Stellenanmarkt
Immobilienmarkt
Geschäftskontakte
Privatanzeigen
Anzeigen ab 35.- / Monat

Hauptmenü

 

 

(c) Pester Lloyd / 15 - 2012     POLITIK   10.04.2012

 

Orbáns Osterbotschaften

Ungarn, der Kosmos und die "natürliche Ordnung" der Welt

Während sich die Suche nach dem neuen Präsidenten auf zwei "Spitzenkandidaten" zuspitzt, die Diplomarbeit des Premiers schon, die Stasiakten vielleicht bald zu lesen sein werden, bereicherte Ministerpräsident Orbán das Osterfest mit neuen Offenbarungen, die so neu nicht sind, aber vieles erklären, was der Außenstehende bisher an Ungarn nicht verstanden haben könnte. Die Reaktionen darauf lagen - ganz ostergemäß - irgendwo zwischen Schrecken und Hoffnung.

Kandidatenkarussel wird zum Zweikampf

Die Nachfolge für das vakante Präsidentenamt wurden in Budapest zunächst viel heißer diskutiert als es das marginale Amt verdient hätte. Viele Kandidaten stiegen in den engeren Favoritenkreis auf und fielen wieder hinaus. Nun scheint sich das "Rennen" auf den Parlamentspräsidenten, der momentan kommissarisch die präsidialen Amtsgeschäfte leitet, László Kövér und den Fidesz-Mitgründer János Áder zuzuspitzen.

Kövér könnte sich "theoretisch vorstellen, den Posten auch langfristig zu übernehmen", gesetzt den Fall, er wäre Viktor Orbáns Wunschkandidat. In einem Interview mit der regierungstreuen Zeitung Heti Válasz, betonte er hingegen, dass auch andere in Frage kommen, die besser als er für die Position geeignet seien. Heti Válasz sieht da vor allem János Áder in einer guten Position, falls Kövér, der es schonmal als "Schande" ansieht, dass im Parlament "überhaupt solche" Opposition sitzen darf, sich nicht durchsetzen würde. Offiziell wird der Präsidentenkandidat am 16. April bekannt gegebenen und dann am 18. April zur "Wahl" stehen.

Zusammengewürfelt. Orbán doziert vor einer Rubik-Wand über Innovation und Fortschritt. Sein Weltbild ist indes eher rückwärtsgewandt, wenn auch ziemlich bunt.

Orbáns Diplomarbeit im Internet veröffentlicht

Eine Nachwehe der Plagiatsaffäre des abgetretenen Präsidenten Schmitt ist, dass sämtliche Journalisten und Hobbyarchäologen des Landes nun nach weiteren kopierten Missetaten in der Partei- und Staatsführung Ausschau halten. Aus vorauseilendem Gehorsam, vielleicht auch schlicht aus nackter Angst, verweigerte die Eötvös Loránd Universität (ELTE) der Öffentlichkeit die Einsicht in Viktor Orbáns Diplomarbeit. Das Büro des Ministerpräsidenten digitalisierte diese jedoch und stellt sie noch vor Ostern ins Internet.

Die Hofberichterstatter wollten in der Themenwahl der im Jahr 1987 eingereichten Arbeit gerne gleich einen Akt des Freiheitskampfes sehen, handelt das Werk doch von "Selbstorganisation und sozialen Bewegungen im politischen System - das polnische Beispiel". Nicht so perfekt passt dazu indes die Bewertung mit der ungarischen Höchstnote 5 durch die "marxistische" Universität. Reiner Zufall ist indes, dass Orbáns damaliger akademischer Betreuer der heutige Minister und Chefunterhändler beim IWF, Tamás Fellegi, war.

