(c) Pester Lloyd / 08 - 2012 GESELLSCHAFT 20.02.2012
Der Traum vom kleinen Glück
“Wir können sowieso nichts ändern...” - drei junge Ungarn im Gespräch
Sie haben Arbeit, sie haben Ziele. Eszter, Kriszta und Géza sind junge Ungarn Ende 20. Alle drei haben ein Studium abgeschlossen und stehen nun im Berufsleben. Sie
gehören zur städtischen Mittelschicht Győrs und Budapests. Diese steht eigentlich besonders im Fokus der Orbán-Regierung und wird duch zahlreiche Maßnahmen
hofiert. Sie alle haben viel Positives erwartet vom Machtwechsel, was ist daraus geworden?
In unseren Interviews sprachen die Drei von ihren unerfüllten Erwartungen, der Orbánschen
Gesetzesflut und ihren Wünschen und Perspektiven. Trotz der Misere sind sie nicht unglücklich - Freunde, Familie, ein Job sind die Ingredienzen ihres persönlichen Glücks.
Aber die Unsicherheit macht auch vor Ihnen nicht halt: das Bangen um den Job, die schwer abzahlbaren Schulden, die fehlende Wohnung und ein unbestimmbares Gefühl, die Dinge
selbst nicht steuern zu können.
“Die Familie beisammen”, ein Bild der Illustratorin Hokata, http://www.hokata.hu
Zur wachsenden Existenzangst kommt eine ziemlich desillusionierte Meinung zur Politik und
eine verschwommene Vorstellung von der eigenen Gestaltungskraft. Politische Passivität überwiegt, für Hochschulabsolventen ist das staatsbürgerliche Bewußtsein erschreckend
wenig ausgeprägt, auch wenn die Antworten natürlich nicht repräsentativ sein können, typisch sind sie allemal. Ins Ausland würden alle gehen, nicht gern, aber des Geldes wegen.
Um das kleine Lebensglück in Ungarn finanzieren zu können...
Géza ist von allen Dreien der kritischste, er sagt zur aktuellen Situation: „Auf der einen
Seite kann man darüber lachen auf der anderen macht es einen depressiv. Das schlimmste ist, dass die Regierung ohne Konzept gehandelt hat. Und die 2/3-Mehrheit
ist sehr gefährlich, sie können machen was sie wollen. Es ist wie eine softe Diktatur.“
Kriszta meint zwar auch, dass die Regierung Fehler gemacht hat, aber sie freut sich über
die Standhaftigkeit der Regierung gegenüber den Einmischungsversuchen von außen sowie über das Forex-Kreditablösesystem. Eszter bezeichnet das Verhalten Orbáns gegenüber der
EU als hochnäsig und meint, dass ein Kurswechsel nur mit ökonomischem Druck möglich sei. Sie hatte übrigens, wie Kriszta auch, Orbán gewählt.
In dieser Lage kann man sich vieles vorstellen, was sich ändern sollte. Eszter findet: „Alles
sollte besser laufen im Land. Die Politiker sollten sich auf die wichtigen Sachen konzentrieren. Es war unnötig, dass sie den Flughafen Ferihegy in Franz-Liszt
Flughafen umbenannt haben. Wenn es gut läuft in einem Land, dann kann man sich um solche Nebensächlichkeiten kümmern. Aber jetzt muss man sich mit der Zukunft beschäftigen.“
Géza sieht die Politikverdrossenheit als Problem, denn viele seien dem Ganzen überdrüssig. „Die Leute sehen, dass sie keinen Einfluss haben. Weil sie nichts ändern können, gehen
sie nicht auf die Straße. Ich denke die schweigende Masse bildet die Mehrheit der Leute.“ Es gibt also einen Vertrauensverlust in das System, was umso erschreckender ist,
da es schließlich eines der Hauptziele von Fidesz war, „Ungarn zu heilen“. So ist auch Kriszta enttäuscht: „Ich hab schon immer Fidesz gewählt. Aber als ich am Anfang
gesehen habe, dass es nur Schwierigkeiten gab, hab ich daran gedacht nie wieder zu wählen. Wir können sowieso nie eine wirkliche Veränderung herbeiführen.“
Die Erwartungen an die Fidesz-Regierung nach dem Machtwechsel waren hoch, schließlich
kann sie mit einer 2/3-Mehrheit regieren. Ein Novum in der ungarischen Geschichte. Selbst Géza, der die neue linksliberale LMP gewählt hat, war mit dem Wahlergebnis nicht unzufrieden: „Eigentlich haben wir uns gefreut, denn man hätte historische Fehler
gutmachen können. Doch leider versteht die Regierung nichts von Wirtschaft. Ich glaube, es gibt zwei Erklärungen dafür: entweder belügen Orbáns Berater ihn bzw. sie
haben keine Ahnung oder er hält sich für den schlauesten und glaubt alles am besten zu wissen.“
Eszter ist optimistisch gewesen und hatte gedacht, dass sich die wirtschaftliche Lage
bessert. Im Gespräch weist sie auf die große Diskrepanz zwischen dem offiziellen Diskurs und der Realität von steigenden Preisen und hoher Arbeitslosigkeit hin. Auch Kriszta hatte
erwartet, dass die neue Regierung die wirtschaftliche und finanzielle Lage bessert. Ihrer Auffassung nach ist dies jedoch nicht einfach, wenn „von außerhalb versucht wird das
Land kaputt zu machen.“ Die Europäischen Union und die Vereinigten Staaten sieht sie als verantwortlich dafür.
