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(c) Pester Lloyd / 16 - 2012     POLITIK / WIRTSCHAFT 19.04.2012

 

Es bleibt kompliziert

Ungarn und die EU kommen einfach nicht auf einen Nenner

Die Reibungsebenen zwischen den Nationalwirtschaftlern in Ungarn und den Regel-Wächtern in Brüssel werden nicht kleiner. Bei den Verfahren um das strukturelle Defizit und die Unabhängigkeit der Zentralbank hängt man regelrecht in der Luft, auch weil Minister Matolcsy glaubt, dass EU-Regularien verhandelbar seien. Im Hintergrund winkt noch ein besonders teures Damoklesschwert. Ein Update.

Der ungarische Wirtschafts- und Finanzminister, György Matolcsy, hat dem Parlament am Mittwoch Änderungsanträge für das von der EU beeinspruchte Zentralbankgesetz, Teil der in der Verfassung verankerten Kardinalsgesetze vorgelegt. Dabei hat er aber wesentliche Kritikpunkte der Europäischen Kommission sowie der Europäischen Zentralbank übergangen. Herausgenommen wird, dem Wunsch der EU gemäß, Artikel 34, in dem der Währungsrat seine Tagesordnung vorab der Regierung vorlegen sollte und durch den die unangemeldete Anwesenheit von Regierungsvertretern auf den Sitzungen möglich geworden wäre.

Leidet nicht sichtbar unter Barrosos Liebesentzug, Premier Orbán in Brüssel.

Zwei andere Paragraphen aber, die bestimmte Ablösungsszenarien für den Währungsrat und den Zentralbankchef enthielten und nach dem Willen der EU erhalten bleiben sollten, weil sie den gängigen EU-Regularien entsprechen, werden jedoch gestrichen und liegen nun wieder allein in Händen von Parlament bzw. Präsident und ermangeln weiter klar umrissener Ablösegründe. Somit bleiben sie im direkten Zugriff der Politik, was die EU nicht duldet. Matolcsy mochte nicht begründen, warum sich Ungarn hier nicht auf EU-Linie begeben mag, er sagte nur, "die EU habe Kenntnis" von den Änderungen.

Matolcsy glaubt, die EU-Verträge sind verhandelbar...

Ebenfalls vorerst vom Tisch ist die von der Regierung angestrebte Verschmelzung von Nationalbank mit der Finanzaufsicht PSZAF. Die EU sieht aus gutem Grund hier eine Trennung vor, auch, um Interessenskonflikte bei der Aufsicht über die staatliche Finanzwirtschaft und die Geschäftsbanken zu vermeiden. Matolcsys Vorlagen ignorieren weiterhin auch die EU-Bedenken hinsichtlich der Beschneidung der Gehälter der Zentralbank-Chefebene (für alle in budgetären Einrichtungen Bedienstete gilt ein Maximum von 2 Mio. Forint pro Monat, ca. 6.600 EUR, Zentralbankchef Simor, eigentlich Feind der Regierung, verzichtet nun auf sein gesamtes Gehalt, um die Sache vom Tisch zu bekommen).

Auch die Ausweitung des Währungsrates um einen weiteren Stellvertreter, entsandt vom Fidesz-dominierten Parlament, bleibt erhalten. Die letzten beiden Punkte sind nicht explizit Teil des Vertragsverletzungsverfahrens, die EU nannte die Lösung jedoch als eine Vorbedingung für ein "Go" für den IWF, das die meisten Experten in immer weiterer Ferne sehen.

Wunschdenken dominiert

Sowohl Minister Matolcsy, Orbáns Chefberater Varga als auch Orbán selbst sehen nunmehr - offiziell - "alle Hürden" mit der EU hinsichtlich der Zentralbank beseitigt und den Weg frei für Verhandlungen mit dem IWF über einen Stand-by-Kredit von bis zu 15 Mrd. EUR. EU und IWF sehen das noch längst nicht. Ungarn fühlt sich, nach einem Sager von Orbán vom Ende letzter Woche, nun regelrecht "erpresst", da die EU angeblich politische mit wirtschaftlich-technischen Fragen vermengt. Orbán beschrieb damit jedoch nicht mehr als den Charakter der EU-Verträge, die sein Land auch unterschrieben hatte, weshalb die EU sich nicht wirklich von dem Erpressungsgefasel angesprochen fühlt, das wieder einmal der inländischen Anti-EU-Stimmungsmache diente, die mittlerweile zum festen Repertoire der Regierungsparteien avancierte.

