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(c) Pester Lloyd / 17 - 2012     WIRTSCHAFT 24.04.2012

 

Der nächste Schritt...

Ungarn will mit "Széll 2.0" den Befreiungsschlag schaffen

Die EU soll nicken, der Bürger zahlen. Wieder neue Steuern und weitere schmerzhafte Einsparungen enthält der 505-Seiten dicke "Széll Kálmán Plan 2.0 - Der nächste Schritt", der den ungarischen Haushalt nachhaltig sanieren, vor allem aber die EU von der Seriosität ungarischer Wirtschaftspolitik überzeugen soll, um die angedrohten EU-Mittelsperrungen doch noch abzuwenden. Experten nennen die Pläne zwar vorsichtig "ausreichend", den Haushalt für die nächsten 2 Jahre auszugleichen, doch für nachhaltiges Wachstum und sozialen Frieden sind sie pures Gift.

Sind wieder sehr zufrieden mit sich: Premier Orbán und “Nationalwirtschaftsminister” Matolcsy.

Am Montag wurde das umfangreiche Werk der Öffentlichkeit vorgestellt, die zeitgleich davon erfuhr, dass der Staatshaushalt zu Ende März bereits 90% des Defizits eingefahren hat, das eigentlich für das Gesamtjahr vorgesehen war. Unter 3% zum BIP muss Ungarn 2012 landen und zwar ohne "Einmaleffekte" und "Ad hoc Maßnahmen", so die Vorgabe aus Brüssel, wo im Juni endgültig darüber entschieden wird, ob Ungarn wegen seines "exzessiven Defizits" und (!) der monatelangen Weigerung auf Vorlage strukturell wirkender Gegenmaßnahmen mit einer Sperre von 495 Mio. EUR aus dem ihm zugeteilten EU-Kohäsionsfonds (20% der Gesamtsumme) bestraft wird.

Hinsichtlich der anderen Verfahren ist Ungarn zu keinen weiteren Zugeständnissen bereit, Premier Orbán räumte gestern in Brüssel ein, dass man sich wohl vor Gericht wiedersehen werde, eine Einschätzung, die wir schon früher trafen. (Mehr zum Defizitverfahren und den anderen Vertragsverletzungsverfahren). Mehr zu Orbáns Auftritt in Brüssel morgen, wenn er wieder zurück in Budapest ist.

Spagat mit vorhersehbaren Verletzungen

Ungarn beharrt darauf, dass die jetztigen Korrekturen Ergebnis des "Versagens des europäischen Wirtschaftssystems" sind, in Wirklichkeit zahlt man nun die Zeche für eine völlig missratene, ideologisch überfrachtete und fachlich dillettantische Wirtschaftspolitik. Durch die zweite Version des "Nationalen Sparplans", der sehr passend nach einem ständestaatlichen Ministerpräsidenten der vorvorigen Jahrhundertwende benannt wurde, wird weiterhin der Spagat zwischen Schonung der Wirtschaft und Rücksicht auf die Bevölkerung (Wähler) gesucht, der aber - mangels Wachstumssubstanz - nicht ohne schmerzhafte Bänder- und Muskelzerrungen erreicht werden kann. Wer am kürzeren Hebel sitzt, dürfte ohnehin klar sein. Der Forint notierte heute morgen mit fast 300 zum Euro nahe an einem neuen Jahrestieg, die CDS-Werte sind fast wieder so hoch wie zu Zeiten der Lehman-Krise.

Die Ausgangsdaten kommen der Realität halbwegs nahe

Trotz fortgesetzt gegenteiliger, zum Teil
sehr weltfremder Äußerungen der Regierungsspitze, müht man sich in dem Dokument der ökonomischen Wirklichkeit einen Platz zukommen zu lassen, was einen erheblichen Fortschritt gegenüber sämtlichen vorherigen Plänen darstellt. So wurden diesmal eher "konservative" (im Sinne von vorsichtigen) Berechnungsgrundlagen gewählt, statt der planwirtschaftlich anmutenden Jubel-Prognosen, die man dann stets kleinlaut - oft auch großmäulig - wieder revidieren musste.

Neben der bescheiderenen BIP-Prognose (jetzt +0,1 statt 0,5%, allerdings sehen die meisten Experten eher ein Minus von rund 0,5%) wird auch der Schuldenabbau vorsichtiger prognostiziert (78 statt 72% zum BIP 2012, keine Rede mehr von 60% binnen 5 Jahren oder gar den unter 50%, die die Verfassung vorschreibt...) die Inflationsprognose (knapp 5% statt 3,5%) den Realitäten wenigstens angenähert und die Zahl der Beschäftigten auf Stagnation gesetzt (statt der 1 Million neuer Arbeitsplätze binnen 10 Jahren) kurz, man kommt den realen Zuständen näher als je zuvor.

