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(c) Pester Lloyd / 33 - 2012   POLITIK 17.08.2012

 

Höherer Unfug

Orbáns Bildungsreform in Ungarn zwischen Kaderschmieden und “Kulturrevolution”

Der ungarische Ministerpräsident Viktor Orbán hat in einem Interview die Grundsätze seiner Bildungspolitik, vor allem bezüglich des Hochschulwesens verteidigt. Jeder solle seine Ausbildung selbst bezahlen, der Staat werde dafür Kredite bereitstellen. Die Gegner seines ständischen Systemumbaus nannte er "Konterrevolutionäre" und forderte von der Jugend "ihrem Land zu dienen". Kritiker werfen dem Regierungschef Verantwortungslosigkeit gegenüber der Jugend und der Zukunft des Landes vor.

Diagnose: Hirntod. Studenten tragen die höhere Bildung zu Grabe. Nach einer Reihe, teils forscher Proteste von Studierenden und Lehrkräften ist es in den letzten Monaten eher ruhig geworden. Im Herbst wollen die von den Reformen Betroffenen wieder mobil machen. Alle relevanten Links zu den Reformen wie zu den Protesten finden Sie am Ende dieses Textes.

Ständisches System, das Generationen und das Land in Armut stürzen kann

Orbán stehe für ein "selbst finanziertes Hochschulsystem", innerhalb dessen der Staat sicherstellt, dass jeder Student die Möglichkeit bekommt, die Kosten der Ausbildung über die Aufnahme erschwinglicher Kredite selbst zu tragen, so der Premier in einem Gespräch mit einer regierungsnahen Webseite. Dabei solle es sich um Langzeitkredite handeln, deren Rückzahlung auch mit Beteiligung der Arbeitgeber von Statten gehen soll, die dazu "entsprechende Anreize" erhalten sollen.

Kritiker sehen in dem angestrebten System einen weiteren Schritt zur Schaffung eines Ständestaates mit einem Bildungssystem, das Kindern von Besserverdienern deutliche Vorteile verschafft. Auch in der Sozial-, Arbeits- und Steuerpolitik schreibt die Fidesz-Regierung die Auseinanderdividierung der Gesellschaft in Oben, Mitte und Unten fest. Die Einbeziehung der Arbeitgeber in den Rückzahlungsprozess könnte zudem die Chancen auf einen adäquat bezahlten Arbeitsplatz für Absolventen noch weiter vermindern, schon jetzt finden die meisten kaum einen halbwegs anständig bezahlten Job in ihrem Qualifizierungsgebiet. Studentenkredite gibt es schon jetzt, doch waren die meisten Studienplätze, von unterschiedlich hohen Gebühren abgesehen, staatsfinanziert.


 

Verfassungsrechtliche Prüfung ein konterrevolutionärer Akt?

Orbán misst der "kompletten Umgestaltung" des Bildungssektors, die "einige Jahre in Anspruch nehmen wird", eine hohe Bedeutung zu und sprach gegenüber den Fidesz-Jungfuktionären von Fidelitas von einem "konterrevolutionären Angriff", dem seine dahingehenden Bemühungen derzeit ausgesetzt seien. Dies können sie jedoch nur, wenn Orbán seine Maßnahmen als Revolution ansieht. Dazu zählt für ihn offenbar auch, dass der parlamentarische Ombudsmann für Grund- und Menschenrechte Teile der neuen Gesetzgebung dem Verfassungsericht zur Überprüfung vorgelegt hat.

Die Aktivitäten des Ombudsmannes Máté Szabó bezeichnete Orbán als "obskur", seine lange Tätigkeit als Uniprofessor habe ihn offenbar parteiisch werden lassen. Szabó ist der letzte Ombudsmann des alten Systems, die Ansprechpartner für Datenschutz, Minderheiten und Religionsfragen wurden bereits in ein "neues System" überführt, die Posten wurden mit regierungsnahen "Experten" besetzt.

