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(c) Pester Lloyd / 34 - 2012   GESELLSCHAFT 21.08.2012

 

”Seelenerweckung” bei 40 Grad

Nationaloperette: Wie das offizielle Ungarn den 20. August feierte

Der Nationalfeiertag des 20. August stand ganz im Zeichen offizieller Feierlichkeiten, wobei die Regierung sich bemühte die "Einheit der Nation" möglichst fächendeckend auch über die Landesgrenzen hinaus zu propagieren und nach innen die Deutungshoheit über das Geschichtsbild zu demonstrieren. Auch zu den Fällen "Csatáry", "Prohászka" und "Roter Stern" gab es Verlautbarungen von ganz Oben. - Paraden, Messen, Brot, Spiele und Feuerwerk machten den Tag zu einer Großoperette für das Volk. Die “nationale Realität” demonstrieten Neonazis auf ihre Weise.

Präsident Áder nimmt die Parade der Offiziersanwärter ab.

Die Abläufe sind jedes Jahr dieselben, einzig der Bombast scheint von Jahr zu Jahr zuzunehmen. Die "Feiern für den ersten christlichen König Ungarns" begannen am Morgen vor dem Parlament, mit Flaggenhissung, Ehrenparade in Fantasieuniformen, Reden von Präsident Áder und Parlamentspräsident Kövér vor einigen Hundert "Repräsentanten" von Kirche, Politik und Diplomatie und Zaungästen. Ungarn sei "am Beginn einer neuen Ära", sagte Áder vor einem Bataillon frisch vereidigter Offiziere und Soldaten. "Nur Nationen, die ihre Seele erwecken könnten", werden die "Gewinner des 21. Jahrhunderts" sein. Alle andere werden in der Krise steckenbleiben.

Orden wurden verliehen, Luft- und Wasserstreitkräfte vollführten Paraden, danach verteilten sich die Festivitäten über die Stadt, zu Segnungen des nationalen Brotes (mit Mehl aus allen "ungarischen" Regionen), einer bäuerlichen Prozession wie aus dem Sisi-Filmset, der jährlichen Prozession der "heiligen Rechten" (Stephans Hand) einmal rund um die Basilika, Volks- und Handwerkerfesten und Fressmeilen, Konzerten, einem Sportfest mit großer Ehrung für die erfolgreichen ungarischen Olympioniken sowie letztlich zum visuellen Höhepunkt, dem Feuerwerk über der Donau. Eine perfekte Inszenierung, die aber doch nur kurzzeitig vom immer trister werdenden Alltag der Mehrheit der Ungarn abzulenken vermag.

Die Teilung des ungarischen Brotes als Symbol für die Einheit der Nation.

Diese Mehrheit verabschiedete sich, wie fast immmer zum Nationalfeiertag, massenhaft an den Balaton. Die Zehntausenden, die an den Festlichkeiten teilnahmen, schwitzten dafür mächtig, Temperaturen knapp unter 40 Grad im Schatten machten auch Einsatzkräften zu schaffen, die reihenweise Hitze- und Kreislaufopfer aus dem Verkehr in die Kühle der Krankenhäuser ziehen mussten. Reichlich überhitzt gaben sich auch die Chefinterpretatoren der Regierungsideologie, deren Redensarten für die Ungarn schon so inflationär geworden sind, dass sie den meisten in ein Ohr rein, aus dem anderen wieder raus marschieren. Doch für Auswärtige spiegeln sie ganz gut, was das Publikum in Ungarn seit zwei Jahren vorgesetzt bekommt:

Ansagen des Großayatollahs

Vizepremier Zsolt Semjén, Minister für Nations- und Glaubensfragen und Chef der Fidesz-Anhängselpartei KDNP, war diesmal in gewisser Weise der Hauptredner des Feiertages. Er fasste zusammen, dass die Lehre des Heiligen Stephan darin bestünde, aus "Magyarentum und Christentum eine natürliche Einheit" geformt zu haben, die Ungarn als europäischen Staat definierte, "ohne ein Vasall von Byzanz oder des Heiligen Römischen Reiches" zu werden. Nur sehr Außenstehende konnten den Wink Richtung Brüssel á la "Wir wollen keine Kolonie sein!", überhöhren und dass Orbán als Viktor I. quasi in die Fußstapfen des Reichsgründers tritt, ist eigentlich auch keine Neuigkeit.

