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Chronik aus dem Untergrund

Die Budapester Metro

Sie ist täglich ein Tummelplatz für Tausende. Das Gesamtnetz beträgt derzeit 33 Kilometer und 42 Stationen. Eine Exkursion unter Tage.

Zärtlich nähert sich ihre Hand seinem Gesicht und streicht den Puderzucker aus seinen Mundwinkeln. Er lächelt müde. Allgemein dominieren die Müden, die Nachdenklichen, die in sich Versunkenen. Intimität ist Mangelware. Az ajtók záradnak – die Türen schließen sich, zu, eine Mauer. Dahinter Tausend Biographien, die zu einer bestimmten Zeit an einem bestimmten Ort gemeinsam eine Metrofahrt teilen.

Pionierarbeit unter der Oberfläche

Die Blicke huschen seit der Jahrhundertwende. Bereits nach weniger als zwei Jahren konnte die Strecke der Földalatti, der ersten U-Bahn auf dem europäischen Festland, am 2. Mai 1896 in Betrieb genommen werden. Sie war 3,68 Kilometer lang, davon waren 3,22 Kilometer Tunnel und 460 Meter oberirdisch. Nach der Eröffnung dieser heute so genannten Millenniums-Linie besichtigte Kaiser Franz Joseph I. am 8. Mai 1896 die Untergrundbahn. Der Kaiser, der an der Station Gizella tér (heute Vörösmárty tér) einstieg, fuhr mit einem eigens für ihn hergerichteten Wagen bis zur Endstation, um die U-Bahn komplett zu besichtigen. Zu Ehren des ungarischen Königs und österreichischen Kaisers erhielt er von der für den Betrieb zuständigen Verkehrsgesellschaft ein ausgeschmücktes und prächtiges U-Bahn-Ansichtsalbum. Als Dankeschön gab der Regent den Erlass bekannt, dass die U-Bahn in Zukunft seinen Namen tragen dürfe.

Über ein Jahrhundert später: Stampfen und Schnaufen bei jedem Halt, dann erneutes Lostraben wie eine widerspenstige Ziege. Die Züge aus sowjetischer Produktion werden bis 2008 bleiben, dann aber durch neue 5-teilige voll durchgängige Alstom Züge abgelöst werden. Nur der Geruch der Metros, der bleibt und er ist doch immer und überall irgendwie gleich. Eine Mischung aus trockenem Gebäck und Urinspritzern bei zu hohen Temperaturen. Es perlt der Schweiß und es begegnen sich die Blicke, wenn man dem sowjetischem Monster einmal entkommen ist. Alles erfolgt hier auf den ersten Blick, denn für einen zweiten bleibt meist keine Zeit. Auf den Rolltreppen schweifen die Gedanken, auch die Hände, die manchmal zu tief in fremde Materie greifen. Im Ameisengewühl der Stoßzeiten sind sie nur flüchtige Schatten, kleine Gefahren des Alltags in den Katakomben der Budapester Metro.

Von der Sowjetunion lernen...

Schon seit der Eröffnung der ersten U-Bahnlinie gab es Pläne für weitere Strecken, deren Realisierung jedoch ein halbes Jahrhundert auf sich warten ließ. Aufgrund der Bevölkerungszunahme nach dem Zweiten Weltkrieg wurde 1947 ein überarbeitetes Netz beschlossen, das unter anderem eine neue Ost-West-Linie und eine Nord-Süd-Linie vorsah. Zentrum der beiden nachfolgenden Linien ist jeweils der im Zentrum legende Deák Ferenc tér, das Mekka unter den Budapester Metrostationen.

