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(c) Pester Lloyd / 12 - 2011  GESELLSCHAFT 25.03.2011

KOMMENTARE

Toleranz erfordert Wissen

Muslime und Islamfeindlichkeit in Ungarn

Ungarn, das zeigt der Entwurf der Präambel zur neuen Verfassung deutlich, durchläuft gerade eine Art neue Christianisierung. Im Gespräch mit Zoltán Sulok, dem Präsidenten der „Organisation der Muslime in Ungarn“ wollen wir mehr über Weltsicht, Lage und Perspektiven der Muslime in Ungarn erfahren. Sulok versucht dabei ein moderates Bild abzugeben und sagt, dass der Antisemitismus derzeit das größere Problem für das Land ist. Dabei ist er selbst nicht immer so moderat wie er sich gibt.

Grabmal und Standbild des osmanischen Poeten Gül Baba in Budapest

Ungarn, das zeigt der Entwurf der Präambel zur neuen Verfassung deutlich, durchläuft gerade eine Art neue Christianisierung. Die Regierungspartei erklärt das Christentum zum Symbol für Kontinuität, Einheit und Idealbild von Staat und Nation, einschließlich des damit zwangsweise einhergehnden Auschlusses jener, die sich damit nicht identifizieren können oder wollen. Nur mit der Nächstenliebe, einem zentralen biblischen Gebot, ist es in Ungarn derzeit nicht so weit her, denn gleichzeitig und durchaus zusammenhänglich mit dem neu konstruierten Volkswillen, herrscht im Land ein weit verbreiteter Antisemitimsus, Rassismus gegen "Nächste" wie Roma, die doch zumeist Christen sind, gegen Andersdenkende und Anderslebende sowieso.

Die Geschichte des Islam in Ungarn beginnt nicht erst mit der osmanischen Herrschaftszeit 1541 bis 1699, die bis heute in diesen Vorurteilen nachwirkt und eine erschreckende Einseitigkeit im Geschichtsbild des Durchschnittsungarn geschaffen hat. Bereits im 9.Jahrhundert lebten muslimische Stämme in der Region, später kamen viele Muslime als Händler oder Söldner in das ungarische Königreich, bis ins 13.Jh. bestand eine große muslimische Gemeinde in Pest, die sich ab dem 11.Jh. immer mehr diskriminierenden Verordnungen ausgesetzt sah.

Das Kreuz in den Halbmond gerammt. Sinnbild für den Sieg des Christentums über den Islam in Ungarn. Hier die Moschee in Pécs.

Die osmanische Herrschaft hat materiell verhältnismäßig wenig Spuren hinterlassen. So finden sich etwa in Budapest noch das Grabmal des osmanischen Poeten Gül Baba und türkische Badehäuser, sowie einige Straßennamen, ebenso im Süden, vor allem in Pécs. Mohács, ebenfalls im südlichen Ungarn gelegen, ist der zentrale Begriff und Ort, der jedem Ungarn sofor einfällt, natürlich verbunden mit der epischen Niederlage gegen die einfallenden Osmanen.

Während es noch in den 1930er Jahren islamische Gemeinden in Ungarn gab, verbot der Realsozialismus später islamische Aktivitäten. Nichts desto trotz gründeten sich in den späten 1980er Jahren neue Organisationen, in einer Phase, als auch Buddhismus und Hinduismus (trotz Verbot) Einzug nach Ungarn fanden. Während die staatliche Bevölkerungszählung von 2001 die Zahl der in Ungarn lebenden Muslime mit 3201 angab, schätzt die „Organisation der Muslime in Ungarn“ (MME) 2010 die Anzahl auf 32.000. 

In diesem Umfeld ist es für die wenigen Muslime im Lande schwer, ihre Rechte zu artikulieren, auch wenn die Dachorganisation MME rechtlich den Status einer Kirche genießt. Bezüglich der weit verbreiteten Vorurteile gegenüber dem Islam unterscheidet sich Ungarn, in dem es nur verschwindend wenig Muslime gibt, allerdings fast nicht von anderen europäischen Ländern, in denen seit Jahren mit absurden Diskussionsteilnehmern und Argumenten ein "Kulturkampf" herbeigeredet wird, mit dem sich übles politisches Gelichter auf Kosten des bürgerlichen Friedens zu profilieren versucht. Im Gespräch mit Zoltán Sulok, dem Präsidenten der „Organisation der Muslime in Ungarn“ wollen wir mehr über die Lage der Muslime und Perspektiven in Ungarn erfahren.