Numerisches Ziel des Planes ist eine "Justierung" des Haushaltes für dieses Jahr von 155 Mrd. Forint (rund 520 Mio. EUR) sowie 600 Milliarden für 2013 (2,01 Mrd. EUR), womit schon klar wird, dass das kommende nicht das von der Regierung angekündigte "Jahr des Wachstums" nach diesem "Jahr der Konsolidierung" werden wird. Mit den Zahlen geht man noch deutlich über die von der EU geforderten Korrekturen von 140 in diesem und 400 Mrd. HUF im nächsten Jahr hinaus.

Die Steuerlast der Bürger wird drastisch erhöht

Fünf "neue" bzw. neu gestaltete Steuern enthält das verspätete Osterei, dabei bekamen die Ungarn schon zu Jahresanfang ein beachtliches Häuflein serviert. Schon 2012 kommt die noch am Wochenende heftig dementierte Telefon-"Service"-Steuer, die rund 2 Forint pro Verbindungsminute ausmachen soll und also wie eine weitere Mehrwertsteuer (die reguläre hält mit 27% schon den Europarekord) bzw. eine erhöhte Einkommenssteuer (so viel zum Thema flat tax) direkt beim Bürger hängen bleibt. Nicht klar sind dabei noch die Berechnungsgrundlagen für Internetverbindungen und die immer gängigeren All-inclusiv-Tarife. Die Steuer soll aber noch in diesem Jahr kommen und schon 30 Mrd. Forint in die Kasse spülen, im nächsten dann bereits 55 Mrd. Forint (185 Mio. EUR). Die Telekombranche ist zusätzlich mit einer umsatzseitigen Krisensondersteuer belegt, die 2013 auslaufen soll, also nur von den Unternehmen direkt auf die Kunden umgeleitet wird. Wer hätte das gedacht.

Die ebenfalls neue Finanztransaktionssteuer von 0,1% auf (fast) alle Finanzgeschäfte, belastet die Banken weniger als die jetzige Sondersteuer, die ab kommendem Jahr ohnehin halbiert wird. Dafür zahlt - natürlich - der Normalbürger, da die Abgabe nicht nur auf spekulative Transfers, sondern alle, bis hin zur Einzahlung der monatlichen Stromrechnung erhoben werden soll. Damit wird die Idee der Transaktionssteuer zwar ad absurdum geführt, sollte sie ja einmal die internationale Spekulation eindämmen bzw. im Interesse der Allgemeinheit abschöpfen und nicht als zusätzliche Einkommenssteuer den kleinen Mann ärgern, aber man erwartet sich aus diesem Obulus vage 130 bis 228 Mrd. Forint pro Jahr, da stellt man keine Prinzipienfragen mehr.

Die Sondersteuer für Energieunternehmen wird hingegen verlängert und zum Teil erhöht, was 55 Mrd. Forint pro Jahr bringen soll, man darf sich ausrechnen, was das mit der Zahlungsfähigkeit der unteren Einkommensschichten anstellt. Versicherungsunternehmen müssen zusätzlich zu den Unternehmenssteuern jährlich 15 Mrd. Forint beisteuern. Eine Änderung der Mehrwertsteuereinhebung im Landwirtschaftsbereich soll weitere 10 bis 15 Mrd. Forint pro Jahr einbringen.

Die Streichung von Medikamentenzuzahlungen seitens des Staates wurden um weitere 10 Mrd. für 2012 auf jetzt 93 Mrd. Forint angehoben. 2013 will man dort nun, anstatt bisher 40, 77 Mrd. Forint einsparen, auch diese Maßnahme bezahlt ausschließlich der Bürger, und überproportional zahlen dies die Rentner, weil sie öfter und schwerer krank sind und weniger Geld zum Leben zur Verfügung haben als der "Durchschnitt". Zwar gab es einige Vorstöße, die Pharmaindustrie durch Preisgrenzen und den Zwang zur Verschreibung von billigeren Alternativprodukten daran zu beteiligen, diese scheiterten jedoch kläglich an der Lobby. Subventionsstreichungen werden aber sowohl bei der EU als vor allem auch beim IWF immer gerne gesehen, daher dürfte es hier kaum Widerrede geben.

Steuergeschenke für Reiche bleiben bei der Gesamtheit hängen

Weitere 45 Milliarden will der Finanzminister quer durch alle Ressorts (bis auf Wehretat) mit dem Rasenmäher einsparen. "Rationalisierungsmaßnahmen" bei staatseigenen Betrieben sollen 20 Milliarden erbringen, gleichzeitig sollen 10 Milliarden Forint Zuschüsse für den öffentlichen Personenverkehr gestrichen werden, was bedeutet, dass man die BKV offenbar aufgibt, was wiederum Geld kosten wird. Weitere 25 Mrd. Forint sollen eingespart werden, in dem man "Staatsmittel für Forschung und Entwicklung durch EU-Mittel ersetzt."