"Bleibepflicht" treibt junge Ungarn schon zum Studieren ins Ausland

Bereits im letzten Herbst wurden die für die Studenten kostenlosen staatlichen Studienplätze um 30.000 reduziert, gleichzeitig wird ab diesem Jahr jedem Studenten eine verbindliche Vereinbarung vorgelegt, die ihn zum Verbleib im Lande, mindestens die doppelte Zeit der Ausbildung, verpflichtet, andernfalls müsse er die kompletten Kosten seiner Ausbildung selbst tragen. Die EU und auch das Verfassungsericht prüfen derzeit, ob eine solche Regelung gegen das Recht auf Freizügigkeit verstößt.

Zuvor hatte die Fidesz-Mehrheit einen Gerichtseinspruch bereits durch eine formale Neufassung des Gesetzes umgangen. Das Fatale an diesem Weg ist jedoch, dass sich, aufgrund der schlechten Situation am Arbeitsmarkt, viele junge Ungarn nun gleich nach einem Studienplatz im Ausland umsehen, um diese Sanktion zu umgehen. Orbán ermunterte die Jugend in seiner Rede zwar, „ihr Können im Ausland unter Beweis zu stellen“, sie sollten aber "dann zurückzukommen, um ihrem Vaterland zu dienen“. Wie das praktisch umsetzbar sein soll, dazu hatte Orbán in seiner Rede jedoch keine brauchbaren Vorschläge zu machen.

Opposition: schon heutiges Studentenkreditsystem gescheitert

Kritiker von der oppositionellen MSZP nannten Orbáns Pläne schädlich für das Land, ganze Generationen würden in Armut und Staatsabhängigkeit gestürzt, der erwartbare Rückgang der Absolventenzahlen würde dem Land zudem einen enormen Wettbewerbsnachteil gegenüber den Nachbarn bescheren. Die "sozialistische" Partei verweist auf eine regierungsbeauftragte Studie welche bereits gezeigt habe, dass das modernisierte Studentenkreditsystem, Diákhitel 2, eine heikle Konstruktion war und in schlimmem Ausmaß die Staatsfinanzen treffen könnte und das schon innerhalb von zehn Jahren.

Auch die neofaschistische Parlamentspartei stimmte in die Kritik ein, Orbáns Äußerungen würden von Heuchelei zeugen, habe sich der Premier in seinen Oppositionszeiten doch noch deutlich gegen sein selbstfinanziertes Studium ausgesprochen. Anstatt talentierten Schülern mehr Möglichkeiten zu bieten, würden nun einzig die finanziell besser Situierten belohnt werden, sagte Parteisprecherin Dóra Dúró in einem Kommentar.

Universiätere Ausbildung als reine Bedarfserfüllung für die Nationalwirtschaft?

Die wesentlichen Grundzüge der Hochschulreform wurden von Staatssekretärin Rózsa Hoffmann, von der klerikal-nationalistischen Fidesz-Anhängselpartei KDNP, gestaltet, die von Anfang an klar machte, dass sie nur noch "nationalwirtschaftlich nützliche" Studienzweige fördern will, für die es Bedarf in der Wirtschaft gibt, was auch als ideologischer Angriff auf die als "linksliberal dominierten" Humanwissenschaften gewertet wird. Viele Studienzweige bezeichnete Hoffmann als "sinnlos, teuer und unnütz", höheren Unfug sozusagen. Hoffmann schloss auch die Schließung etlicher Fakultäten und die Zusammenlegung von Einrichtungen nicht aus, so sie sich - nach Entzug oder Reduzierung der staatlichen Förderungen - nicht "am freien Markt" behaupten könnten. Schon jetzt wurde die Hoschulautonomie in weiten Teilen aufgehoben, Personal- und Budgetfragen werden zentral entschieden, was zwangsläufig auch Einfluss auf die Studien- und Forschungsinhalte hat.

Staatssekretärin Hoffmann, KDNP und Premier Orbán, Fidesz, der seine Hand schützend
über die Politikerin hält, trotz massiver Kritik aus seiner eigenen Partei.

