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(c) Pester Lloyd / 16 - 2012     GESELLSCHAFT 19.04.2012

 

Das Komitee

Ungarn und die Stasiakten - eine unendliche Geschichte

Die Debatte über den Umgang mit den Stasiakten in Ungarn nimmt kein Ende, weil es bis heute keine Lösung gibt. Eine gemeinsame Initiative der Opposition, bei der Linke und Grüne sogar mit Neofaschisten kooperierten, zwang das Thema einmal mehr auf die Tagesordnung, obwohl die Regierungspartei die Sache durch die Einsetzung einer "Sonderkommission" zur Altkommunistenjagd längst für erledigt hält. Die Akten bleiben zu, aus "nationalem Sicherheitsinteresse". Aus der Geschichte will die neue Regierung nicht lernen, sie will sie benutzen.

Fünf Stunden stritten die die Abgeordneten am Dienstag zu dem Thema, wie und wann bzw. ob überhaupt die Stasiakten der Öffentlichkeit, den Betroffenen und / oder Experten zugänglich gemacht werden können und warum man seit 22 Jahren noch keine Lösung dafür gefunden hat. Es ist ungefähr die fünfte Debatte zu dem Thema allein in diesem Jahr und kommt nur zu Stande, weil sich die sonst spinnefeinden Oppositionsparteien doch einmal zusammentaten, um das Quorum für die Änderung der Tagesordnung zusammenzubekommen.

Während die grün-liberale LMP mit ihrer Initiative darauf hinläuft, die Akten vor allem den Betroffenen und - wenn öffentliches Interesse vorliegt - auch allen zugänglich zu machen (also ungefähr das deutsche Modell), betont der zuständige Fidsz-Staatssekretär, dass man vor allem "die Verantwortlichkeit der kommunistischen Eliten" aufarbeiten soll. Die Regierungspartei Fidesz hat dazu sogar ein eigenes Parlamentskomitee gegründet, das sich gezielt auf die Suche nach unaufgedeckten Taten "der Kommunisten" machen soll, auch unter Einbeziehung der noch rund 20.000 gesperrten Akten.

Am 15. Mai soll das "Nationale Erinnerungskomitee" zur "Aufarbeitung von kommunistischen Verbrechen" feierlich eingesetzt werden. Schön und gut, meint die LMP, doch Stasitätigkeit und Spitzeldienste müssen nicht immer in "Verbrechen" geendet haben, um gesellschaftlich und historisch aufbereitet zu werden. Doch die Aufgabe des Fidesz-"Komitees" erinnert vielmehr an die Bezichtigungskampagnen aus der stalinistischen Ära selbst. Wenn formuliert wird, dass das Komitee "die Aufgabe hat die Führer der kommunistischen Dikatur zu identifizieren und die Schwere und Natur ihrer kriminellen Verantwortung zu benennen", dann ist das reine Ablenkungstaktik und eine Vertiefung des traurigen ungarischen politischen Grabenkampfes, in dem man mit dem Finger nur in eine Richtung zeigen wird.

Die Opposition kritsiert diesen Ansatz daher als selektiv und geeignet, die Stasiakten im politischen Alltag als Kampfmittel zu missbrauchen, was letztlich ein Triumph für die Täter und das System an sich bedeutete. Außerdem wundere man sich über das Vorgehen und die neuerliche Schamhaftigkeit des Fidesz, das zuvor und auch zu Amtsantritt noch lauthals gefordert hatte, dass sich einfach jeder seine Akte abholen solle und damit machen könne, was er will. Offenbar haben einige Wendehälse nun doch Angst vor einem Outing, denn nicht alle Fidesz-Mitglieder sind ehemalige Dissidenten, nicht wenige - auch Minister und sogar der Ex-Präsident, waren auch kleine oder mittlere Rädchen im Getriebe des Kádárschen Gulaschkommunismus. Diese Fakten würden durch die Fidesz-dominierte Kommission freilich eher nicht ans Tageslicht gebracht.