Die Rhetorik der ungarischen Regierung lässt eine flexible Auffassung des Islam durchscheinen. Während Ministerpräsident Viktor Orbán kürzlich die Differenz zwischen „christlicher“ und „islamischer“ Welt und mögliche neue Feindseligkeit auf Seiten der Araber gegen Europa als Argumente gegen einen europäischen Militäreinsatz in Libyen anführte, spielen Fragen um die Religion in der Unterstützung der EU-Ambitionen der Türkei - anders als in Deutschland - keine Rolle, Ungarn will sich eine gute Ausgangssituation verschaffen, wenn die "Pforte" eines Tages ihre Tore öffnen darf.

In der Mehrheitsbevölkerung sieht es anders aus: „Es gibt zu viele Muslime in Ungarn“; „Der Islam ist eine Religion der Intoleranz“; „Die muslimischen Ansichten über Frauen widersprechen unseren Werten“. Der vor kurzem von der Friedrich Ebert-Stiftung herausgegebenen Studie „Die Abwertung der Anderen“ zufolge, die Einstellungen gruppenbezogener Menschenfeindlichkeit in acht EU-Ländern (Ungarn, Polen, Deutschland, Frankreich, Großbritannien, Italien, Portugal und die Niederlande) untersucht hat, stimmen zwischen 50 und 70% der befragten Ungarn diesen Aussagen zu. Diese Umfragewerte bewegen sich allerdings durchaus im Mittelmaß der anderen untersuchten Länder, was auch vor dem Hintergrund auffällt, dass in Ungarn deutlich wenige Muslime leben als etwa in Deutschland. Die VerfasserInnen der Studie sehen darin einen Beweis für die „Macht des Vorurteils“.

Die “Organisation der Muslime in Ungarn“ MME ist eine von vier derzeitigen ungarischen Muslimorganisationen, gegründet 2000 und auf den Erfahrungen und Vernetzungen eines 1987 gegründeten Verbandes muslimischer Studierender aufbauend. Im Unterschied zu den anderen heutigen Verbänden, legt die MME einen größeren Schwerpunkt auf die lokale Arbeit und bietet neben einem Rahmen für Gebete und andere islamische Pflichten, Bildung in Religion und arabischer Sprache, aber auch Austauschtreffen für Nicht-Muslime an und arbeitet eng mit Vertretern anderer Religionen zusammen. Wir sprachen mit dem Präsidenten Zoltán Sulok im Gemeindezentrum in der Sáfrány utca in Budapest.

Wie haben Sie die Schätzung der Anzahl der Muslime vorgenommen, und wie viele Mitglieder hat Ihre Organisation?

Zoltán Sulok: Wir haben die Menschen in unserem Umfeld gefragt, wie viele Personen sie kennen, die in muslimischen Familien geboren wurden oder den Islam als Glauben angenommen haben und haben dann viele unter jenen weiter befragt, danach die Zahl auf 32.000 geschätzt. Dabei können wir nicht zwischen praktizierenden und nicht-praktizierenden Muslimen unterscheiden, was wir uns aber auch nicht anmaßen wollen. Wir selbst haben 320 registrierte Mitglieder. Es gibt aber eine generelle Tendenz unter Minderheiten in Ungarn, sich nicht zu registrieren, aus Angst, der Staat oder andere Gruppen könnten diese Daten später gegen sie verwenden.

An unseren Programmen nehmen weitaus mehr Personen teil, z.B. regelmäßig an die 2000 Menschen bei den Gebetsfesten. Dafür reichen unsere Räumlichkeiten hier in der Sáfrány út bei weitem nicht aus, wir mieten dann Hallen in Einkaufszentren. In Szeged verfahren wir ähnlich und die Außenstelle in Pécs hat mit der Stadtverwaltung vereinbart, die ehemalige osmanische Moschee für manche Gebete nutzen zu können.

Wie sehen Ihre Angebote für Nicht-Gläubige aus?