Orbáns Diplomarbeit auf Ungarisch gibt es hier zum Nachlesen
 

Stasiakten als politisches Kampfmittel

Um ebenso heiße Papiere geht es in einer anderen Debatte. Hinsichtlich der Debatte um die Verwendung und Verwertung der Stasiakten hat sich die Laune des Regenten ein weiteres Mal gewandelt. Ließ er die Regierungspartei kürzlich noch einen Vorschlag zur Publikation von Spitzelprotokollen und Agentenkarteien ablehnen, räumte Orbán hinsichtlich einer schriftlichen Anfrage nun ein, dass den Opfern der Bespitzelung möglicherweise eine Einsicht in die Akten zustehen könnte. Bisher hatte man argumentiert, dass unter rechtsstaatlich illegalen Umständen enstandene Informationen unmöglich in einem Rechtsstaat Verwendung finden dürften, offenbar hat es bei den Voraussetzungen mittlerweile eine Entwicklung gegeben.

Doch kein Fortschritt ohne Haken. Betraut mit der "Aufarbeitung" der Stasi-Zeiten wird ein Parlamentskomitee, das weitreichende ermittlerische Vollmachten bekommen wird. "Nach polnischem Vorbild" soll es ehemaligen Kádár-Funktionären und Stasispitzeln nachstellen und aktenkundige Belege für heute noch verfolgabares Fehlverhalten aufdecken. Das Komitee ist besonders deshalb eine praktische Einrichtung, da es von der Regierungspartei dominiert wird, womit das Volk wohl kaum mit Aufdeckungen über derzeitige Funktionsträger beunruhigt werden wird.

Orbán warnt vor "gottlosem Kosmos"

Das wichtigste Thema des Osterwochenendes war jedoch ein Interview, das der Kalvinist Orbán dem katholischen Wochenblatt "Neuer Mensch" gab, mehr eine Predigt als ein Gespräch. Darin beklagt Orbán einen "Mangel an Religiosität" in ganz Europa und erkennt die Gefahr, dass die "wissenschaftliche Weltsicht versucht, die natürliche Ordnung von Glauben, Religion und Schöpfung zu einem gottlosen Kosmos" zu verschieben.

Nicht genug, dass Ungarn von Finanz- und Wirtschaftskrisen geplagt wird, sich im "Krieg gegen die Schulden, die Spekulanten und die internationale Linke befindet", nun muss sich das gebeutelte Land womöglich auch noch für einen Kreuzzug rüsten und neben sich ganz Europa retten. Bereits zuvor legte Orbán in einem Interview mit der Washington Post fest, dass es "ein Fakt" sei, dass "Ungarn eine christliche Nation" ist, was die "Abkehr" vom Weg wissenschaftlicher Erkenntniss letztlich nur als konsequent erscheinen lässt. Dort stellte er auch klar, dass "Freiheit kein Eigentum der Liberalen" ist, ohne jedoch zu vertiefen, wessen Eigentum sie denn sei.

Wie weit geht die erwünschte "Umkehr?" Orbáns Kritiker meinen, reichlich entnervt, geradewegs ins Mittelalter. Denn Orbán meint, dass es für das Überleben des Landes notwendig sei, sich dem "intellellektuellen Streben" nach Säkularität zu entziehen, denn dieses sei "gegen die Familie" gerichtet und glaubt tatsächlich, "dass die Existenz von Nationalstaaten nicht mehr relevant" ist. Orbán sieht das "säkulare", sprich "gottlose" Europa jedoch längst auf dem Rückzug. Im übrigen leiste Ungarn hier wertvollste Vorarbeiten, um eine Straße himmelwärts zu errichten, fassen wir den Rest einmal sinngemäß zusammen. Das komplette Interview in deutscher Übersetzung bei Pusztaranger. Es würde hier den Rahmen sprengen und wäre auch vergebene Liebesmüh` Orbáns Statements einer vertieften Kritik zu unterziehen. Viel lässt sich nicht diksutieren mit jemandem, der Glauben und Vernunft unbedingt zu Gegnern erklären will.