Orbán will der EU seine Transaktionssteuer als "Strukturmaßnahme" verkaufen

Auf anderer Ebene versucht Orbán diesmal einen Konflikt mit der EU, seinem "neuen Moskau", im Vorfeld zu vermeiden. In der Frage der neu angedachten Transaktionssteuer auf Finanzgeschäfte, die geplanten fünf verschiedenen Meherwertsteuersätze sowie einige weiterführende Sparmaßnahmen, einschließlich eines erneuten Ausgabenstopps über 40 Mrd. Forint für alle Ressorts (rund 135 Mio. EUR), will Premier Orbán zunächst "die Meinung der Europäischen Union einholen", bevor die Sache vor das Parlament kommt.

Orbán möchte sich absichern, ob die genannten Maßnahmen der EU "strukturell und nachhaltig" genug sind, um Ungarn abzunehmen, dass es seine Defizitziele für 2012 und 2013 schaffen wird. Die Antwort auf diese Frage ist entscheidend dafür, ob die drohende Mittelkürzung der EU-Kohäsisionfonds um knapp 500 Mio. EUR ab 2013 doch noch abzuwenden sein wird, Ende Juni wird sie dem Rat nochmals vorgelegt werden. Eine positive Einschätzung der Kommission dazu gilt als Voraussetzung, auch wenn die konservativ regierten Schwergewichte angeblich die Sache schon in Hinterzimmern zugunsten der ungarischen Parteifreunde entschieden haben.

Die Zeit wird knapp, für Ungarn mit der EU und dem IWF, aber auch für Minister Matolcsy selbst. Er könnte als Bauernopfer für eine verfehlte Wirtschaftspolitik bei der Regierungsumbildung in 2 Wochen herhalten.

Unterschiedliche "Sichtweisen" beim Defizit

Insgesamt waren zur Zielerreichung per Jahresanfang noch "Justierungen" in der Höhe von 150 Mrd. Forint für dieses und 400 Mrd. Forint für nächstes Jahr notwendig, also rund 1,4% des BIP. Allerdings hat sich durch die neuen Prognosen, der IWF setzte justament die Wachstumsprognose für 2012 auf 0, die Lage wieder angespannt. Die EU sieht Ungarn 2012 bei 3%, 2013 bei mindestens 3,6% Defizit zum BIP, auch weil viele Sondersteuern dann auslaufen. Die Regierung selbst sieht sich bei 2,5 und 2,2%, es sieht aber danach auch, dass dies nur durch die Einführung oben genannter Transaktionssteuer gelingen kann.

Sondersteuern und Einmaleffekte, wie in der Vergangenheit, erkennt die EU nicht an, was - neben den unterschiedlichen Prognosen - zu erheblichen Differenzen bei der Bewertung des Haushaltsdefizites geführt hatte. Minister Maotlcsy behauptet noch heute, Ungarn lag 2011 bei 2,94%, beim cash flow sogar bei +3,3%, während die EU-Kommission bei ca. -6,5% landete, weil man die zwangsgeräumten privaten Beitragskonten in Höhe von 10,4% des BIP nicht anerkennt. Doch solange man nicht die gleichen Prognosen hat, kann man auch kaum auf einen Nenner hinsichtlich der Planerfüllung kommen.

Zwar kann eine Transaktionssteuer als durchaus strukturelle und nachhaltige Maßnahme gelten, allerdings kommt Ungarn damit wieder den Interessen der größeren EU-Partner in die Quere, die eine solche Steuer lieber und aus gutem Grund gleich EU-weit einführen wollen (bis auf GB) und daher solche Alleingänge überhaupt nicht gebrauchen können. Der Premier sollte sich desehalb nochmal überlegen, ob er sich in der Frage wirklich als Vorreiter feiern lassen will, wie er dies bereits tat.