Semjén, der sich als eine Art oberster Nationenschützer und Wächter in Glaubensfragen, sozusagen als der Großayatollah des neuen Ungarn sieht, eröffnete eigentlich schon am Freitag die Feierlichkeiten, als er sich ausgerechnet in der linksliberalen Zeitung Népszabadság über seine Sicht der Dinge dieses Tages ausbreitete. Er beließ es jedoch nicht nur bei den üblichen Beschwörungsformeln über die Einheit der Nation, seine Freude über 300.000 eingebürgerte Auslandsungarn durch das neue Staatsbürgerschaftsrecht und den Hinweis, dass die heutige Regierung mit der Wiedervereinigung des Ungarntums praktisch des Heiligen Istváns Werk fortsetze, sondern hob auch zu einer Verteidigungsrede für den antsemitischen Hassprediger Ottokár Prohászka an.

Die “Heilige Rechte” wird einmal um den Block getragen. Eine Ehrengarde der Armee der Republik übernimmt die tragende Rolle bei der Kirchenveranstaltung, übrigens nicht erst unter dieser Regierung.

Wer vor 1927 starb, konnte kein Antisemit gewesen sein...

Dieser polemisierte als Bischof von Székesfehérvár, führender Theologe des Landes und Anhänger des sog. Klerikalsozialismus (nach heutiger Definition eher eine klerikal-ständische Autokratie) offen gegen die "Macht der Juden", die Schuld am Elend der Nation und dem Schanddiktat von Trianon habe und für die völkische Reinheit des Magyarentums. Ihm wurde, wie vielen dunklen Geistern der Vergangnheit von Nyirö bis Horthy, unter dieser Regierung neue Ehre zu Teil, es wird ein Denkmal errichtet und Angriffe gegen ihn seien "absurd". Ihn als Antisemiten oder Nazi zu bezeichnen, gehe "gegen die Regeln der Geschichtsschreibung, denn er ist ja bereits 1927 gestorben", argumentierte Semjén, so als hätte es Antisemitismus oder Nazis vor 1927 nicht gegeben.

In Wien hat man gerade den Lueger-Ring in Universitätsring umbenannt, dabei ist der Bürgermeister Karl Lueger schon 1910 gestorben, da gab es vermutlich noch nicht einmal Konservative. Aber Wien ist eben auch rot. Die Fidesz-Schwesterpartei ÖVP übrigens pflegt ein ganz ähnliches Geschichtsbild wie das Fidesz. Bei denen hängt der Austrofaschist Dollfuß auch immer noch als "Nationalheld" im Flur der Fraktionsgänge im Parlament. Hier wie dort gilt, Hauptsache die Person war "national" gesinnt, dann verzeiht man ihr alles andere.

Justizminister über die "Affäre Csatáry" und den Roten Stern

 

Der andere Vizepremier, Justizminister Tibor Navracsics, ergänzte Semjén in gewisser Weise in dessen historischem Irrflug, als er am Sonntag im Radio darüber sprach, dass jene, die sich "auf die Ereignisse des Zweiten Welkrieges konzentrieren und dabei die Verbrechen während des sozialistischen Regimes ignorieren, das 20. Jahrhundert nicht verstanden haben." Navracsics ärgerte sich darüber, dass die "Affaire" des massiver Kriegsverbrechen verdächtigten László Csatáry über Nacht eine "Angelegenheit von globalem Interesse" geworden sei, während "die internationale Presse still geblieben ist" bei den Fällen des ehemaligen Innenministers Béla Biszkú und des Chefanklägers György Matsik aus der Zeit nach dem Volksaufstand 1956.

Allerdings vergaß er zu erwähnen, dass Ungarn selbst den Fall Csatáry nachweislich unter den Teppich kehrte und noch heute kehrt. Die Behörden wussten seit den Neunzigern von der Rückkehr des exilierten Kriegsverbrechers nach Ungarn, taten aber nichts. Wie bekannt wurde, liegt gegen ihn seit 1945 in Ungarn und seit 1948 in der Tschechoslowakei je ein gültiges Gerichtsurteil vor. Seine Funktion als Ghetto-Kommandant von Kassau ist dokumentiert. Niemand im Westen hat indes die Schuld Biszkús & Co. bestritten und berichtet wurde über die Ermittlungen auch international, wenn auch längst nicht so ausführlich wie über die "Nazijagd", die in Ungarn eher als eine Art Gnadenhof betrieben wird, wie nicht nur Csatáry, sondern auch die Fälle Képíró und Zentai belegen. Navracsics ist daher entweder unwissend oder er lügt, das eine ist so wahrscheinlich wie das andere, denn er ist schließlich ein Berufspolitiker und die Wahrheit ist der heutigen Regierung so billig wie der gestrigen.