Vergessen sollte man nicht, das es solche Komitees mit angeschlossenem Gedenktag auch für Trianon sowie den Holocaust gibt, Themen die beide in Ungarn genauso wenig historisch aufgearbeitet und Spielbälle der Politik sind wie "der Kommunismus", der als das “größte Verbrechen der Menschheitsgeschichte” in Ungarn heute offiziell über die Schrecken des Faschismus gestellt wird. Orbán selbst sagte, der “Kommunismus war das größte Verbrechen des 20. Jahrhunderts”, der 2. Weltkrieg dagegen nur ein “Bürgerkrieg unter Christen”. Von dort bis zum österreichischen Opfermythos gegenüber dem “deutschen Faschismus” ist es nicht mehr weit. Hitlerpaktierer Horthy gelangte ja längst schon zu alten Ehren. Der ÁVH-Terror ist unbestritten ein grausames Kapitel der ungarischen Geschichte, aber er ist eben nur ein Kapitel in einem großen Buch mit einer Rahmenhandlung:

Wenn die Geschichte etwas lehrt, dann, dass Spitzelei, Denunziation, Verrat, unkontrollierte Kontrolle über Mitmenschen zunächst Charaktermerkmale, gesellschaftliche Mentalitäten sind, die Ideologie dahinter ist austauschbar. Das haben auch jüngste Debatten gezeigt, bei denen Sippenhaftung und Diffamierung zum gängigen Repertoire zählten. (Einen Debattenbericht finden Sie hier) Der Sinn einer Aufarbeitung bestünde jedoch in der Offenlegung der wirkenden Mechanismen, auch, um sie für die Zukunft zu verhindern. Das hat in Deutschland nicht funktioniert und es ist auch in Ungarn nicht gewollt, weil diese Charakterzüge Machthabern grundsätzlich dienlich sind.

Auch in Ungarn gab es immer mal wieder Lecks, die einzelne Namen und Listen durchsickern ließen, zuletzt outete man im Internet 500 Ex-Spitzel, durch eine aus dem Innenministerium gestohlene Akte. Es gab danach einige Kündigungen, z.B. im Außenministerium, das Fehlen einer regulierten Aufarbeitung aber, die klare Regeln, Kriterien und Einspruchsrichtlinien kennt, macht freilich die Betroffenen erpressbar und schafft am Ende eine Athmosphäre der Angst wie zu Ostzeiten. Möglich, dass auch das von Einigen gewollt ist.

 

Die Opposition ist sich einig, dass das eingesetze "Zentralkomitee für Kommunistenjagd" letztlich nur ein politischer Budenzauber der Regierungspartei ist. Was suchen Politiker in einem solchen Gremium, Experten gehörten hinein, befindet József Tobias von der MSZP. Denn nur so würde man tatsächlich an Fakten gelangen. Sogar die Christdemokraten (KDNP), enger Verbündeter des Fidesz, sieht ein, dass "in Ungarn weniger Daten über die Vergangenheit öffentlich wurden als in jedem anderen osteuropäischen Land." Ein andere Parlamentarier ergänzte, dass 8%, womöglich die wichtigsten aller Dokumente, immer noch vom Geheimdienst selbst unter Verschluss gehalten werden, nicht einmal Historiker hätten Zugang dazu.

Doch immer wenn es darum geht, den gordischen Knosten zu durchschlagen und die Dokumente freizugeben kam es in der Vergangenheit bei den Sozialisten und kommt es heute bei den Nationalkonservativen zu Bedenken, die man bei anderen Projekten weniger hat: Man müsse "das individuelle Recht auf Selbstbestimmung" beachten, den Datenschutz und den Umstand, dass in einer Diktatur gesammelte Informationen in einer Freiheit nicht den gleichen Stellenwert haben dürften, so Staatssekretär Zsolt Németh. Freilich sei auch die "Freiheit der Forschung abzuwägen", doch dürfe man - und nun kam das übliche Totschlagargument auf den Tisch - die "politische Verantwortung und die nationalen Sicherheitsinteresse" nicht außer Acht lassen. Ende der Debatte.

Mehr zur Schlussstrich-Debatte der Regierungspartei und weiterführende Links

red., ms.
 

 

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