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(c) Pester Lloyd / 10 - 2012     WIRTSCHAFT   07.03.2012

 

Hungaricum und Politikum

“Made in Hungary” zwischen Wirtschaftsförderung und Parteiideologie

Die EU-Kommission zertifiziert regionale Spezialitäten und will damit kulturelle Vielfalt schützen und fördern. Bisher finden sich erst zehn Produkte aus Ungarn unter dem höchsten Siegelschutz der Gemeinschaft, natürlich die Salami und der Paprika und seit Neustem auch die „Echte Ungarische Kamille“. In Ungarn ist das Hungaricum aber auch ein Politikum, nicht einmal dort geht es ohne Übertreibungen und Instrumentalisierungen.

Meerettich aus der Puszta

"Die Blüte der „Alföldi kamillavirágzat“ besitzt ein intensives, würziges und süßes Aroma, ihr Geschmack ist leicht bitter …“ Was wie in einer schlechten Werbung klingt, ist die EU-Normbeschreibung der "echten ungarischen Kamille, bei der von der Sammlung der Blüte – „mithilfe eines Kamillenkamms, der aus Holz, Eisen oder Blech hergestellt werden kann“ - bis hin zur möglichen Verpackungsvariante – „in aromaschonenden Teebeuteln mit einem Nettogewicht von 1,2 g“ - alles haarklein festgelegt wird, was eine Kamille zu einer „Echten (ungarischen) Kamille“ erhebt.

Paprika, das Klischee für Ungarn schlechthin. Doch die meisten Kleinbauern haben
nicht viel von dem Aushängeschild. Der Handel ist aufgeteilt un ddiktiert den Erzeugern die Preise.
So bleibt meist nur der Stand für die Touristen lohnend.

Ähnlich wie der französische Champagner, der Camembert, aber auch das Halberstädter Würstchen, kann die „Echte Kamille“ seit Ende Januar mit dem Siegel der „Geschützten Ursprungsbestimmung“ gekennzeichnet werden, wenn bei Produktion und Verarbeitung die festgelegten Kriterien erfüllt und im regionalen Ursprungsgebiet durchgeführt werden, also im Falle der Kamille, in der Großen Ungarischen Tiefebene. Der Paprika aus Szeged, die rote Zwiebel aus Makó, der Meerrettich (Kren) aus der Hajdúság, natürlich die Szegeder Wintersalami sind teilweise schon seit 5 Jahren zertifiziert.

Schweine mit doppelter Staatsbürgerschaft

Ein bisschen weniger „Ungarn“ könnte in den Produkten mit dem Siegel „Geschütze geografische Angabe“ stecken, das von der EU vergeben wird, wenn mindestens einer der Herstellungsstufen in einem bestimmten Herkunftsgebiet stattfand. Damit sind primär regionale Wurstspezialitäten ausgezeichnet, wobei die Herstellung minutiös in den jeweiligen Kommissionsverordnungen festgehalten wird. Garantiert von ungarischen Tieren stammen: „Graurindfleisch“ (Magyar szürkemarha hús), //„Csabaer (dicke) Würste“// (Csabai (vastag) kolbász), "Gyulaer Würste (im Paar)“ (Gyulai kolbász/Gyulai pároskolbász) und die "Budapest Wintersalami" (Budapesti téliszalámi).

Newcomer: die “chte ungarische Kamille” hat es unter das höchste
EU-Schutzsiegel geschafft, ein jahrelanger Prozess.

Allerdings wurde bereits Fleisch "slowakischer Schweine" in den Salamis von Lokaloligarch Csányi, Besitzer beider Traditionsfabriken (Herz und Pick) gefunden, der sich daraufhin einiges anhören durfte. Doch die Aufregung hat sich wieder gelegt, offenbar hat man einfach das Gesetz zur vereinfachten doppelten Staatsbürgerschaft angewendet und die Schweine repatriiert. Csányi wies einfach daraufhin, dass die ungarischen Säue zu wenige, zu wenig fett, dafür aber zu teuer seien.

Die berühmte Gyulaer Wurstfabrik ist übrigens Pleite, wie so viele Traditionsbetriebe und das Parlament befasst sich nun mit einer Rettungsaktion dafür, wsa ein typischer Vorgang ist. Anstelle einer rechtzeitigen Förderung kommt die "Rettung", wenn es schon zu spät ist. Es wäre kein Wunder, wenn auch diese Hungaricum wieder bei Csányi landet, denn der hat als Chef der OTP, Ungarns größte Bank alle Möglichkeiten, die besten Kontakte sowieso.

Auch die Gründung einer rein auf ungarische Produkte spezialisierten Supermarktkette war geplant, fiel aber mangels Masse zunächst aus, eine rot-weiß-grüne Farbenflut in vielen Supermärkten gaukelt bis heute mehr vor als sie hält.

Surfen auf der Patriotismuswelle

Die Kommission hat europaweit schon über 1.000 Agrarprodukte und Lebensmittel registriert und ausgezeichnet, um regionale Erzeugnisse zu schützen und Etikettenschwindel vorzubeugen. Ungarn hinkt hier deutlich hinterher. Der Zertifizierungsprozess ist für Kleine auch unverhältnismäßig aufwendig und kann von der Einreichung des Antrages bis zur Genehmigung, wie im Fall der „Echten Kamille“, schon mal gut sechs Jahre dauern. Die Zahl der ausgezeichneten Produkte ist dementsprechend gering.