Navracsics nannte die aus seiner Sicht unterschiedliche Bewertung des fünzackigen Sterns und des Hakenkreuzes als "gutes Beispiel für doppelte Standards" in Europa. Während das Hakenkreuz im Westen verdammt wird, sehe man den Roten Stern dort als Modeartikel, wo er doch ein Symbol für Unterdrückung, Verhinderung von Unabhängigkeit und Konzentrationslager sei. Navracsics weigert sich, ein Urteil des Europäischen Gerichtshofes anzuerkennen, das eine Verurteilung wegen des Tragens des Roten Sterns aufhob und Ungarn zu Schadenerstatz und Urteilsaufhebung verpflichtet. Europa habe über das Urteil in Straßburg die Meinungsfreiheit als wichtiger eingestuft als die "Warnung des Volkes vor den Verbrechen der Vergangenheit".

Das Tragen oder Zeigen des Sowjetsterns ist in Ungarn verboten, das Pfeilkreuz, das Navracsics übrigens nicht erwähnte und quasi das ung. Hakenkreuz ist, allerdings nicht, es ist Teil eines jeden der vielen, vielen Aufmärsche von Neonazis im heutigen Ungarn und bleibt stets unbelangt, sozusagen als Modeartikel. Die nationale Realität spielte übrigens zur gleichen Zeit in Cegléd, unweit der Hauptsadt. Dort marschierten wieder rund 400 Neonazis der "Neuen Ungarischen Garde" und ähnlicher Gruppierungen in Sichtweite der örtlichen Romasiedlung auf (Foto), nur ein massives Polizeiaufgebot konnte für dieses Mal Zusammentsöße vermeiden.

Nationalzirkus auf Tournee

Der Rest der Orbán-Truppe war zum Großteil im und außerhalb des Landes unterwegs, um im Auftrag der Zentrale die frohe Botschaft vom Heiligen Stephan unter die Leute zu bringen. "Human Resources"-Minister Zoltán Balog feierte mit ethnischen Ungarn in Lendava in Slowenien, der Staatssekretär für Auswärtiges, Zsolt Németh, besuchte das rumänische Cluj / Kolozsvár), dessen Bürgermeister übrigens der ehemalige rumänische Premier Boc ist, der der rumänischen Ungarnpartei für ihre lange, lange Loyalität bei der parlamentarischen Mehrheitsbeschaffung ebenso zu Dank verpflichtet ist, wie der noch suspendierte Präsident Basescu den Hungarorumänen für deren von Premier Orbán initiierten Wahlboykott dankbar sein muss. Vor einigen Tagen besuchte Basescu übrigens die zwei "ungarischen" Wahlkreise, die landesweit mit der niedrigsten Wahlbeteiligung wesentlich zu Basescus Amtserhalt beitrugen und stellte Wirtschaftshilfe in Aussicht, sobald die Macht wieder in Händen seines Politblockes ist. Mehr zum Thema.

Immer wieder beeindruckend: das Höhenfeuerwerk über der Donau. Fotos: MTI

 

Stellt man sich vor, wie Außenminister Westerwelle am deutschen Nationalfeiertag eine Rede vor "Deutschen" in Kaliningrad hielte, Kanzlerin Merkel zu einer Sommerakademie der "Jungen Union" nach Gdansk reist oder ein CSU-Minister im tschechischen Cheb eine Statue von Franz von Papen enthüllte, wird einem die Absurdität ungarischer Politik im heutigen Europa besonders deutlich. Interessanterweise halten sich die Regierungen der angrenzenden Länder im Vergleich zu vor ein paar Jahren jedoch mit Protest gegen den "Ungarischen Staatszirkus" auf Tournee sehr zurück. Offensichtlich ist man zu der Einsicht gekommen, dass die Fütterung der Trolle wenig Sinn hat und man besser damit fährt, die alljährlichen Ausfahrten der absonderlichen Nachbarn möglichst unkommentiert über sich ergehen zu lassen.

cs.sz.

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