Hauptmenü

 

 

| More

 

(c) Pester Lloyd / 2008 GESELLSCHAFT
_______________________________________________________
 

Leben oder aufgeben

Der Alltag der Obdachlosen in Budapest

Bei der letzten Zählung des Sozialen Fürsorgezentrums der Stadt Budapest fand man in einer besonders kalten Nacht 3.000 mehr oder weniger unter freiem Himmel schlafende Menschen. ...

In der Tagespresse werden wir fast täglich darauf hingewiesen, dass die Opfer von Natur- oder Hungerkatastrophen überall in der Welt dringend Hilfe benötigen, die Gefahr groß ist, dass diejenigen, die durch Beben, Überschwemmungen oder Kriege ihr Heim verloren haben, in bitterkalten Wintern auch ihr Leben verlieren könnten. Doch wir müssen unseren Blick gar nicht so weit in die Ferne richten, um derartiges zu erfahren. Hier bei uns, in unseren Hauseingängen, auf Schaufenstersimsen, in U-Bahn-Unterführungen leben sie, die Obdachlosen Budapests, der Kälte meist ungeschützt ausgesetzt.

Bei der letzten Zählung des Sozialen Fürsorgezentrums der Stadt (Budapesti Módszertani Szociális Központ és Intézményei) am 3. Februar letzten Jahres – einer besonders kalten Nacht – fand man 3.000 mehr oder weniger unter freiem Himmel schlafende Menschen.

Wieviele Menschen obdachlos sind, weiß keiner

Die städtische Einrichtung ist die größte, die sich in der ungarischen Hauptstadt der Rundum-Belange der Obdachlosen annimmt. Ich durfte ihrer Zentrale in der Dózsa György út 152 einen Besuch abstatten und Einblicke in das Alltagsleben der Mitarbeiter und Bewohner erhalten. Der Direktor des Sozialen Fürsorgezentrums, József Pelle, betonte, es sei schwer, konkrete Angaben über die Obdachlosenzahlen in Budapest zu nennen, da es einen großen Teil von Menschen gäbe, die zwar keine eigene gemeldete Bleibe haben, aber wechselnd hier und da unterkommen. Es sei eine Frage der Definition des Wortes. Den wirklichen Überblick besitzen die Behörden nur über die Obdachlosen-Einrichtungen der Stadt.

Das Fürsorgezentrum unterhält insgesamt zwölf Einrichtungen über ganz Budapest verteilt und mit den unterschiedlichsten Funktionen. So können sich die Bedürftigen in Tagesstätten mit einer Gesamtkapazität von 2.350 Plätzen und Verpflegungs- wie Waschmöglichkeiten aufhalten. Die Nachtlager öffnen erst abends um sechs Uhr und müssen bis acht Uhr morgens wieder verlassen werden. Hier erhält jeder im Winter zu Essen, hygienische Einrichtungen dürfen ebenfalls nicht fehlen. Für längere Aufenthalte stehen die sogenannten Übergangsunterkünfte zur Verfügung, welche von drei Monaten bis zu mehreren Jahren genutzt werden können und 1.897 Menschen Platz bieten, sowie ein Altenheim mit 80 Plätzen. Ohne Schlafmöglichkeit werden des Weiteren Küchen unterhalten, die täglich das Essen für bis zu 1.106 Personen kochen. Um die Gesundheit der oft nicht nur obdachlosen, sondern auch kranken Menschen kümmern sich mehrere Ärzte und Pfleger in Krankenhäusern (230 Plätze) und Arztpraxen.

Doch wie man täglich in Budapest sehen kann, wenden sich viele Menschen nicht an derartige Einrichtungen. Manche sind zu stolz, sagt Pelle, manche sind zu krank, um dies zu tun oder haben Angst vor den anderen Menschen in den Unterkünften. Andere wiederum sind in regelrechten Banden organisiert und versuchen sich selbst zu versorgen. Aus diesem Grund sind jede Nacht Sozialarbeiter in Budapest unterwegs und bringen denen, die es am nötigsten haben, ein paar Lebensmittel und Decken, in geringem Umfang auch Medikamente. Pro Jahr sterben in der ungarischen Hauptstadt 40 bis 70 Menschen den Tod durch Erfrieren, wobei es sich hierbei aber nicht unbedingt ausschließlich um Obdachlose handeln muss, so der 48-jährige Direktor. Noch seien bei dem bisher recht milden Winter die Unterkünfte auch nicht ausgelastet. Er erwartet erfahrungsgemäß den großen Ansturm gegen Ende dieses Monats. In den seltensten Fällen muss die Stadt weitere leerstehende Gebäude zur Verfügung stellen, um eine Überfüllung aufzufangen.