Wer das haben will, braucht gute Kontakte. “Ungarische Erzeeugnisse”

Der Verbraucher hat hingegen Gewissheit, über die Lebensmittel, die er konsumiert, denn Aufschriften wie in „Made in Hungary“ oder „Ungarische Qualität“ sind desöfteren von großen Lebensmitteldiscountern missbraucht worden. Vor allem seit die Welle künstlich aufgebauschten Patriotismus durch das Karpatenbecken schwappt, glaubt so mancher vorwitzige Marketing-"Experte", unbedingt auf ihr surfen zu müssen. Jedenfalls hat das Wettbewerbsamt deutlich mehr Fälle von Nationalpiraterie zu bearbeiten als noch in den Jahren des linksliberalen Allerleis.

Ringen um die Scholle, Kampf dem "importierten Dreck"

Die Förderung der unter dem Titel "Hungaricum" zusammengefassten Spezialitäten, ob nun EU-zeritfiziert oder nicht, ist der Regierung ein wichtiges Anliegen. Darüber wird ein eigenes Gestz geschaffen, sogar Fördergelder für die Präsentation locker gemacht, es gibt ein eigenes Institut für "Magyar Termék", das ein eigenes nationales Label vergibt, eine Regierungskommision und ein Regierungsbeauftragter umrahmen diese nationale Bedeutung.

Doch hinter diesem Aktionismus steht nicht nur die praktische Einsicht, dass die Förderung von solchen Spezialitäten, kleinen Produzenten und Traditionen segensreiche Anstöße für Kultur, Arbeitsplatzentstehung und nachhaltige Bewirtschaftung gibt. Im heutigen Ungarn muss man immer etwas dicker auftragen: Schon Tage nach Machtantritt, war der "Kampf gegen den importierten ausländischen Dreck" (mehrfacher O-Ton Orbán), Teil des Regierungsprogramms.

 

Das Ringen um "die Scholle", die "heilige ungarische Erde" wurde zum Schicksalskampf der Nation heraufpoliert. Nie soll ein Ausländer sich mehr ungarischen Boden aneignen dürfen usw. und wir erinnern uns auch an die jahrelangen, kleinlichen Kämpfe mit der Slowakei um das ausschließlich ungarische Recht auf den Namen Tokajer, wo doch - folgt man der Regierungs-"Logik" sowieso alles Ungarisch ist ringsum. Offenbar aber nicht, wenn es ums Geld verdienen geht.

Mehr zur neuen Agrarstrategie Ungarns

Ökologisch reizvoll, in der Übertreibung aber realitätsfern

Mit dem „Ignác Darányi Plan" wird eine utopisch anmutende "autarke Lebensmittelversorgung" angestrebt, die weitab europäischer Realitäten erscheint, auch wenn grundsätzlich eine Lokalisierung und eine Rückkehr der logistischen wie ökonomischen Vernunft durchaus angebracht und bald auch westlicher Mainstream ist. Doch in Ungarn will man gleich eine Arche bauen: „Die ungarische Scholle wird uns mit allem versorgen, was wir brauchen: einer guten Lebensumgebung, Jobs für ein gutes Auskommen, gesundem Wasser und qualitätvoller Nahrung, mit in Ungarn produzierten Lebensmitteln", so gab es Orbán erst im Januar diesen Jahres vor, auch in dieser Rede kam wieder der Sager mit dem importierten Dreck.

Ein staatseigener "Bodenfonds" wird demnächst Lehensrechte an brave, verheiratete ungarische Jungfamilien vergeben, der Ständestaat lässt auch hier grüßen. Zu loben ist hingegen die Anti-Gen-Politik der Regierung, die strikt bei ihrem Anbauverbot für gentechnisch manipulierte Pflanzen bleibt und dafür tatsächlich gute Gründe hat. Ungarn ist der EU hier einmal voraus, die den finsteren Kolonialisten von Monsanto und Co. so bereitwillig die Tore geöffnet hat.

Die Wintersalami aus dem Hause Pick. Heute alles Teil des Bonafarm-Konsortiums von Sándo Csányi, zu dem auch Herz gehört, der berühmte Túró Rudi Quarkriegel, die Mizo-Joghurts, der Teleki-Wein etc. etc.

Hilft man Familienbetrieben oder gewissen "Familien"?

So reizvoll, logisch und vernünftig die Förderung regionaler Spezialitäten, überhaupt lokaler Eigenprouktionen ist, so schädlich ist die politische Instrumentalisierung für den allumfassend geführten Abwehrkampf, den diese Regierung führt, wie einst der Mann von La Mancha (auch Manchego ist heute EU-geschützt) gegen Windmühlen kämpfte, sinnloserweise. Denn auch ausländische Investoren können durch Know how in der Vermarktung, der Zertifizierung und in der Technologie wichtige Impulsgeber oder einfach Geldgeber sein, wenn man sie nicht per se als Feinde, ihre Produkte als Dreck bezeichnet.

Und weiterhin dient die Förderung der "Hungaricums" in der Praxis oft eben nicht den romantisch beschriebenen Klein- und Familienbetrieben, sondern eher "unberühbaren" Strukturen und Oligopolen mit Nähe zu den Entscheidungsträgern, von dem schon erwähnten Lebensmittelmagnaten Csányi bis hin zur "ungarischen" Handelskette CBA. Gerade die Fleisch- und Wurstmacherei ist in Ungarn eine einzige Seilschaft.

Es wäre wichtig, die lokalen Spezialitäten durch Experten definieren zu lassen und dann die besten Erzeuger gezielt und ohne Hintergedanken zu fördern und vor allem Konzentration zu meiden. Wer sich aber allein die miserablen und immergleichen Promotionsriten der ungarischen Export- und Handelsförderung anschaut, hat schon da wenig Hoffnung. Ursprungs- und Herkunftsschutz außerdem noch für die Protektion der eigenen Klientel zu benutzen, ist nicht nur nicht im Sinne des Erfinders, sondern auch noch illegal und hilft auch nicht dem Land.

red. / AL / MS

 

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