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(c) Pester Lloyd / 12 - 2012     POLITIK   19.03.2012

 

Die spanische Legende

Aktuelle Manöver zwischen Ungarn, EU, Deutschland und IWF

Anti-EU-Rhetorik zur Stärkung der "Heimatfront", hohle Kooperationsversprechen, honigsüße Worte, Zeitspiel und Täuschungsmanöver gegenüber den europäischen Institutionen, Ränkeschmieden und Spaltungsversuche im Hintergrund, bilden die wichtigsten Schlachttaktiken unserer Feldherren in ihrem "Unabhängigkeitskrieg" gegen Brüsseler Windmühlen. So richtig auf geht dabei nur die erste, was wieder nicht gut für die anderen ist. Die neuesten Manöver, Ausreden und Besuchsberichte im Überblick. - LEITARTIKEL

Der persönliche Sprecher des ungarischen Ministerpräsidenten, Péter Szijjártó, sah sich noch am Freitag zu der Richtigstellung veranlasst, dass Premier Orbán bei seiner Rede vor Anhängern am Nationalfeiertag des 15. März "die EU weder mit der Sowjetunion noch mit dem Habsburgerreich" verglichen hätte. Stimmt, er verglich sie mit allen Besatzern, die jemals über Ungarn herfielen. Barroso bemerkte vor dieser "Richtigstellung" auf eine dahingehenden Journalistenfrage, dass diejenigen, die die EU mit der Sowjetunion vergleichen, nicht die leiseste Ahnung von Demokratie haben, womit ja nicht unbedingt Orbán gemeint sein musste, wenn der nicht die UdSSR gemeint hatte.

Orbáns Moskau-Sager

Orbán hatte am letzten Donnerstag vor rund 200.000 Sympathisanten wieder jede Menge erzählt, unter anderem davon, dass sich Ungarn "um seine eigene Achse" drehen solle (als neues Zentralgestirn?) und "keine Kolonie sein werde", wozu es immerhin eines Kolonialisten bedarf, der am Kossuth tér freilich nicht näher benannt werden brauchte. Er und die Seinen sind die einzigen und "wahren Nachfolger" der Freiheitskämpfer von 1848/49 und man finde sich "heute wieder in einem Freiheitskampf gegen Schulden" und andere Abhängigkeiten. Von der EU fühlt man sich "ungerecht" und als "Europäer zweiter Klasse" behandelt.

Er rief auch dazu auf, nicht in "Selbstmitleid zu versinken", was ein Attribut von "Verlierern" sei. Der Sager mit dem Sowjetvergleich ist aber tatsächlich bereits mehrfach vorher gefallen, Orbán sagte, dass "Brüssel das neue Moskau" sei, von dem man sich nichts diktieren lasse. Den Moskau-Spruch brachte er wörtlich vor einem Jahr, ebenfalls am 15.3. Im übrigen gehört dieser Vergleich zum festen Repertoire bei Regierung, Fidesz & Co. und ihrer vielschichtigen Claque.

Nur nicht konkret werden...

So oder so, dürfte die Feiertagsrede Orbáns den janusköpfigen Ruf seiner Regierung nur weiter bestärkt haben, der ja nicht neu ist: Denn am vergangenen Dienstag, also zwei Tage vor dem Nationalfeiertag, hatte Ministerpräsident Orbán in einem weiteren Brief an EU-Kommissionspräsident Barroso seinen Willen zum Ausdruck gebracht, die "offenen Fragen" bei den Vertragsverletzungsverfahren "schnell zu lösen". Die dazu aus Ungarn offiziell übersandten Antworten befriedigten die "Kolonialherren" nur wenig, während die ungarische Seite behauptete, dass nun "90% geklärt" seien.

Die "schnellen und effizienten" Maßnahmen, die Orbán jetzt anbot, wieder einmal, ohne konkret zu werden, sollen zum einen die immer wahrscheinlicheren Gerichtsverfahren gegen Ungarn doch noch verhindern und den Weg für offizielle Gespräche mit dem IWF frei machen. Den Zusammenhang EU-IWF hat Orbán nun eingestanden, noch vor kurzem spielte er hier den Naiven und "wunderte" sich öffentlich, warum die "andere Seite" nicht zu Verhandlungen bereit ist.