Dennoch sieht auch Kriszta, dass das Leben in Ungarn derzeit kompliziert ist – ihrer
Meinung nach könnte es aber auch noch schlimmer sein. „Viele Menschen haben große Schwierigkeiten. Viele meinen daher, dass die Entscheidungen von Fidesz schlecht sind.
Jedoch könnten wir auch in eine Situation geraten wie Griechenland.“
Eszter kann sich in der derzeitigen Situation nicht vorstellen Kinder in die Welt zu setzen,
oder ein Eigenheim zu erwerben. Und sie sagt über ihren Lohn: „Es ist nicht so schlecht, aber es ist nicht viel. Wenn ich allein leben würde, würde es nicht reichen. Es haben
sich zwar die Löhne erhöht aber gleichzeitig sind die Preise für Grundlebensmittel stark gestiegen. Vor fünf Jahren war mein Lohn viel mehr wert.“
Bei Géza in der Firma standen Tarifverhandlungen an. Ein Problem für die Festlegung der
Löhne stellte die Gesetzesflut Ende des Jahres dar. Ab dem 20. Dezember war das Büro wegen Weihnachten geschlossen. Es mussten jedoch die Steuern und Löhne fürs nächste
Jahr kalkuliert werden: „Ich hatte einige Spezialfirmen angerufen. Sie sagten, sie seien in dauerndem Kontakt mit Anwälten, aber dass sie auch keine Ahnung hätten. Also
habe ich bis ins neue Jahr abgewartet, sie wussten aber immer noch nicht mehr. In einer solchen Situation, kann man nicht vernünftig planen. Wir wissen im Endeffekt
nicht wie es nun tatsächlich weitergeht.“
Die neuen Gesetze haben also zu einer großen Unsicherheit geführt, außerdem haben sie
sich für Géza weder positiv auf seinen Lohn, seine Urlaubstage oder Rente ausgewirkt. Das ist jedoch nicht seine Hauptsorge. „Eines der größten Themen ist die Änderung des
Rentensystems. Bisher gab es ein duales System, mit einem staatlichen und einem privaten Teil. Als Fidesz an die Macht gekommen ist, haben sie entschieden, das Geld aus dem
Privatsektor zu nehmen. Nach dem Motto `Gestern war es dein Geld, heute ist es meins.` Es war Diebstahl am helllichten Tag! Mit ihrer 2/3-Mehrheit können sie einfach alles
machen, was sie möchten.”
Zur Verfassung sagt Géza: unnötig, zu schnell gemacht, keine Diskussion darüber und kein
Fortschritt. Im Gegenteil, "...sie haben ein Gesetz geplant, dass man nur für das Rauchen eines Joints bis zu acht Jahre ins Gefängnis kommen kann. Es ist wie im
Mittelalter. Wollen sie auch meine Hände abschlagen? Und was ich nicht verstehe: es gibt immer noch sehr viele Leute, die an Fidesz glauben und denken, dass alles gut ist, was sie machen.“
Eszter und Kriszta gehören zu den vielen Ungarn, die sich als unpolitisch bezeichnen. Zu
den neuen Gesetzen und der neuen Verfassung können oder wollen sie somit auch nichts sagen. Man ist sich nicht sicher, ob das Desinteresse mangels Vorbildung oder die
Angewiederheit wegen der Realität überwiegt, man erkennt nur eine erschreckende Passivität.
Die Wünsche und Zukunftsaussichten aller drei sind sehr ähnlich. Eszter möchte „glücklich
werden. Ich bin zwar glücklich, aber vieles fehlt. Ich wünsche auch meiner Familie viel Glück und vielleicht einen Lottogewinn. Ich hoffe, ich werde hier in Budapest bleiben.
Oder wenn es innerhalb der Firma ginge in ein anderes Land zu kommen, würde ich sofort gehen.“
Eszter und Géza waren bereits längere Zeit im Ausland und Kriszta kann es sich gut
vorstellen ins Ausland zu gehen. Géza möchte jedoch lieber in Ungarn bleiben, da seine Familie und seine Freunde hier sind. Das ist das ungarische Paradoxon: Auf der einen Seite
gibt es Leute wie Géza, die zwar mit der Situation ganz und gar nicht zufrieden sind, schon Auslandserfahrung gesammelt haben aber lieber in Ungarn bleiben möchten. Auf der
anderen Seite Leute wie Kriszta und Eszter, die wenn sich die Möglichkeit bietet, das Land verlassen würden, obgleich sie Fidesz-Wähler sind.
Angesprochen auf ihre Zukunftsaussichten in ein bis zwei Jahren antworteten alle drei
Befragten, dass sie hoffentlich weiter ihren derzeitigen Job ausüben werden. So Kriszta: „Ich möchte in der Firma bleiben und etwas mehr verdienen - keine Millionen, nur so
viel, dass ich meine Wohnung zahlen und eine kleine Reise machen kann.“ Und Eszter hofft ihre große Liebe zu treffen. Das kleine Glück wird also höher bewertet als das große
Geld. Lässt wenigstens das auf eine bessere Zukunft für Ungar hoffen?
Philipp Karl
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