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(c) Pester Lloyd / 37 - 2012   POLITIK 11.09.2012

 

Radio Ga Ga

Die Parlamentsbühne in Ungarn startet in die Herbstsaison - ein Überblick

Die im Hohen Hause vertretenen Parteien hielten in den letzten Tagen Klausursitzungen ab, doch die Themen des Herbstes hat längst Ministerpräsident Orbán über das Radio vorgegeben. Beim Armenienkonflikt, den IWF-Verhandlungen und der Wählerregistrierung verbarrikadieren sich alle hinter ihren jeweiligen Standpunkten. Den Multis macht man Angebote, die sie nicht ablehnen können, in der Richterfrage definiert der Minister das Wort "Kompromiss" völlig neu. Ex-Premier Gyurcsány gibt derweil die Drama-Queen und wird eine Woche hungern, womit wenigstens einer dem Volk näher kommt als je zuvor...

Armenien? Was geht das uns an... Orbán am Freitag im Radio.

Orbán redet zu “seinem” Volk am liebsten über "seine" Radiosendung "180 Minuten" auf dem staatlichen Kossuth Rádió, eine Sendung, die längst als "Freitagsgebet" Eingang in den Volksmund gefunden hat und auch aus praktischen Erwägungen bevorzugte Bühne für die Orbánschen Verlautbarungen ist: der Fragesteller ist öffentlich Bediensteter, also ein Lohn- und auch sonst Abhängiger, es reden keine vorlauten Querköpfe dazwischen und - man muss dem Volk bei den Darlegungen nicht einmal in die Augen sehen.

Konflikt zwischen Armenien und Aserbaidschan geht Ungarn nichts an

 

Am Beginn der Ausführungen Orbáns im Radio stand am Freitag das alles beherrschende Thema, der Konflikt mit Armenien, der als "Axtmörder-Affäre" schon heute einen geschichtsbuchreifen Namen trägt. In etlichen Verlautbarungen des Außenministeriums und von Partei- wie Regierungssprechern müht sich die ungarische Seite, das "rechtsstaatlich einwandfreie" Vorgehen im Fall der Auslieferung des Axtmörders Safarov darzustellen. Niemand der Offiziellen fand dabei auch nur ein Wort des Bedauerns gegenüber Armenien, gar der Familie des Opfers oder kam wenigstens zu der Einsicht, dass die armenische Seite - auch aufgrund der bekannt sensiblen Gemengelage - wenigstens hätte konsultiert werden sollen.

Orbán ging noch einen Schritt weiter und negiert, dass Ungarn überhaupt irgendetwas mit der Eskalation zu tun habe. „Das ist nicht unser Konflikt, wir sollten uns da heraushalten”. Der Konflikt "zwischen Armenien und Aserbaidschan geht Ungarn nichts an". „Wenn eine Staatsgarantie vorliegt, dass der in Ungarn verurteilte Kriminelle die weitere Strafe in seinem Heimatland verbüßen wird, wird Ungarn ihn ausliefern.” sagte Orbán in Fortführung der vollständigen Ignoranz der sichtbaren Rechtswirklichkeit in Aserbaidshan und natürlich bei Umgehung der heiklen Frage, ob es zwischen ihm und seinem Amtskollegen einen Deal hinsichtlich Geld und / oder Öl gegeben habe, gibt oder geben wird, dessen Bestandteil die Überstellung des Mörders ist.

Mehr zum Abbruch der diplomatischen Beziehungen von Seiten Armeniens , dem politischen Nachbeben und den Hintergründen zum - nicht existenten - "Milliardendeal" sowie zu Protesten im In- und Ausland.

Das gleiche wie im Radio, nur elaborierter und staatstragender, erzählt Orbán dann nochmal im Parlament

List und Liste

Auch zum Thema der IWF-Verhandlungen konstruiert sich die Orbán-Regierung ihre eigene Realität. Es ist schon jetzt klar, dass dieses das Hauptthema des Herbstes werden wird und es ist auch klar, dass Orbán hierin weiter die Rhetorik des "ökonomischen Befreiungskampfes" betreiben wird, ja muss, hat er das Thema doch durch seine eigenem Äußerungen von einer ökonomischen zu einer Frage der nationalen Selbstbahuptung überstilisiert.

Nachdem in der Vorwoche eine "Todesliste" mit "neuerlichen" IWF-Forderungen durch Fidesz-Politiker lanciert wurde, deren Echtheit mittlerweile von den vermeintlichen Urhebern widersprochen wurde, fühlte sich Orbán bemüßigt, dem IWF über seine Facebook-Seite eine Kampfansage zu übermitteln. Die Wahl des Mittels zeigt, wer der Addressat ist.