Nach all der Theorie wird mir ein Einblick in die zentrale Einrichtung gewährt. Die junge Abteilungsleiterin Erzsébet Budai führt mich geduldig durch das 700 qm große Gebäude. Zuerst betreten wir die Etagen mit den Übergangsunterkünften. Diese sind nach Männern und Frauen, teilweise nach dem Alter oder gesundheitlichen Kriterien strukturiert. Viele Bewohner grüßen sie auf dem Flur mit einem lächelnden „Hallo Erzsi“, überbringen ihr im Vorbeigehen die neusten Neuigkeiten. 326 Männer und Frauen können hier kürzer oder länger in winzigen Ein- oder Zweibettzimmern ein zu Hause finden. Wie aus Wohnheimen bekannt, gibt es Dusch- und Waschräume sowie Gemeinschaftsräume und Kochstellen auf den Fluren.

Es fällt auf, dass an diesem Vormittag nicht viel los ist, denn der Großteil der Bewohner ist auf der Arbeit oder auf der Suche danach unterwegs. Das Soziale Fürsorgezentrum verlangt von den Dauergästen, dass sich jeder – natürlich mit ihrer Unterstützung – um seine „Resozialisierung“ kümmert. Wenn eine (Wieder-) Eingliederung in die eigene Familie oder die Zurückgewinnung der alten Wohnung nicht gelingt, dürfen die Obdachlosen bleiben. Menschen ohne Berufsausbildung erhalten besondere Unterstützung bei der Vermittlung von Jobs. Bei der Finanzierung einer eigenen Wohnung nach erfolgreichem Berufseinstieg bekommt jeder eine einjährige Unterstützung. Wievielen der Schritt zurück in das eigenständige Leben gelingt, liegt im Dunkeln, doch dürfte die Zahl derer, die nach einiger Zeit wieder auf der Straße landen, recht hoch sein, vermutet Pelle. Das Alkoholproblem unter den Obdachlosen leiste dazu leider einen großen Beitrag.

Kulturprogramme gefragt

Mit Begeisterung erfahre ich, dass die Einrichtung für ihre Bewohner ein großes kulturelles Angebot bereit hält. Neben einer kleinen Bücherei und einem PC-Raum mit Internetanschluss wird seit fünf Jahren ein Kulturprogramm zusammen gestellt, das von Ausstellungen über Theater- und Museumsbesuche bis hin zum hauseigenen Filmklub reicht. Teilweise bilden sich Ausflugsgruppen von bis zu 80 Teilnehmern, teilweise sind nur sehr wenige interessiert. Das Fürsorgezentrum möchte seine Bewohner so wenig wie möglich aus dem Alltag der pulsierenden Hauptstadt heraushalten. Außerdem ist die Gruppe der Obdachlosen durchzogen von Menschen aller sozialen Schichten. Gelegentlich kommen Künstler, meist Musiker, ins Haus und geben Konzerte vor einem begeisterten Publikum von 200 bis 300 Menschen. Im großen Saal des Hauses wurden in der Vergangenheit schon viele Partys, Literatur-Abende und Tombolas veranstaltet, welche die Bewohner stark frequentieren und ein wenig von ihren Sorgen ablenkt.