Tarnen, Täuschen, Spalten

Die Kommission hat die "Angebote" aus Budapest (siehe diesen Beitrag) hinsichtlich Datenschutzbehörde und der "Frühpensionierung" von Richtern abgelehnt und in ihren "begründeten Stellungnahmen", dem letzten formalen Schritt vor Einreichung einer Klage vor dem Europäischen Gerichtshof, der Regierung einen Monat Zeit für die Beseitigung der Bedenken gegeben. Hinsichtlich der Unabhängigkeit der Gerichtsbarkeit und der Zentralbank forderte man zudem weitere Informationen an, um sich ein besseres Bild machen zu können. Justizminister Navracsics hat am Wochenende ein paar Kompetenzverschiebungen zwischen Kurie und Richterkammer angekündigt, die die "Unabhängigkeit der Justiz" stärken sollen, letztlich aber nur das Machtverhältnis zwischen zwei (einmal mehr, einmal nochmehr) von Regierungstreuen kontrollierten Instiutionen verschiebt. Genau diese Spielchen hat Brüssel jedoch seit längerem satt.

Anti-EU-Rhetorik zur Schließung der "Heimatfront" und Sicherung der Machtbasis zu Hause, leere Kooperationsversprechen, Zeitspiel und Täuschungsmanöver gegenüber den europäischen Institutionen sind zwei, Ränkeschmieden und Spaltungsversuche im Hintergrund, die dritte Schlachttaktik unserer Feldherren im Unabhängigkeitskrieg: Während man Polen, Litauen, Tschechien, Slowenien, sogar Großbritannien auf seiner Seite weiß, versucht man sich vor allem Deutschland anzunähern, was, solange die Konservativen noch an der Macht sind (Frankreich hat man hier wohl schon abgeschrieben), auch von Erfolg gekrönt sein könnte. Liest man die Ergebnisse der Defizitabstimmung der Ecofin in der Vorwoche richtig, hat Deutschland die "Verurteilung" Ungarns nur für die Galerie vorgenommen, im Juni wird diese dann aufgehoben, nachdem Budapest einige kosmetische Operationen nachgewiesen hat. Das ist so Tradition bei der EVP.

Die Spanien-Story als Lanze des Don Quixote

Zur Begründung für den dann erfolgten "Freispruch" Ungarns taugt die Mär vom Doppelstandard mit dem Verweis auf Spanien - der von den Orbán-Verteidigern wie die Lanze des Don Quixote, des Ritters von der traurigen Gestalt, vor sich hergetragen wird, nicht. Aus drei Gründen: Zum einen wird Merkel ihrem konservativen Kollegen in Madrid nicht in den Rücken fallen, zum anderen ist die Behauptung des Doppelstandard eine ungarische Sage, die man zur spanischen Realität umdichten will.

Es ist zwar richtig, dass Madrid höhere Defizite zugestanden bekommt als Budapest, aber die Fortführung des Defizitverfahrens bis zum Mittelentzug wurde auch in keiner Minute mit der Defizithöhe allein begründet, sondern damit, dass Spanien, im Unterschied zu Ungarn, die geforderten "nachhaltigen und strukturellen" Maßnahmen, soweit bisher möglich, ergriffen hat und sich nicht mit gigantischen Einmaleffekten aus Zwangsverstaatlichungen aus seinen finanziellen und politischen Defiziten freizukaufen suchte.

Vor allem aber folgten auf die EU-Aufforderungen an Madrid termingerechte Nachbesserungen und eine erkennbare Kooperation, während sich Ungarn teils überhaupt nicht und oft mit geradezu lächerlichen Statements und weinerlichem Trotz zu den Bedenken der Kommission geäußert hatte. Man hat die Sache nicht ernst genommen und sich schlicht verzockt. Dritter Grund: gegen Spanien laufen keine Vertragsverletzungsverfahren wegen substantieller Zweifel an der Rechtsstaatlichkeit neuer Gesetze und Premier Rajoy hat bisher auch die Inquisition nicht wieder eingeführt. Wer der Kommission verbieten will, diesen Zusammenhang außer Acht zu lassen, entzieht ihr die ohnehin schon geringe Fähigkeit Mitgliedsländer zumindest über den Umweg der Finanzkeule demokratiepolitische Ordnungsgongs zu erteilen. Es ist keine Schande, dass sie es tut, die Schande ist, dass sie es tun muss.

Umrahmt von Tand und Jugend. Orbán spricht am 15.3. in Budapest.