Er werde die Bedingungen, die der IWF so, nach eigenem Bekunden, gar nicht gestellt hat, nicht akzeptieren. Nun arbeite seine Regierung an alternativen Gegenvorschlägen. Für besonderes Aufsehen sorgten die Punkte auf der geleakten Liste, die weitere tiefe soziale Einschnitte beinhalten, u.a. eine Rentenkürzung, die Abschaffung der Rentnerfreifahrt bei öffentlichen Verkehrsmitteln, bei gleichzeitiger Protektion und "Unterstützung" der Banken. Das passt so wunderschön ins Bild des IWF als gewissenlosen Lobbyisten der Multis und der "Internationalen Finanzwirtschaft", dass man die Liste glatt hätte erfinden müssen...

Orbán streichelte im Radio das nationale Selbstbewußtsein, als er sagte, dass "Ungarn einen IWF-Deal zu einem solchen Preis nicht nötig" habe und sieht selbst beim IWF die Einsicht reifen, dass Ungarn ein "vorbeugendes Übereinkommen" nötiger habe als das Geld an sich und in cash. Dann folgten die üblichen Standardsätze vom Kampf gegen die Schulden, die man bereits "weit über EU-Schnitt" abgebaut habe, auf mittlerweile 77% des BIP, man habe "zigtausenden Schuldnern" bei Fremdwährungskrediten unter die Arme gegriffen - wem genau: das kann man hier nachlesen und hier, wem man alles nicht helfen konnte.

Weiter nannte er sein 300-Milliarden-Forint-Programm zum Schutz von Arbeitsplätzen, das lediglich eines zur Entlastung von Unternehmern von Sozialabgaben ist und überhaupt seine Wirtschaftsförderung "außerordentlich erfolgreich". Hingegen die EU... - diese Tiraden wiederholen sich nun schon seit Monaten, hier sei daher ein Link ausreichend.

Mit dem IWF redet der Premier neuerdings öffentlich über Facebook. Ob er auch die vielen, vielen Kommentare liest, die dem “Genie des Karpatenbeckens” ihre Meinung geigen?

"Außerordentlich erfolgreich" - worin?

Wirtschaftsexperten sehen Ungarns Lage nicht so rosig, aber die haben in dieser Regierung auch seit Anbeginn keine Stimme gehabt. Das BIP ist seit zwei Quartalen rückläufig, sogar das Statistische Zentralamt spricht von "Rezession", trotz beachtlicher Invesititionen von außen, allein Mercedes Benz steuert seit diesem Jahr wenigstens ein halbes BIP-Prozent neu bei, die Binnen-Investitionen gingen in Größenordnungen zurück, die Erzeugerpreise treiben die Inflation über 6%, die Landwirtschaft hat mit einer Jahrhundertdürre zu kämpfen. Der Forint ist zwar noch in einem erträglichen Kurs zu Euro und Franken, befindet sich aber stark unter Druck, zum einen, wegen der rein politisch motivierten Leitzinssenkung, die an den Kennzahlen und Risiken vorbeiging, zum anderen aber auch wegen der vom Markt als sachfern eingeschätzten Kampfhaltung der Machthaber in Budapest. Der Arbeitsmarkt verlor in der Privatwirtschaft netto 30.000 Stellen in einem Jahr und wird durch billige, perspektivlose Zwangsarbeit in den Kommunen statistisch aufgefangen.

Zwei gescheiterte Modelle ringen um Einfluss: das Volk schaut zu

 

Von den massiven Realeinkommensverlusten für die breite Masse der Bevölkerung durch Flat tax und massenhaften Steuererhöhgungen, durch ständische Klientelpolitik und ein Arbeitsrecht aus den Zeiten des Manchester-Kapitalismus mögen weder IWF noch Orbán sprechen und beide werden wissen, warum. Viel lieber schon feilschen beide Seiten über einzelne Budgetposten und mit ihnen über ihre jeweiligen Ideologien. Dort, die Marktgläubigkeit, die eine durch die Finanzwirtschaft finanzierte, möglichst absolut freie Wirtschaft postuliert, die uns zwar nachweislich in die heutigen Krisen führte, aber doch nur, weil der Markt gar nicht so frei war, wie er sein sollte... Hier eine Regierung im Macht- und Kontrollwahn, die glaubt, wenn sie nur genug "strategische Wirtschaftszweige" beherrscht und dazu immer schön die Nationalflagge schwingt, komme der Wohlstand von ganz allein.