Samstags ab 15 Uhr kann jeder vorbei kommen, um Antworten auf seine Fragen zu erhalten. Wir sehen uns in der Pflicht, die richtigen Informationen über den Islam zu vermitteln; darauf hat jeder ein Recht, zumal der Islam Teil des kulturellen Erbes der Menschheit ist. Wir versuchen nicht, zu missionieren oder Menschen zum Islam zu drängen, der freie Wille ist sehr wichtig. Dies anders darzustellen, ist ein typisches Beispiel für falsche Bilder des Islam. Selbstverständlich sind wir überzeugt, dass der Islam der richtige Weg ist, sonst wären wir keine Muslime. Auch auf der muslimischen Seite gibt es noch erhebliche Missverständnisse über den Islam, denen wir mit unseren Bildungsangeboten für Gläubige zu begegnen versuchen. Muslime sollen sich nicht Extremen zuwenden; Nicht-Muslime keine Ängste vor dem Islam haben.

Daneben ist uns die Zusammenarbeit mit Gemeinschaften und Organisationen anderer Religionen sehr wichtig. Wir sind Mitglied in einem informellen Weltreligionsforum in Budapest, zusammen mit Christen, Juden, Hindus und Buddhisten, und arbeiten gemeinsam für Dialog und Verständnis zwischen Angehörigen verschiedener Religionen.

Verfügen Sie über Zahlen zu Personen in Ungarn, die in der letzten Zeit den Islam als Glauben angenommen haben?

Wir führen keine Statistik dazu, aber im Schnitt kommen jede Woche Menschen zu uns, die sich dafür interessieren, übrigens vor allem Frauen (ca. 80%). Wir stellen die Bedingung, dass der Islam richtig verstanden und praktiziert wird.

Wie beschreiben Sie das Islambild der ungarischen Mehrheitsgesellschaft?

Aufgrund der 150-jährigen Türkenherrschaft sehen viele Menschen den Islam weiterhin als „Religion des Feindes“ an. Bücher wie „Sterne von Eger“, eine Pflichtlektüre in den ungarischen Schulen, mit einer sehr problematischen Darstellung des Islam, tragen zur Aufrechterhaltung dieser Auffassung bei. Auf einer anderen Seite sehen viele Menschen in der heutigen Türkei Ungarn als „Brudernation“ an. Die offizielle Rhetorik blendet die Bedeutung und Präsenz von Juden und Muslimen in der Geschichte Ungarns gern aus, wenn sie das christliche Erbe betont. Die meisten Nicht-Muslime in Ungarn haben nur sehr vage oder eben falsche Vorstellungen des Islam. Zum Beispiel reagieren viele Leute mit Erstaunen, wenn sie erfahren, dass ich Muslim bin. Viele denken, der Islam ist in dieser Hinsicht wie das Judentum, dass der einzelne Gläubige hineingeboren werden muss.

Auch Behörden und die Regierung nehmen manchmal nicht wahr, dass viele Muslime ungarische Staatsbürger sind.  Als eine der anderen ungarischen Muslimorganisationen vor einigen Jahren ein Glaubenszentrum in Újbuda errichten wollte, haben sich die AnwohnerInnen mit ihren Protesten letztlich durchgesetzt. Viele unter ihnen teilten die Befürchtung, es sollte ein islamisches oder arabisches Ghetto in ihrer Nachbarschaft entstehen. Islam-GegnerInnen hatten diese Missverständnisse mit Propaganda unterstützt.

Respektieren Schulen, Ämter und Arbeitgeber im Alltag islamische Pflichten wie die Gebete?

Das ist sehr unterschiedlich. In manchen Fällen ist die Einhaltung der Pflichten zu einhundert Prozent möglich, in anderen gar nicht. Aber nicht immer stehen schlechte Absichten dahinter. Generell sind die meisten Nicht-Gläubigen nur schlecht informiert und erweisen sich in der Interaktion als bereit, uns und unseren Pflichten entgegen zu kommen. Gerade mit Schulen haben wir gute Erfahrungen gemacht.

Jüngere Gläubige können durchaus das Gefühl entwickeln, allein zu sein und einen einsamen Kampf führen zu müssen. Dabei sind in dieser Gesellschaft sind so viele Dinge möglich. Wer seinen Glauben mit einer beständigen und aufrechten Einstellung lebt, erfährt oft Toleranz und Respekt. Wenn Leute einen Muslim als Person kennen, ist das schon eine gute Grundlage. Leute, die sich am meisten über „Fremde“ auslassen, kennen oft keine persönlich. Toleranz erfordert Wissen.

Wie sieht die Situation für Frauen aus, die in der Öffentlichkeit Schleier tragen?