Avancen an die deutsche Wirtschaft mit politischen Hintergedanken

Merkel und Schäuble werden aber im Juni einen triftigen Grund nennen können, warum Ungarn davongekommen ist, auch wenn sich nichts geändert haben wird. Es ist ja kein Zufall, dass Orbán, bei auffallend häufigen Gelegenheiten vor deutschen Wirtschaftskammern und -klubs, bei Betriebsbesichtigungen und Werkseröffnungen, den deutschen Investoren Avancen macht. Gerade hat er einen eigenen Regierungsbeauftragen für "Audi-Fragen" ernannt, man hört von den Großinvestoren auch wenig Klagen, die können allein schon aufgrund ihrer schieren Wirtschaftsmacht, sind sie doch locker direkt und indirekt für 10-20% des BIP zuständig, auf einen kurzen Dienstweg bei der Klärung von Investitionshemmnissen rechnen, was den Einsatz für so abstrakte Werte wie Demokratie und Rechtsstaat minimiert. Eine Taktik, die schon beim Mediengesetz, wo auch die deutschen Player RTL, Pro7Sat1, WAZ, Bertelsmann etc. den Ton angeben, bestens funktionierte.

Außenstaatssekretär Zsolt Németh erklärte nun, nach einer Reise zu "politischen und ökonomischen Führern" Deutschlands, dass man sich eine "unterstützende Haltung" im "Streit mit der EU" erhofft. Németh stellte nach Gesprächen mit seiner deutschen Amtskollegin Emily Haber und dem BDI-Chef, Stefan Mair, fest, dass das "Interesse an Investitionsmöglichkeiten" in Ungarn auf deutscher Seite "weiter stark" ist, worauf sich jeder seinen eigenen Reim machen kann, zumal Németh die Abschaffung der Krisensondersteuern für nächstes Jahr bestätigte (diese werden dann halbiert und umbenannt...).

Venedig-Kommission prüft weiter

Die gespaltenen Budapester Zungen kann sich am Mittwoch auch Thorbjorn Jagland, Generalsekretär des Europarates, aus der Nähe betrachten, wenn er mit Premier Orbán und und Außenminister Mártonyi an der Donau zusammentreffen will. Der Sozialdemokrat will Gespräche über die Medienfreiheit, das Kirchengesetz und die Justizreform führen, deren Ergebnisse dann Teil des Berichts der Venedig Kommission wird, die sich der gesamten Verfassung mit ihren drei Dutzend Kardinalsgesetzen angenommen hat. Deren Einschätzung wird auch in Brüssel gehört.

IWF-Unterhändler vertreibt sich Zeit mit Kaffeekränzchen

Der ungarische Chefunterhändler für die IWF Gespräche, Minister Tamás Fellegi, bleibt derweil in seiner Warteschleife gefangen, die er sich mit informellen Kaffekränzchen in Washnigton verkürzt, wohl, um die Namen und Gesichter seiner potentiellen Verhandlungspartner nicht zu vergessen. Er traf sich mit verschiedenen Abteilungsleitern, Teildirektoren und Missionschefs und behauptete man komme sich näher, während das IWF nur stets, mit kühlem Verweis nach Brüssel, ausrichten lässt, dass überhaupt keine offiziellen Gespräche stattfinden.

Die nächste dunkle Wolke am Horizont

 

Zu allem Überfluss muss sich die Kommission nun auch noch mit dem Bann auf "Shopping Malls" beschäftigen, ein Gesetz, das jedes Shoppingcenter über 300 Quadratmeter Größe "verbietet", um damit die kleinen Händler zu schützen. Das Verbot sieht so aus, dass eine anonyme, ministerielle, also vollständig unkontrollierbare Kommission über die darüberliegenden Anträge befindet und am Ende niemand erfährt, was zur Ablehnung oder Annahme geführt hat. Dass der Schutz der kleinen Händler nur ein vorgeschobenes Argument war, beweist der Umstand, dass bei der ersten Sitzung 20 der 23 Anträge stattgegeben wurde. Wie auch immer, die EU-Kommission sieht eine Kollision mit Dienstleistungs- und Niederlassungsfreiheiten, zwei Grundelementen des gemeinsamen Binnenmarktes.

So unglücklich wie bezeichnend ist dabei, dass es wieder die Interessen der Multis sind, die die EU aktiv werden lassen, während wir von Vertragsverletzungsverfahren gegen das menschunwürdige lokale Beschäftigungsprogramm, die Kriminalisierung von Obdachlosen, die Verarmung der Mindestlöhner durch die flat tax nichts hören werden, weil es sie nie geben wird. Für Grundrechte wie Würde und persönliche Freiheit ist in Brüssel schließlich niemand zuständig, sie sind Sache der Gerichte, nicht der Politik...

Weitere Folgen der schienbar nie endenden Telenovela Ungarn-EU-IWF in der Europapolitik

 

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