Die obigen Maßnahmen werden nicht mit einem Wort des Bedauerns gegenüber der Bevölkerung verkündet, denn die Lücken sind auf den Heller genau die Gelder, die man durch seine ideologische Sturheit bei der voreiligen Einführung der sozial zutiefst
ungerechten und für den Staat unter den heutigen Umständen sündteuren Flat tax vergeudet bzw. von Unten nach Oben umverteilt hat. Im ungarischen Neusprech nennt man die Maßnahmen auch nicht einfach neue Steuern, sondern "Einlösung des Versprechens der Regierung, die Bankensteuer zu halbieren und die Branchensondersteuern abzuschaffen bzw. in ein neues System zu überführen."

Neusprech statt Selbstkritik

Die Brüsseler Prüfer werden neben Ungarisch-Englisch noch ein zweites Wörterbuch - Orbánisch-Englisch - brauchen, wenn es weiter heißt: "Mit dem Széll Kálmán Plan 2.0 wird die Regierung die Einführung zu einem solchen Steuersystem vollenden, das die steuerliche Belastung der Arbeit reduziert und die Steuern für Umsatz und Konsum erhöht." Das versucht man schon seit zwei Jahren, Arbeit lohnt sich seitdem noch weniger (für die Mehrheit der Arbeitnehmer ebenso wie für die Arbeitgeber), Umsatz und Konsum gehen zurück. Und weiter: "Der Einzelne trägt so (mit der Finanztransaktionssteuer) nur eine kleine Bürde, die aber in Summe einen signifikanten Beitrag für das Gesamtbudget leistet, das so langfristig stabil wird." Ein paar Hinweise auf die "kleinen Bürden" des Einzelnen. Mehr zur Einkommenssituation in Ungarn in diesem Beitrag.

Trial-and-Error-Eskapaden

Von Fehlerkorrekturen, zumindest einem Systemtuning, ist auf den 505 Seiten keine Spur, vielmehr steigert es die von maßgeblichen Investoren kritisierte Unberechenbarkeit weiter  . Die beiden ökonmischen Hauptziele, die Orbán für seine Regentschaft ausgegeben hat, 1. Befreiung aus der Schuldenspirale, 2. Stehen auf eigenen Beinen, können solange nicht erreicht werden, so lange die Regierung an ihren Dogmen festhält und zur Pragmatik (die Selbstkritik erfordert) und sozialen Ausgewogenheit nicht fähig wird. Denn das Ergebnis dieser Schraubzwingenpolitik wird sein: die Haushaltsziele werden zunächst erreicht, das Volk stürzt in noch tiefere materielle und seelische Verzweiflung, Investoren suchen das Weite. Was dann? Neue Steuern? Oder doch der Griff auf die Sparkonten via "Volksanleihe"

Kein Gedanke kann so absurd sein, dass er nicht doch von dieser Regierung verwirklicht werden könnte. Dies ist das eigentliche Problem dieser Regierung, nicht das eine oder andere Zehntel beim Defizitstreit mit der EU. Und diese Präpotenz macht auch jede Debatte über Alternativen überflüssig, so lange diese Regierung nicht ihre Einstellung ändert.

Einige Fachleute kommen heute schon zu dem Schluss, dass es weniger Schaden angerichtet hätte, überhaupt keine Reformen umzusetzen, statt dieser ewigen Trial-and-Error-Eskapaden, derer sich Volk und Wirtschaft seit 2 Jahren ausgesetzt sieht. Das Urteil der Profis zu Széll 2.0: das Elend geht in die Verlängerung.

Die Regierung sieht das alles viel entspannter und verlegt sich auf Abzählreime: Angesichts des Széll 2.0-Planes, dieser großartigen Leistung des Nationalwirtschaftsministeriums "steht die Regierung zu ihren Zielen" eines Defizits zum BIP von 2,5% 2012, 2,2% 2013, 1,9% 2014 und 1,5% 2015, was uns wieder an den alten schalen Witz aus Planwirtschaftszeiten erinnert, wo der Fuktionär im Brustton der Überzeugung verkündet, dass "der Sozialismus bereits 1/4 der weltweiten Industrieproduktion erbringt, aber bald wird es 1/5, 1/6, ja und sogar 1/7 sein...!" - Über dem Plan seht in dicken Lettern: "Der nächste Schritt", wir überlassen es dem Realitätssinn unserer Leser, wohin der führen wird...

cs.sz. / red.

Ein Summary des Werkes (im hinteren Teil auch mit einer engl. Zusammenfassung, die leider ein paar wesentliche Punkte unterschlägt) findet sich hier auf der Regierungswebseite

 

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