Für Einige kommt er ganz bestimmt, doch für die Mehrheit des ungarischen Volkes sieht das Ergebnis beider Konzepte ziemlich ähnlich aus und besteht in darbendem Ausgeliefertsein. Dabei muss sich das Volk auch noch amtlich verhöhnen lassen, z.B. durch die sogenannte Finanztransaktionssteuer. Diese, einmal als Antispekulationssteuer geplante Maßnahme wird dem Volk als gerecht und zukunftsweisend und als Sieg gegen “den” Finanzmarkt verkauft. Wer zahlt aber? Das Volk. Während die Omi die 0,1% bei jeder Sparbuchauszahlung, bei jeder Stromrechnungseinzahlung mitbezahlt, die Löhne der Arbeiter, jede Finanzbewegung des kleinen Unternehmers mitbesteuert werden, wurde den Banken und Spekulanten die Steuer bei 6000 Forint pro Transaktion gedeckelt, d.h. ab ca. 35.000 EUR verbleibt es bei rund 20 EUR Steuer... Mehr dazu.

Wellness-Programm für Multis

Neben dem Kampf um ein nachhaltiges, stabiles Budget, das durch Projektionen aus Wolkenkuckuksheim, saftigen Rechenfehlern und die Sonderwünsche des Premiers immer mal wieder durcheinandergeschüttelt wird, dürften jedoch vor allem die angekündigten Verstaatlichungen ein zentrales Thema der Verhandlungen werden. In diesem Zusammenhang lässt eine weitere Meldung aufhorchen: Die Regierung plant "noch viel mehr strategische Vereinbarungen mit multinationalen Unternehmen" in Ungarn abzuschließen. Orbáns Flügeladjudant, Péster Szijjártó, nannte als Ziel "sie dazu zu bewegen, mehr von ihren Profiten im Lande zu reinvestieren." und mehr ungarische Lieferanten zu berücksichtigen. So würden sich "die Unternehmen in ausländischem Besitz sicherer und irgendwie auch viel wohler in Ungarn fühlen."

In den nächsten Wochen sollen "mindestens 40 solcher Abkommen" geschlossen werden, mit Firmen wie Knorr-Bremse, ThyssenKrupp, Bombardier, Nokia Siemens und Opel, sei man unter anderem im Gespräch, mit Coca-Cola habe man ein solches Papier bereits unterzeichnen können. Was Unternehmen blüht, die sich einem solchen Angebot verweigern, ob ihnen plötzliches Unwohlsein blüht, dazu machte Szijjártó keine weiteren Angaben, aber sicher wird hier auch der IWF, als Arzt und Apotheker der Multis, nachfragen wollen.

Wählerregistrierung als zentrale innenpolitische Frage des Herbstes

Neben Außenpolitik und Wirtschaftslage, ist die Frage nach der Sicherung der Macht von zentraler Bedeutung für die Regierung Orbán. Diese Rubrik hat praktisch die Innenpolitik ersetzt. Derzeit beherrscht die geplante Wählerregistrierung das innenpolitische Schlachtfeld der Gegner. Die Regierung findet, das sei eine rein technische Frage, immerhin könne das angestrebte Wahlrecht für Auslandsungarn nur umgesetzt werden, wenn die Wahlwilligen, die nicht in Ungarn gemeldet sind, irgendwie registriert seien. In Orbáns Neusprech klingt dieser Satz so: „Da Ungarn nun in eine neue Ära der Politik eingetreten und eine globale Nation geworden ist, müssen wir gewährleisten, dass die Ungarn, die überall auf der Welt leben, alle wählen können.”

Selektion von Wählerschichten nach wahrscheinlicher Stimmabgabe

Die Opposition ist entsetzt, Rechtsexperten schlagen die Hände über den Köpfen zusammen.  Der Vorwurf: während sich die Nationalkonservativen im Ausland eine neue Wählerbasis "zusammenkaufen" (durch die freimütige Vergabe des ungarischen Passes plus massiver finanzieller Unterstützung der separatistischen Ungarnparteien im Ausland), werden durch die erforderliche Registrierungsprozedur unliebsame oder unberechenbare Wähler im eigenen Lande ausgesiebt, denn, so die Annahme, politisch weniger Aktive oder Ungebildete (Roma) werden sich weniger registrieren lassen als Parteigänger und -anhänger. Gleichwohl sind sie als Teil des Volkes auch Teil des Souveräns und somit wahlberechtigt, was verfassungsrechtlich wie demokratiepolitisch ein weites Feld der Beackerung eröffnet.