Premier Orbán nach seinem Antrittsbesuch bei der “Kurie”, dem neuen Wächterrat für das ungarische Richter- und Justizwesen

Reaktionen: jetzt ist er durchgeknallt...

Die Reaktionen aus dem linken, dem intellektuellen, kurz, dem Feindeslager, waren diesmal unisono: der Chef ist durchgeknallt. Während man über die Rolle der "internationalen Hochfinanz", auch jener der EU, des IWF, der Einheit der Nation, Trianon sowieso, gerne auch im nicht-rechten Lager zu diskutieren bereit war und nicht wenige Thesen Orbáns, wie jene von einer neuen ökonomischen Bescheidenheit, dem Ende der Schuldenspirale, dem Stehen auf eigenen Beinen, der Besinnung auf regionale Überschaubarkeit durchaus Anhänger in gemäßigten Debattierkreisen fanden, befinden die meisten Kommentatoren unseren Premier nun schlicht als von allen guten Geistern verlassen.

Was will der Mann, fragen sich die "Säkularen". Einen Gottesstaat? Ihm fehle offenbar jedes Verständnis für historische Entwicklungsprozesse und er prahlt "mit irren, fundamentalistischen Weltsichten", heißt es z.B. in der Népszabadság. Ex-Premier Gyurcsány lässt ausrichten, dass Orbán die "edelsten Errungenschaften Europas angreift", zu denen "die Aufklärung, Rationalität, kulturelle Vielfalt und alltägliche Freiheiten" zählen. Freilich auch die Freiheit, sein Volk bestehlen zu lassen, hätte Gyurcsány in österlicher Einsicht noch einfallen können, wenn solche gottlosen Gestalten überhaupt zu so etwas wie Läuterung fähig wären. Orbáns "ungarischer Sonderweg", so heißt es auch aus konservativen Federn, sei schlicht eine Sackgasse, mit seiner "Sendung", Europa auf den "richtigen Weg" zurückführen zu wollen, mache er nicht nur sich, sondern das ganze Land vor aller Welt lächerlich.

Kauziges Weltbild als Mainstream

Andere Kommentatoren wundern sich gar wenig, fließen Orbáns Gedanken doch geradezu stromlinienförmig im neuen Mainstream der Irrationalität, der seit rund zwei Jahren das Land vollkommen überflute. Was seien schon Orbáns Abschweifungen über die Wirksamkeit von Rosenkranzgebeten für den politischen Freiheitskampf zu den aktuellen Kundmachungen aus der KDNP, der Fidesz-Anhängselpartei, die den Abgang von Plagiator Schmitt als "Werk des Bösen" bezeichnete und seinen Leidensweg mit jenem Christi gleichsetzte. Was sei Orbáns kauziges Weltbild zu den tagtäglichen Hasstiraden der Jobbik, die gerade zu Ostern wieder ein wuchtiges antisemitisches Straußenei legten. (Die Details dazu bestens aufbereitet wie immer bei Pusztaranger)

Einer der führenden Berater von Ex-Präsident Schmitt, Antal Kiss, schrieb in einem Zeitungskommentar sogar von einem "satanischen, politischen Mord" an Schmitt, durch "dunkle ausländische Mächte", die seit eh und je nichts anderes im Schilde führen als "Ungarn gegen Ungarn" zu hetzen und diese aus dem "Karpatenbecken vertreiben" wollten, wogegen wohl nur noch die "Gnade Gottes" helfe. Dieser Herr Kiss arbeitete übrigens lange im Schatten Orbáns und gehört auch zum engeren Kreis um Parlamentspräsident Kövér, der als neuer Präsident gehandelt wird. Und dies sind nur einige gelinde Beispiele, viel mehr Magyaren-Mhystik und Verschwörungstheorien ergießen sich täglich über die Zuseher und -hörer der einschlägigen Radio- und TV-Stationen, deren Programmchefs offenbar allesamt Praktika bei dem christlichen polnischen Taliban-Radio Maria absolviert haben.