Während des Gesprächs unterbricht uns Olga Balogh, eine Bewohnerin. In ihrem Zimmer ist der Strom ausgefallen. Im Februar wird sie 72 Jahre, erzählt sie stolz und zeigt mir den Raum, in dem sie seit drei (oder seit zwei? Sie weiß es nicht mehr) Jahren lebt. Auf ihren 4,6 qm finden sich ein Bett, ein Stuhl und ein Fernseher. Das Zimmer ist ausgeschmückt mit ungarischen Zierdeckchen. Olga entschuldigt sich, dass sie nicht putzten konnte (dabei findet sich kein Staubkorn), aber sie sei die letzten zehn Tage im Krankenhaus gewesen. Ihr ganzes Leben lang hat sie gearbeitet, erzählt sie, bis sie vor ein paar Jahren um ihr Haus betrogen wurde. Ihre neun Kinder hätten selber kein Geld, um sie zu unterstützen, kommen jedoch ab und an zu Besuch. Sie wolle ihnen aber auch gar nicht zur Last fallen und hier fühle sie sich sehr wohl. Regelrecht schwärmend beschreibt Olga die Bemühungen der Mitarbeiter um ihre Bewohner. Eine Betreuerin habe sie sogar im Krankenhaus besucht. Nur schwer lässt die alte und kranke Frau mich wieder gehen. Die zweite Abteilung des Hauses in der Dózsa György út ist das 1998 eingerichtete Nachtlager. Im Moment meines Besuches ist es menschenleer, kommen die Bedürftigen ja erst ab 18 Uhr. Drei große Säle gibt es hier, mit einem Hochbett neben dem anderen, zwischendrin die eine oder andere Waschmaschine, der ein oder andere Wäscheständer.

Die Matratzen müssen hier aus hygienischen Gründen einen Plastiküberzug haben, betont Erzsi. Wirklich leise gehe es hier selten zu. Oft sind es kleine Streitereien um angebliche Diebstähle der wenigen Habseligkeiten, die die Nachtruhe stören. Es sei bewundernswert, mit welchen Überlebenstechniken und mit welchem Einfallsreichtum diese Menschen ihren Alltag bestreiten.

Wir verlassen die dunklen Kellerräume wieder und betreten die Krankenbereiche der Einrichtung. Für das hauseigene Krankenhaus muss man sich im Winter auf Wartelisten setzen lassen, so groß ist der Ansturm. In normalen Hospitälern werden Menschen ohne Wohnsitz und Sozialversicherung meist gar nicht oder nur unzureichend behandelt, weshalb die Menschen oft auf die Ambulanz und ärztliche Praxis des Hauses angewiesen sind. Allein auf die Praxis erfolgt pro Monat ein Ansturm von ca. 500 bis 600 Menschen. Daneben gibt es psychiatrische Abteilungen und Suchtbehandlung.

József Pelle leitet das Soziale Fürsorgezentrum Budapest nunmehr seit sechs Jahren. Ihm gefällt die Vielseitigkeit der Arbeit, auch wenn es manchmal nicht leicht ist. Er lernt jeden seiner Dauerbewohner persönlich kennen, erfährt die hundertfachen Schicksale, die es in dieser Form zu sozialistischen Zeiten nicht gegeben hat. Die Hälfte der Budapester Obdachlosen kommt vom Land, vor allem aus dem Osten, in die Stadt, denn hier, wo das Leben pulsiert, sind die Mülltonnen praller gefüllt. Im Durchschnitt beträgt das Alter der auf der Straße lebenden 46 Jahre, wovon 80 Prozent männlich sind. Circa 20 Prozent sind zwischen 18 und 25 Jahre alt. Pelle bedauert, dass Betten in den Einrichtungen häufig frei bleiben, obwohl die Menschen draußen frieren. Mit verschiedenen Projekten versucht man schließlich denen zu helfen, die Hilfe suchen bzw. sich helfen lassen. Zur Zeit läuft das von der Europäischen Union unterstütze Projekt EQUAL, welches Obdachlosen die Suche nach Arbeit erleichtern soll.

Neben dieser städtischen und all den übrigen zivilen Einrichtungen Budapests wäre es allerdings bei der hohen Rate an Obdachlosigkeit in Ungarn wünschenswert, das Problem präventiv anzugehen. Dies liegt zum Großteil in den Händen der Regierung, einer Etage, von der die betroffenen Opfer ganz erheblich entfernt sind.

Katrin Wolschke

| More

 

IHRE MEINUNG IST GEFRAGT - KOMMENTAR ABGEBEN

 

(c) Pester Lloyd

IMPRESSUM

Steigern Sie Ihren Google Rank und Ihre Besucherzahlen durch einen Textlink / Textanzeige Infos

 

Pester Lloyd, täglich Nachrichten aus Ungarn und Osteuropa: Kontakt