Politanalysten sehen die Wahlbeteiligung eher sinken, zumindest umgerechnet auf die gesamte erwachsene Bevölkerung. Da sich die Wahlbeteiligung dann aber nur auf die registrierten Wahlberechtigten beziehen wird, wird sie kräftig ansteigen, womit die Legitimation des Wahlsiegers in noch schönerem Lichte strahlt als zuvor. Und auch das ist ein Ziel dieser Aktion.

Ex-Premier Gyurcsány (der abgemagerte Mann ganz hinten im Bild) beim Hungerstreik auf dem Kossuth Platz. “Sieben Tage für freie Wahlen” lautet das Transparent, viel wichtiger aber: Sind wir in der Zeitung?

Ex-Premier spielt wieder das Leiden Christi

Ex-Premier Ferenc Gyurcsány, ehemals MSZP, heute Chef seiner Demokratischen Koalition (DK) schlug die Angelegenheit so auf den Magen, dass er gar nichts mehr essen kann. Vielleicht erkannte seine Frau auch ein paar urlaubsbedingte Fettröllchen auf den Hüften des "Self-made-Milliardärs", jedenfalls entschloss er sich mit ein paar Genossen zu einem einwöchigen Hungerstreik auf dem Kossuth Platz vor dem Parlament. "Dramatische Probleme erfordern dramatische Maßnahmen" kommentierte er seinen Auftritt.

Die sozialistische Drama-Queen, deren eitle Taktierereien zwei Jahre dafür sorgten, dass sich die linke Opposition weder erholen, noch reformieren, schon gar nicht einigen konnte, ist bekannt für seine Ausflüge ins boulevardeske. Unvergessen ist sein Auftritt vor dem Ermittlungsrichter, bei dem er auf seine Tochter gestützt daherwankte, wie Jesus auf seinem letzten Gang oder kurz danach sein kamerabegleiteter Einzug in eine Plattenbausiedlung in Miskolc, wo er einmal "schauen wollte, wie die einfachen Leute so leben müssen." Nun, sollte Gyurcsány die Woche Hungern durchhalten, kann er mal fühlen wie sich geschätzt 400.000 Ungarn tagtäglich fühlen, Dank auch seiner Politik, ohne die Orbán nie an eine so umfassende Machtfülle geraten wäre.

Navracsics` "Kompromiss" in der Frage der Richterpensionierung

Im Fahrwasser der obigen Hauptschlachtfelder will die Regierungspartei noch einiges "Fine-Tuning" an der, wie sie selbst zugibt, mitunter etwas übereilten Gesetzgebungswelle (knapp 400 neue Gesetze in zwei Jahren) vornehmen. Das betrifft unter anderem das Straf- und Zivilrecht, darin u.a eine Regelung zur Privatinsolvenz für Familien, die besondere Schutzklauseln beinhalten soll, ein Sonderwunsch der Anhängselpartei KDNP. Ideen dazu, dass Familien erst gar nicht in solch missliche Lage wie eine Insolvenz geraten, gibt es weniger, aber Hauptsache man hat “Nächstenliebe” demonstriert.

Auch das seit Monaten anhängige Thema der Zwangspensionierung von Richtern mit 62 Jahren (statt wie bisher mit 70) wird wieder Thema. Das Verfassungsgericht kassierte die Regelung als verfassungswidrig, ein Arbeitsgericht annulierte in der Folge bereits die ersten Kündigungen. Justizminister Tibor Navracsics sprach nun davon, "dass die Richter bis 65 im Amt bleiben könnten", so soll es in die Verfassung geschrieben werden. Gleichzeitig dürften jedoch alle über 62 keine "Leitungspositionen" mehr in den Gerichten einnehmen, ausgenommen sind davon der Präsident der Kurie (Fidesz-Mann) und die Präsidentin der Richterkammer (Fidesz-Frau). Wer bereits gekündigt wurde, darf auch nur noch als "Subordinierter" zurückkehren. Der Präsident der Richtervereinigung lobte Navracsics für diese Neudeutung des Wortes "Kompromiss", der so ausschaut, als wenn der Europäische Gerichtshof in dieser, auch die EU bewegenden Frage nun doch noch zum Zuge kommen wird, was aber Navracsics ziemlich egal ist, wie er bereits an anderer Stelle demonstrierte.

m.b. / e.g. / cs.sz. / m.s.

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