Die Transaktionssteuer ist eigentlich eine weitere Einkommens- bzw. Mehrwertsteuer

Wie nun bekannt wurde, will die Regierung dabei neben allen Behebungen an Bankomaten und Bankschaltern doch auch die monatlichen Gehaltsüberweisungen, Zahlungen per Banküberweisung, auch die in Ungarn übliche Einzahlung der Mieten und Wohnnebenkosten per "gelber Zahlkarte" mit bis zu 0,1% besteuern. Sämtliche Mehrwertsteuertransfers von und zum Finanzamt ohnehin. Der Effekt dieser Steuer käme bei den Lohnzahlungen jedoch für den Normalbürger einer weiteren Mehrwertsteuer bzw. einer zweiten Einkommenssteuer gleich, was wiederum Klärungsbedarf mit der EU eröffnet.

Ursprünglich war eine Finanztransaktionssteuer (Tobinsteuer) für internationale Transaktionen gedacht, wurde von der Politik aber dann auf alle Finanzgeschäfte, auch im außerspekulativen Bereich ausgeweitet. Ungarn betont, dass eine ähnliche Steuer bereits von "Australien, Brasilien und Argentinien" eingeführt wurde. Indes gibt es leise Andeutungen aus Brüssel, dass man Ungarn mit dem Konzept diesmal davonkommen lassen könnte, wenn Budapest dafür auf den Unfug von fünf verschiedenen Mehrwertsteuerschlüsseln verzichtet.

Ein Viertel der EU-Strukturhilfen in den Staatshaushalt umgeleitet

Nicht davonkommen lassen will man Ungarn jedoch bei einem Gerichtsfall, in dem der Europäische Gerichtshof Ungarn verbot, EU-Mittel zur Bezahlung von Mehrwertsteuer bei Infrastrukturprojekten zu benutzen. Auf diese Weise wanderten nämlich in den vergangenen Jahren immer gleich einmal 25% der Brüsseler Fördersummen direkt in den Staatshaushalt ab, was man dort überhaupt nicht lustig findet. Konkret beeinsprucht werden 200 Mrd. Forint (rund 670 Mio. EUR), was rund 20% der letztjährigen Gesamtnettozahlung entspräche und für zwei Projekte der Autobahn M43 (Szeged-Makó) sowie der Eisenbahnlinie Kelenföld-Székesfehérvár-Boba gedacht war. Ungarn hatte das Urteil beeinsprucht, das Berufungsurteil wird für den Herbst erwartet.

Wird der Erstspruch bestätigt, kann Ungarn sein Budget gleich noch einmal neu schreiben. Übrigens enthält die neue Verfassung in einem Untergesetz einen Passus, der es der Regierung erlaubt, Kosten, die aus EU-Urteilen (mithin Fehlverhalten der Regierung) entstehen, durch neue Steuern auszugleichen...

 

Erst im Vorjahr musste die Regierung rund 1,6 Mrd. EUR aus zurückgehaltener Mehrwertsteuer von Unternehmen auszahlen, nachdem die EU dies gerichtlich verfügte und die Einbehaltung für unrechtmäßig erklärte. Die Differenz konnte damals noch aus den zwangsverstaatlichten privaten Rentenbeiträgen getragen werden. Doch die sind mittlerweile aufgebraucht bzw. durch den Rentenfonds gebunden.

Die Richterfrage wird eine Richterfrage

Die hier erörterten Fragen decken dabei nur den kleinen und den als weniger konfliktbeladen geltenden Bereich der EU-Verfahren ab. Viel fundamentaler entwickelt sich dagegen der Streit um die Unabhängigkeit der ungarischen Justiz, wo die bisher vorgetragenen Kompromissvorschläge auf keine Lösung ohne die Europäische Gerichtsbarkeit hindeuten, zumal mit János Áder einer der Architekten der rechtsstaatlich streitbaren Justizreform nun zum Staatspräsidenten aufsteigt, was ein klares Signal des Beharrens seitens Orbán darstellt. So gesehen hat sich die Situation zu unserem letzten Update, vor genau einem Monat, eher noch verschlechtert, zumal die Einsetzung von "Jungrichtern" mittlerweile in die Serienproduktion übergegangen ist. Sowohl Ungarn als auch die EU gehen davon aus, dass die Frage der Richter passenderweise nur noch von Richtern, europäischen, zu entscheiden sein wird.

Mehr zum Battle EU-IWF-UNGARN in der Europapolitik
Ausführliche Berichte zur Wirtschaftslage und -politik in der
WIRTSCHAFT und ihren Unterrubriken.

red. / cs.sz.

 

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