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(c) Pester Lloyd / 13 - 2011  POLITIK 01.04.2011

KOMMENTARE

Salami mit Stammbaum

Ungarn und der Kampf um Klon-Food in der EU

Weil der Mehrheit im europäischen Parlament der "Kompromiss" des Rates zum Umgang mit Klon-Food nicht ausreichend war, lehnte sie ihn ab. Nun müssen sich die Parlamentarier von der ungarischen EU-Ratspräsidentschaft vorwerfen lassen, selbst dem ungekennzeichneten Verkauf auf Jahre Vorschub geleistet zu haben. Die Ungarn empören sich über die "Selbstdarstellung" des Parlamentes und den mangelnden Gehorsam gegenüber dem Rat. Die Industrie und ihre willfährigen Minister haben bekommen was sie wollten.

"Bahn frei für geklonte Lebensmittel" - unter dieser Überschrift beklagt sich die ungarische EU-Ratspräsidentschaft über eine Entscheidung des Europäischen Parlamentes in der Nacht zum Mittwoch, die dafür sorgt, dass "zumindest für die nächsten drei Jahre" der Verkauf von Produkten aus geklonten Tieren oder deren Nachkommen ohne gesonderte Kennzeichnung in der EU erlaubt ist bzw. bleibt. Die Ungarn drehen damit die Fakten um, zäumen das Pferd von hinten auf, denn eigentlich wollten die Parlamentarier viel weiter gehen als der Rat.

“Reines Schweinefleisch” wird für die berühmte Wintersalami annonciert. Die beiden traditionellen Hauptsalamiproduzenten des Landes, Herz und Pick sind heute in Händen einer Holding, die vom Chef der größten Bank des Landes, der OTP, Sándor Csányi, kontrolliert wird.

Sándor Fazekas, der ungarische Minister für die Entwicklung des ländlichen Raums sagte, dass die "Ratspräsidentschaft vom Rat ein klares Mandat erhalten, hatte", um einen Rahmen zu schaffen, "der praktisch und rechtlich umsetzbar ist" und die "höchstmöglichen" Standards für Lebensmittel setzt. Dies hätte ein Verbot des Klonens bei der Herstellung von Lebensmitteln, die Einführung der vollständigen Rückverfolgbarkeit von geklonten Tieren und die schrittweise Einführung von Kennzeichnungsvorschriften beinhaltet, um Verbrauchern "angemessene" (!) Informationen für ihre Entscheidungen zu bieten. Nimm diesen "Kompromiss" an oder das Klon-Food verbleibt auf Jahre weiter ungekennzeichnet in den Regalen. "Friss oder Friss", das war die Alternative für die Parlamentarier.

Lobbyistenschlacht um die Fleischtheke

Fazekas geht noch weiter. Das Parlament ging "den Weg der politischen Selbstdarstellung, indem es versuchte, Druck auf den Rat auszuüben." (...) "Es wollte eine irreführende, nicht machbare „Lösung” durchsetzen, die es in der Praxis erfordert hätte, einen Stammbaum für jede Scheibe Käse oder Salami zu erstellen. Der Rat als zuständiger Mitgesetzgeber konnte dem Parlament hierin nicht folgen, da diese „Lösung” den Verbrauchern ein falsches Sicherheitsgefühl gegeben und die Gefahr heraufbeschworen hätte, uns in einen ausgewachsenen Handelskrieg hineinziehen zu lassen.”, erläutert der sichtlich genervte Minister die Angelegenheit. Einige Beobachter meinen, dass sich die industriellen Lobbyisten diesmal sogar sehr clever der Gegner von Klonfood bedient hätten, in dem sie nahelegten, dass die Kennzeichnungspflichten möglichst detailliert zu sein haben, so detailliert, dass sie nicht mehr umsetzbar waren.

Zu 180 Grad anders sieht es das Europäische Parlament. Hier sind "die Minister" also letztlich der Rat die Blockierer:  "Die Minister wollten sich weder auf ein Verbot noch auf eine Kennzeichnung von Klonfleisch einlassen. Diese kompromisslose Haltung hat das Scheitern provoziert", sagte der deutsche EU-Abgeordnete Peter Liese von der CDU / EVP.  Zuletzt sei man den Vertretern des Rates weit entgegengekommen. "Aber offenbar wollen die Mitgliedsstaaten, dass die Verbraucher Klonfleisch essen, ohne dies zu erfahren. Der Rat stellt sich mit seiner Politik gegen die breite Mehrheit der Bürgerinnen und Bürger in Europa". so Liese.