Milliarden für die Kaderuni

Begründet werden diese Maßnahmen auch mit dem Geldmangel im Staatshaushalt, allerdings machte die Regierung erhebliche Summen für eine neue "Beamtenuni" locker, in denen Exekutiv- und Verwaltungskräfte zentralisiert und dirigistisch auf ihre "Aufgaben" in der Administration vorbereitet werden. Dazu wurden jeweils Fakultäten der Wirtschaftsuniversität und der ELTE-Uni ausgegliedert und mit der Polizei- sowie der Militärakademie fusioniert. Die neue "Universität für den öffentlichen Dienst" soll alsbald einen neuen, großzügig ausgestatten Campus bekommen, die Ausschreibung dazu soll aber "aus Sicherheitsgründen" geheim bleiben.

Rahmenlehrplan erhebt Antisemiten in den Kanon

Auch in der schulischen Plfichtausbildung setzte die Orbán-Regierung umstrittene Schritte: so wurde das Pflichtschulalter herabgesetzt, was dem Arbeitsmarkt schnell "neue Kräfte" zuführen soll, aber zwangsläufig auch das Heer weniger oder gar nicht ausgebildeter Arbeitskräfte vergrößert. Durch Schulzusammenlegungen entfallen in den kommenden Jahren hunderte Lehrerstellen, während auf der anderen Seite "verdiente" Lehrer mit höheren Gehältern rechnen dürfen. Viele Schulen wurden aufgrund der Finanznot der meisten Kommunen in den letzten zwei Jahren in die Trägerschaft von Kirchen sowie auch ominösen Sekten übergeben, die finanzielle Gleichstellung der Trägerschaft durch ein Fidesz-Gesetz beschleunigte diese Tendenz. Als Höhepunkt der parteilichen Indoktrination gilt jedoch der neue Rahmenlehrplan, der auch eine Reihe von völkischen, zum Teil antisemitischen Schriftstellern, einschließlich dem Nazipolitiker József Nyirö einen Platz im literarischen Kanon der Schulen zuweist, während z.B. der Nobelpreisträger Imre Kertész nur noch im Abschnitt "literarische Auszeichnungen" geführt und behandelt wird.

Erinnerungen an stalinistische Kulturrevolution

 

Kommentatoren unterstellen der Orbán-Regierung mit dem neuen Bildungssystem Geistesfeindlichkeit und mangelnde Erfüllung staatlicher Grundaufgaben, die das Land teuer zu stehen kommen wird. Wenn er schon die "Revolution" ins Spiel bringt, erinnert seine Politik in fataler Weise an die Propaganda der Kulturrevolutionäre der Stalinzeit. Die heutigen Entscheidungen könnten viel tiefer und destruktiver auf die Gesellschaft wirken als Mediengesetz oder modifiziertes Arbeitsrecht. Auch der gern gebrachte Verweis auf das "amerikanische Modell" sei nicht statthaft, schöpfen die USA doch aus ganz anderen Quellen und lassen dabei - bei allen Erfolgen im Elitebereich - doch die Mehrheit in prekärer Bildungslage zurück, das sei für ein europäisches Land keine Alernative. Bildung dürfe weder Luxus sein, noch als rein nationalwirtschaftliche Kaderentwicklung verstanden werden.

Das Thema steht wieder auf der Tagesordnung der Herbstsitzungen des Parlamentes, auch wenn viele Schritte bereits Gesetz sind, Studentenvertreter und Lehrergewerkschaften kündigten bereits eine Reihe von Protesaktionen an. Staatssekretärin Hoffmann ist übrigens auch in den Reihen der Regierungskoalition nicht unumstritten, mit dem Bildungssprecher des Fidesz Pokorni kam es zu einem ungewöhnlich öffentlich ausgetragenen Schlagabtausch. Orbán steht jedoch weiter zu der von vielen als glatte Fehlbesetzung bezeichneten Hardlinerin. Wie auch in der Wirtschaft, ist dem Regierungschef auch in der Bildung Linientreue wichtiger als Sachkompetenz und Augenmaß.

red. / Milena Berks

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