Bis 1953 waren drei Kilometer der Strecke gebaut, danach verschlechterte sich die wirtschaftliche Situation Ungarns rapide, so dass die Bauarbeiten für die U-Bahn eingestellt werden mussten. Der Bau dieser Linie orientierte sich streng nach sowjetischem Vorbild. Sie wurde in bis zu 60 Metern Tiefe gebaut und alle Bahnhöfe möglichst prunkvoll gestaltet. Die Königin unter den Rolltreppen befindet sich am Moszkva tér. In den 1:50 Minuten bis ans Tageslicht bleibt genug Zeit, um das Gesäß des Vordermannes zu erkunden – teils mit Entzücken, teils mit Entsetzen. Auswahl besteht genug, denn das Fahrgastaufkommen liegt bei 500.000 Personen pro Tag.

Wohin ein jeder eilt, kann niemand sagen. Zu den Bahnhöfen, zu den Sehenswürdigkeiten, zu den Arbeitsplätzen, zu einer anderen Station, weil sie sich verlaufen haben. Besonders in den Stationen der hübsch aufgemachten Metro 2 lässt sich mit Untergrundsightseeing die Zeit vertreiben. Kleine Schaufenster erzählen Geschichten aus der Budapester Historie, an einigen Stellen berichten Videoleinwände über die aktuellen Geschehnisse des Tages und informieren zeitgerecht, wann der Reisende bitte zurücktreten sollte, da das Relikt vergangener Verkehrstage einfährt. In diesen tifer gelegten Unterhaltungstempeln lässt es sich in der Tat gut angehen.

Gepflegtes Durcheinander

Kein Wunder, dass man schnell auf den Geschmack kam. Bereits wenige Wochen nach der Eröffnung der kompletten M2 begannen die Arbeiten für eine neue Strecke im Untergrund Budapests. Nach vier Jahren Bauzeit konnte am 31. Dezember 1976 auf der Strecke Deák Ferenc tér – Nagyvárad tér der Betrieb aufgenommen werden. Danach ging es stetig voran mit dem U-Bahn-Ausbau, auch die südlichen und nördlichen Stadtviertel benötigten dringend einen U-Bahn-Anschluss, da die Straßenbahn und die Busse überlastet waren. Wiederum nach vier Jahren, am 20. April 1980, fuhren die Züge nun bis Kobánya-Kispest.

Kurz vor dieser Endstation taucht die Metro wieder ans Tageslicht, dort, wo Budapest langsam in Richtung des Flughafens Ferihegy ausfranst. Kobanya ist ein Ort zum Kommen oder zum Gehen. Jene, die bleiben, können nicht anders, sind unfreiwillig festgenagelt und vertreiben die Zeit, indem sie die Hand aufhalten. Finanzierungsschwierigkeiten dominierten auch den Bau der M 3, die erst im Dezember 1990 bis nach Újpest-Központ verlängert wurde. Dort sorgen Aluminiumbleche statt Steinverkleidungen für das entsprechende Ambiente. Újpest hat nichts, außer das Glück, sich noch etwas vom glänzenden Namen Budapest leihen zu dürfen und einen Fußballklub, der durch seine Qualität zumindest in Ungarn auf den höheren Plätzen rangiert.

Ob Norden, Süden, Osten, Westen: „Du kommst hier nicht rein“, sagen die drögen Blicke der Kontrolleure, die nur all jene passieren lassen, die etwas in der Hand haben, das wie ein Fahrschein aussieht oder ein Alter, das zum kostenlosen Fahren berechtigt. Rechts stehen, links gehen, heißt es dann, doch diese Konformität stößt selten auf Gegenliebe und die hauptstädtische Bevölkerung steht kreuz und quer. Bald wird sie es auf einer weiteren Strecke tun, doch wann die Metro 4, dessen Ausführung derzeit unzählige Kerben ins Budapester Antlitz schlägt, tatsächlich in Betrieb geht, steht in den Sternen. Bis dahin heißt es demütig sein und mit Geduld der Veränderungen harren - und die Chronik unter Tage um weitere Kapitel ergänzen.

Sebastian Garthoff

Die offzielle Webseite der Metro (BKV) mit Fahrplänen, Preisen etc.

Seite über den sich hinziehenden Bau der Linie 4 (offiziell)

Die deutsche Übersetzung und Bedeutung der Namen der Budapester Metrolinien

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