Dabei ist offensichtlich, dass man das Prozedere des Defizitverfahrens auch nutzt, um Ungarn zum Einlenken in anderen
strittigen Fragen zu bewegen und in gewisser Weise auch Orbán zu disziplinieren. Hier die heutige Erklärung des Rates (pdf): http://www.consilium.europa.eu/uedocs/cms_data/docs/pressdata/en/ecofin/127501.pdf
Wachstumsprognosen gesenkt, IWF hält Druck aufrecht
Währenddessen senkten sowohl die EU als auch die Europäische Entwicklungsbank EBRD
ihre Wachstumsprognosen für Ungarn. Erstere sieht - so wie das verbesserte Haushaltsgesetz - noch ein Wachstum von 0,5% in 2012, die EBRD hingegen rechnet mit
einem BIP-Rückgang von 1,5%, eine Zahl, die nicht zum ersten Male in den Schätzungen von Experten auftauchte und das Land in massive Probleme bringen würde, umso
wichtiger wäre der Abschluss eines Stand-by-Abkommens mit dem IWF, was dem Land, Gläubigern und Investoren eine gewisse Sicherheit verschaffen würde.
Das IWF machte jedoch unmissverständlich klar, erst das "Go" aus Brüssel abzuwarten,
bevor überhaupt wieder offizielle Verhandlungen aufgenommen werden könnten. Selbst Budapest rechnet nicht mehr mit einem Abkommen vor April. Heute kamen zudem
Gerüchte auf, das IWF könnte auch die Flat tax von 16% auf alle Einkommen auf die To-Do-Liste vor Verhandlungen setzen. Budapest müsse die Steuerrate entweder erhöhen
oder einen zweiten Steuersatz für Besserverdiener einführen, um die Ausfälle fürs Budget (2011 ca. 1,7 Mrd. EUR) zu verringern.
MNB hält Leitzins überraschend unverändert
Für Überraschung sorgte die Entscheidung der Ungarischen Zentralbank, MNB, den
Leitzins unverändert bei 7% zu belassen, die meisten Beobachter hatten mit einer weiteren Anhebung um 25 bis 50 Basispunkte gerechnet. In der Entscheidung will man den
wachsenden Einfluss der neu entsandten Währungsratsmitglieder erkennen, denn die Regierung wünscht sich sinkende Zinsen für eine Ankurbelung des Kreditgeschäftes vor
allem für den Mittelstand, während MNB-Chef Simor vor allem Währungs- und Preisstabilität im Auge behält, beides Faktoren, die eigentlich eine weitere Zinsanhebung gerechtfertigt hätten.
Derweil haben sich die zuletzt deutlich gesunkenen Risikoaufschläge für ungarische
Staatsanleihen bei einer Auktion am Dienstag recht gut behaupten können. Der staatliche Schuldendienst ÁKK versteigerte 45 Mrd. Forint an 3-Monats-Anleihen zu
Durchschnittszinsen von 7,65%, während man vor wenigen Wochen noch fast 10% zahlte. Die Nachfrage lag nicht mehr so hoch wie zuletzt, aber hoch genug um die gesamte
Summe zu diesem Schnitt platzieren zu können. Allerdings wird aufgrund der Vorgänge und der Finanzlage bald wieder mit einer Verschlechterung der Lage gerechnet.
Mehr zu UNGARN - EU im Ressort Europapolitik: http://www.pesterlloyd.net/portalpolitik/nachbarn/nachbarn.html
Für Neueinsteiger ein Überlick über die wichtigsten Gesetze und Maßnahmen der Orbán-Regierung
red. / ms.
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