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Chinatown an der Donau

Der Vier-Tiger-Markt in der Józsefváros

„Nem szabad bemenni, razzia van - Zutritt verboten, hier läuft eine Razzia“, rülpst der Polizist hervor. Er klingt wie eine Nadel, die sich in der Schallplatte verheddert hat. „Kommen sie in einer Stunde wieder, dann sind wir weg“. Alle Ausgänge sind besetzt, die Mauern und Container versperren die Sicht auf das Geschehen dahinter. Eine knappe Stunde später aber hält der Alltag wieder Einzug auf dem Vier- Tiger-Markt in Budapests VIII. Bezirk.

Den Platz der Polizisten nehmen die Sicherheitsleute ein. Große, vierschrötige und fies aussehende Ungarn mit platten Nasen und Narben im Gesicht sorgen nun für „Ordnung“, dafür, dass hier auf dem ehemaligen Frachtbahnhof in Ruhe gefeilscht und gehandelt werden kann.

1994 entstand auf dem circa 26 Hektar großen Gelände der MÁV, der ungarischen Eisenbahngesellschaft, die immer noch der Eigentümer ist, der größte Asien-Markt in Budapest. Anfang der 1990er ließen sich hier in der Józsefváros (Josefstadt) Tausende Chinesen nieder, die nach 1988 ins Land strömten. In dieser Zeit wurde bei einer routinemäßigen konsularischen Konferenz von ungarischer Seite der Vorschlag geäußert, die Visumspflicht zwischen den Ländern abzuschaffen, da es sich ja um zwei „Freundesstaaten“ handele, zwischen denen kaum touristische und offizielle Delegationskontakte bestünden.

So wurde am 1. Januar 1989 die Visumspflicht abgeschafft und knapp 50.000 Chinesen rückten in Ungarn ein. Gergely Salát, wissenschaftlicher Mitarbeiter am Sinologischen Institut der ELTE, liefert dafür Erklärungen: „Nach dem Tod Mao Zedongs 1976 wurde die Volksrepublik China auf den Weg zur „sozialistischen Marktwirtschaft“ gebracht, Reichtum galt nun als chic, eine Demokratisierungsbewegung entstand. Auch entwickelte sich eine Kleinunternehmerschicht, die sich aber nach den Ereignissen auf dem Platz des Himmlischen Friedens 1989 der Ungewissheit ausgesetzt sah, ob unter der kommunistischen Regierung die wirtschaftlichen Reformen fortgesetzt werden oder nicht. Gezwungenermaßen orientierten sie sich in Richtung Ausland.“

In dieser Zeit brach in Ungarn gerade die sozialistische Planwirtschaft zusammen, viele verloren ihre Arbeitsstelle und kämpften mit finanziellen Problemen. Es entstand ein großer Bedarf an den billig produzierten Kleidern und Produkten, die die Chinesen brachten – so wurden sie geduldete neue Einwohner der Hauptstadt. Die Visumsfreiheit wurde 1992 wieder abgeschafft, auch verschärften sich dann die Vorschriften hinsichtlich Firmengründungen und Steuern. Die Zahl der Chinesen nahm ab, heute leben offiziell 9.000 bis 10.000 von ihnen in Ungarn, nach polizeilichen Schätzungen aber wohl eher 30.000.

Die „Schlitzaugen“ bleiben lieber unter sich

János ist Geldwechsler. Und einer von wenigen Ungarn auf diesem Markt. Tag für Tag sitzt der Mann mit dem dunklen, wirren Haar vor der Gyrosbude nahe des Eingangs, seine schmalen Augen beobachten aufmerksam die ankommenden Touristen und Händler. In seinem Mundwinkel glimmt eine Zigarette. „Ich wechsele normalerweise nicht für Touristen – das bringt zu wenig Umsatz. Ich warte auf die Händler, die mit Euros oder Dollar kommen“, erklärt er paffend. Ob er oft Geschäfte mit den Chinesen mache? Grimmig antwortet er, dass die „Schlitzaugen“ eher unter sich bleiben – und das auch gut so sei. János profitiert zwar von den Chinesen, aber akzeptieren tut er sie nicht. Auch die Chinesen scheinen wenig Wert auf ihre nicht-chinesischen Mitmenschen zu legen: Je weiter man in das Wirrwarr des Marktes vordringt, desto öfter stößt man auf Ablehnung.

Man wird misstrauisch beäugt und Fragen werden grundsätzlich nicht beantwortet. Sie spielen lieber Mahjongg oder Karten, im echt asiatischen Getöse. Hin und wieder schwatzen die jüngeren Chinesen sogar auf Ungarisch. „Bananen“ nennen die Chinesen diejenigen unter sich, die in Ungarn geboren wurden oder als kleine Kinder hierher kamen: außen gelb, innen weiß. Sie gehen in ungarische Kindergärten und Schulen, haben ungarische Partner und Freunde. Zwischen ihnen und der Generation der Eltern existiert eine große Kluft. „Die erste Generation der Chinesen hat sich im Allgemeinen nicht integriert, da sie als Erwachsene hier ankamen. Sie lernen die Sprache kaum und bewahren ihre heimischen Traditionen. Zuhause kochen sie chinesisch, treffen sich in chinesischen Restaurants und singen zusammen Karaoke“, erklärt Gergely Salát. Es gibt chinesische Frisöre, Videotheken, Spielplätze, Lebensmittelläden. In den von Chinesen bewohnten Vierteln empfangen sie über Kabel auch chinesisches Fernsehen. Die Kontakte zu Ungarn beschränken sich auf die offizielle und Geschäftsebene.