Viele Arbeitgeber wollen keine Angestellte, die einen Schleier trägt, und suchen dann andere Gründe, sie nicht einzustellen, da eine Diskriminierung aufgrund der Religion per Gesetz strafbar wäre. Auf der Straße kann es zu Bemerkungen oder gar Beleidigungen kommen, zumal Frauen durch den Schleier ihren Glauben sichtbar machen.

Mussten Sie Erfahrungen mit Rechtsextremen sammeln?

Wir beobachten das interessante Phänomen, dass rechtsgerichtete Personen mit der Haltung „Der Feind meines Feindes ist mein Freund“ zu uns kommen und fragen, ob wir mit ihnen gegen Juden vorgehen wollen, als ob wir auch Antisemiten wären. Dem liegt ebenfalls eine falsche Vorstellung des Islam zugrunde.

Jobbik, aber auch anderen, gefällt unsere Präsenz sicherlich nicht, aber momentan sind wir kein besonderes Thema für sie. Im Moment bildet der Antisemitismus tatsächlich ein größeres Problem in Ungarn, über das aber auch mehr gesprochen wird als über Islamfeindlichkeit.

Schätzen Sie die Ergebnisse der Studie der Friedrich-Ebert-Stiftung (s.o.) bezüglich der ungarischen Bevölkerung als realistisch ein?

Ich denke, die Zahlen aus der Studie sind repräsentativ, aber ich wäre sehr vorsichtig mit solchen Verallgemeinerungen. Ich bin optimistisch, dass mit guten Absichten, verlässlicher Information und von mehreren Seiten getragenen Maßnahmen der Aufstieg einer sich in Pogromen oder Rechtsverletzungen äußernden Gefahr vermieden werden kann, was zu den gemeinsamen Interessen der europäischen Gesellschaften gehört.

Wie stellen die dominanten ungarischen Medien Muslime und den Islam dar?

In Ungarn gibt es zwar weniger Muslime als in Westeuropa, die dominanten Medien reproduzieren aber die gleichen Vorurteile. Die dominanten Zeitungen betonen gern, dass jemand ein Muslim ist, wenn er einen Fehler begangen hat, auch wenn die Religion überhaupt nichts mit dem Fall zu tun hat. Dazu kommt eine weit verbreitete Verwechslung der Bezeichnungen, etwa wenn Muslime als Islamisten bezeichnet werden. Aber auch hier beobachten wir, dass oft nicht unbedingt schlechte Absichten, sondern der Mangel an Wissen dahinter stehen.

Für manche Probleme in anderen Ländern, in denen der Islam die Religion der Mehrheit bildet, wird dann auch gern der Islam verantwortlich gemacht, was mit dazu beiträgt, dass viele Leute den Islam und Muslime als homogene Entitäten ansehen. Auf der anderen Seite würden sie wahrscheinlich nicht behaupten, dass ein deutscher Katholik und ein sambischer Katholik identisch sind.

Ein Beispiel für falsche Islambilder sind die so genannten „Ehrenmorde“. Diese haben in Wirklichkeit nichts mit dem Islam zu tun, sondern mit in manchen Gruppen wichtiger Stammesmentalität. Manchmal bildet anti-islamische Propaganda auch Teil einer ideologischen Unterstützung für die Kriege, die die europäischen Regierungen in islamischen Ländern führen oder unterstützten. Daneben gibt es auch noch die absichtlichen Provokationen wie die Mohammed-Karikaturen. Wir haben oft den Eindruck, dass manche Gruppen testen wollen, wo unsere Toleranzgrenze liegt. Viele, die sonst von sich behaupten, liberal zu sein, legen dann äußerst unliberale Haltungen an den Tag, wenn es um Muslime und den Islam geht.

 

Soweit das Interview. Eine Anmerkung zum Schluss: Abgesehen davon, dass Suloks Ansicht von Liberalismus angesichts von Kariakturen offenbar schnell endet, Kritik am Islam also offenbar ein Zeichen von Intoleranz ist, ist er auch in Ungarn nicht unumstritten. Die sanften Töne, die er hier anschlägt, stehen durchaus im Gegensatz zu einem kämpferischen Auftritt auf einer Palästina-Demonstration auf dem Budapester Heldenplatz 2009 im Zusammenhang mit dem 60. Jahrestag der Gründung Israels, bei der sich Sulok - in recht martialischer Montur - sehr politisch gab und die ihm in manchen Medien den Vorwurf antiisraelischer Hetze einbrachte.

Simon Rahdes
 

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