Nicht nur Worte...

Man könnte über all das schmunzeln, es als Oster-Spleen machtüberfressener Nationalkonservativer betrachten, müsste man nicht weitergehende und praktische Folgen für das alltägliche Leben und die Zukunft der ungarischen Gesellschaft befürchten. Und damit sind nicht nur solche "Marginalien" gemeint, wie das gerade ergangene polizeiliche Verbot der Gay Pride 2012 wegen "Verkehrsbehinderungen", die Unterdrückung alternativer Kulturmodelle, der Umbenennungs- und Umdeutungswahn oder der amtliche Geschichtsrevisionismus, der in der Praxis darin gipfelte, die Leitung der Holocaust-Gedenkstätte zu feuern, weil sie das gewünschte neue Image Horthys nicht mitzeichnen wollte und der Theorie schon so weit ging, dass Orbán den Zweiten Weltkrieg allen Ernstes als "Bürgerkrieg unter Christen" kennzeichnete (in einem Interview für die Frankfurter Allgemeine Sonntagszeitung).

Das zu Ostern verkündete Weltbild unseres 13. Apostels wirkt mittlerweile grundlegend und viel tiefer als dass es nur eine Meinung im konservativen Spektrum wäre. In Ungarn wurden Fakten geschaffen. Es ist ein Totalumbau, nicht wenige meinen, ein totalitärer Umbau: dazu zählen die Beseitigung, Gleichschaltung oder Behinderung der wesentlichsten Kontrollinstanzen eines Rechtsstaates, die erzreaktionäre Bildungspolitik, das neue Arbeitsrecht, das aus Arbeitern wieder echte Untertanen macht, die gesamte ständische Ausrichtung des Steuersystems, die "Nationalitätenpolitik" und die kastenartige Einteilung von "kommunalen Leibeigenen" (Roma, Beschäftigungsprogramme) bis hin zu "förderungswürdigen" Leistungsträgern, "ungarischen Jungbauernfamilien" in der neuen "Landwirtschaftsstrategie, der Kniefall vor dem Klerus und die Seligsprechung der Nation in dem als Verfassung getarnten Fidesz-Katechismus, der fast alle, auch sich ganz natürlich ändernde Lebens- und Politikbereiche durch eine 2/3-Mehrheit von zukünftiger Gestaltung ausnimmt. (Das vollständige Register der Leistungen der Orbán-Regierung finden Sie hier)

Passenderweise heißen diese legislativen Fußfesseln für Ungarns Zukunft "Kardinalsgesetze", die neue Richteraufsicht Kurie. Es fehlt, neben einem Nationalpapst, nur noch die Einführung der heiligen Inquisition, wobei man sich beim Anblick und der Wirkung des Medienrates nicht sicher ist, ob sie nicht schon gleitend eingeführt wird.

Schrecken und Hoffnung

Der Zustand und die Perspektive Ungarns wird durch die Osteroffenbarungen Orbáns nur logisch, der größere Plan dahinter sicht- ja regelrecht fühlbar. Es geht um eine "gottgewollte" Ordnung, ein Konstrukt, das den Machtanspruch dieser einen Partei mit einem überirdischen Auftrag ausstattet. Das ist nichts Neues, eigentlich ist es sogar recht muffig alt und funktionierte ohnehin immer nur so lange, bis die Protagonisten selbst an ihre "Vorsehung" glaubten. Ungarn scheint davon nicht mehr weit entfernt, was - ostergleich - Schrecken und Hoffnung zugleich verbreitet, - Hoffnung auf eine baldige "Auferstehung" der Vernunft und Angst über den Schrecken, den der Zusammenbruch eines derartig überspannten Machtanspruches dem Land einmal bringen wird.

red. / AL / PK / M.S.

 

IN EIGENER SACHE
Der PESTER LLOYD möchte sich verbessern - Helfen Sie mit? ZUM BEITRAG