Außer in Geschäften, Restaurants oder Märkten kommen Ungarn und Chinesen eigentlich nicht in Kontakt. Die Chinesen sehen sich nicht als unterdrückte Minderheit, sondern als einflussreiche Wirtschaftskraft. In den Ungarn sehen sie in erster Linie Verbraucher, beziehungsweise eine Einnahmequelle. In Zeiten, da China wirtschaftlich boomt und Ungarn eher stagniert, sind einige auch geneigt, auf die Ungarn herabzublicken – ebenso wie die Ungarn, die aus einem traditionellen mitteleuropäischen Weltbild heraus ähnlich handeln. Trotzdem sind sie sich des globalen Vordringens der chinesischen Wirtschaft wohl bewusst.

Ein bedeutender Teil der Chinesen sieht Ungarn nicht als dauerhaften Aufenthaltsort an. Viele wollen weiter nach Westeuropa oder in die USA, nicht wenige aber auch zurück nach China, wo sie bessere Geschäftsmöglichkeiten sehen. Darüber hinaus akzeptiert China nicht die doppelte Staatsbürgerschaft und ein Großteil ist nicht geneigt, die chinesische abzulegen. Auch in dieser Weise kapseln sie sich noch immer von der ungarischen Gesellschaft ab.

Von „A“ wie Abiturzeugnis bis „W“ wie Waffe

Die Ungarn kaufen ihre Ware trotzdem. Inmitten dieses Chaos aus Pappkartons, Wellblechhütten und Containerblöcken, die sich endlos auf dem Güterbahnhof entlang ziehen, verschwimmen die Grenzen zwischen den Kulturen. Araber handeln mit Vietnamesen, Rumänen mit Koreanern und die Chinesen mit jedem, der Geld bringt. Und auch gehandelt wird mit allem, was Profit verspricht: DVDs, Kleidern, Parfüm, Jeans, Socken, Schuhen und T-Shirts – natürlich alles absolut original. In den Auslagen der Stände liegt häufig nur die minderwertige Ware, unvorstellbar viel Kitsch, grell bunt und glitzernd. Ein paar Touristen werden damit übers Ohr gehauen.

Erst wenn sich die Tore mancher Container öffnen, kommen die richtig guten Geschäfte zustande. Hier kann man alles kaufen. In den schmalen Gassen, verdreckt und nach Unrat stinkend, bieten fliegende Händler ihre Ware feil: Von Abiturzeugnissen über Sprachdiplome bis hin zu gefälschten Steuererklärungen und Pässen, sogar Handfeuerwaffen – alles ist hier möglich.

Auf der anderen Straßenseite, in den großen Hallen, gehen die Großhändler ihrer Arbeit nach. Aufgeteilt in Parzellen bieten sie hier Massenware zu unverschämt günstigen Preisen an. Jeans kann man hier oft nur ab 100 Stück kaufen und auch an dem Schuhstand sagt „Nincs egy pár“, dass man hier die vom weiblichen Volk so heiß geliebten Stiefel nicht einzeln erwerben kann. Ein Chinese, der gerade eine nicht identifizierbare, dampfende, mit Kräutern versetzte Flüssigkeit aus einem Gurkenglas schlürft und dabei ein Gesicht zieht, als ob Buddha persönlich sie gekocht hätte, will uns gleich einen ganzen Karton Lederstiefel aufschwatzen.

Gegen 16.30 Uhr, wenn es zu dieser Jahreszeit langsam dunkel wird, brechen die Händler ihre Zelte ab. Laut brüllend bahnen sie sich dann ihren Weg durch die verwinkelten Wellblechalleen, vorbei an Dutzenden Schaufensterpuppen, aufgereiht wie die kaiserliche Terrakotta-Armee. Sollte dabei zufällig etwas von ihren Wagen auf den Erde rutschen, wird es nicht einmal schmutzig: Bevor es überhaupt den Boden berührt, fangen flinke Finger es auf und verschwinden im Gewusel.

Sollte übrigens jemand auf die Idee kommen, an einem der vielen Gyrosstände zu essen, so schaue er sich vorher um, ob schon andere genüsslich in ein mit Fleisch gefülltes Brot beißen. János, der Geldwechsler, jedenfalls lacht uns lauthals aus, als wir fragen, was er denn an diesem Stand empfehlen würde: „Seid ihr verrückt? Seht ihr hier irgendjemanden essen?“

Text und Fotos: Sebastian Garthoff, Patrick Burmeier

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