Alle haben "die Meinung der Mehrheit" gepachtet

Demnach muss einer lügen, das Parlament oder Minister Fazekas, denn dieser sagt: "Dabei gab es bereits ein klares Abkommen zwischen dem Europäischen Parlament und dem Rat, wonach das Klonen in Zuchtstationen zur Lebensmittelproduktion, sowie Lebensmittel aus geklonten Tieren ganz zu verbieten wären." . Nur eben nicht sofort und mit der Kennzeichnung wäre es auch so eine "schrittweise" Sache gewesen. Fazekas meint, dass der Ratsentwurf auch "die klare Meinung der Mehrheit der europäischen Verbraucher wiederspiegelt, die meinen, dass man nicht genug über die Auswirkungen von Lebensmitteln aus geklonten Tieren auf die menschliche Gesundheit weiß. (daher ist man es erstmal weiter? Anm.) Ein solches Verbot des Klonens für die Lebensmittelproduktion hätte ein Importverbot für Lebensmittel aus geklonten Tieren aus Drittländern in den Binnenmarkt bedeutet." und ergo Handelskrieg.

Da keine Einigung erzielt wurde, ließ man den Vorschlag fallen und mit ihm die Möglichkeit, neu aufkommenden Fragen wie Nano-Lebensmittel, innovative Lebensmittel und Verbesserung der Wettbewerbsfähigkeit der europäischen Lebensmittelindustrie angemessen zu untersuchen. Warum das dadurch verunmöglicht wurde, erklärt Fazekas jedoch nicht. "Obwohl die Kommission die Möglichkeit hat, einen neuen Vorschlag zu unterbreiten und das Verfahren neu einzuleiten, könnte dieser Vorgang mehrere Jahre in Anspruch nehmen und könnte wiederum kurzfristigen Interessen zum Opfer fallen." stellt die ungarische EU-Ratspräsidentschaft, frustriert über ihre erste große Niederlage bei Sachthemen, fest.

Eigenartige Demokratieauffassung der Ratspräsidentschaft

Der Vorgang ist wiederum ein Lehrstück, wie Interessenskonflikte und legislative Überlappung zwischen Parlament und Rat Politik zunichte machen können, wie sich EU-Institutionen gegenseitig blockieren und wie mächtig die Lobbyisten sind. Ähnliches erlebten wir ja gerade auch bei der Lebensmittel-Ampel, bei der die Kompromisse so faul gestaltet wurden, dass am Ende ein Nullergebnis stand. Beide Seiten, Rat und Parlament meinen, die "klare Mehrheit" der Bürger zu vertreten.

Dabei stellt sich auch die Frage, wie sich Herr Minister Fazekas Demokratie denn anders vorstellt, als dass "das Parlament die Regierungen unter Druck" setzt? In seinem Land ist das freilich anders, da geht alles Hand in Hand, da stören gewählte Abgeordnete längst nicht mehr die weise Politik der Regierung. Doch diese Haltung des Rates (sprich der nationalen Regierungen) gegenüber dem EU-Parlament ist kein rein ungarisches Phänomen, das konnten auch der Vertrag von Lissabon nicht ändern.

 

Zumindest ambivalent ist auch Fazekas´ Haltung in der Sache. Wie passt es zusammen, dass sein Regierungschef bereits mehrfach lautstark forderte, die Ungarn sollen sich, wörtlich, von dem "westlichen Drecksfrass" fernhalten (so gesagt in seiner Rede zu einem 28-Punkte-Sofortprogramm und darin auch schriftlich niedergelegt), sich auf die Erzeugnisse der ungarischen Scholle besinnen, beim Import und Konsum von geklonter Ware solle man sich aber bitte jetzt nicht so anstellen. Auch möglich, dass man begründete Angst vor Stammbäumen für Salamis hat - denn unabhängig davon, ob Nahrung aus geklonten Tieren relevante Größenordnungen umfasst oder Gefährdungen beinhaltet, stellt sich die Frage, wie das Grundrecht auf freien Zugang zu Informationen in der EU künftig behandelt wird. Denn das fatale am Ausgang der Geschichte ist, dass die Industrie ihren Willen durchsetzen konnte, was immer das Parlament entschieden hätte.

red.

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