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(c) Pester Lloyd / 38 - 2012   POLITIK 17.09.2012

 

Linkes Fastenbrechen

Viel Wut, aber kein Plan - Ungarns demokratische Opposition erreicht das Volk nicht

Zum Abschluss seines einwöchigen Hungerstreiks (wir berichteten) aus Protest gegen die von der Orbán-Regierung geplante Wählerregistrierung, hat Ex-Premier und Parteichef der Demokratischen Koalition (DK), Ferenc Gyurcsány, seine Anhänger zu einer Kundgebung auf dem Kossuth Platz vor dem Parlament in Budapest versammelt. Er forderte zur Einheit der Demokraten auf und bot der MSZP seine Unterstützung an. Warum er sie dann zuerst gespalten hat, bleibt eine von sehr vielen offenen Fragen. - Weitere Demos und Events vom Wochenende

Ferenc Gyurcsány, zweiter von Links, mit seinen Mitstreitern am Samstag vor seinen Anhängern

Die von der Mehrheit der Ungarn als populistische Aktion wahrgenommene Fastenwoche des ehemaligen Ministerpräsidenten Ferenc Gyurcsány, dessen Politik als Regierungschef Ungarn mit dahin geführt hat, wo es heute steht - ökonomisch wie politisch - wurde Ziel von einigem Spott und absurden Situationen. Die neofaschistische Partei Jobbik verteilte in Sichtweite des Hungercamps Gulaschsuppe, am Freitag fand an gleichem Ort eine Regierungspromotion über "Innovationen ungarischen Geschmacks statt", wo das Landwirtschaftsministerium ausländische Diplomaten zur Verköstigung von Spezialitäten einlud. Daneben kauerte der Self-Made-Milliardär Gyurcsány, der seine politische Niederlage nie verwinden konnte mit einer Schar seiner Anhänger und markierte medienwirksam den hungernden Märtyrer der Demokratie.

Der Spaltpilz wirbt für Einheit

 

Die Kundgebung am Samstag, zu der einige tausend Anhänger kamen, darunter auch ein einflussreicher MSZP-Funktionär, die Ex-MSZP-Vorsitzende Ildikó Lendvai und ein ehemaliger SZDSZ-Politiker, sollte der krönende Abschluss der Protestwoche werden. In seiner Rede erklärte Gyurcsány, dass er zur Kooperation mit anderen demokratischen Kräften bereit sei, denn nur die Einheit dieser könnte Orbáns Macht beenden und Fidesz in die Opposition schicken. Die Anwesenheit von Ex-Partei- und Koalitionskollegen bestärkte ihn darin, "das Eis ist gebrochen", glaubt Gyurcsány. Natürlich verlor er kein Wort darüber, dass er die parlamentarische Linke fast zwei Jahre durch seine spalterischen Ambitionen geradezu gelähmt hatte und er durch die Abspaltung der DK von der MSZP den Führungsanspruch in der Opposition für sich reklamierte. Seit der Gründung grundelt seine Partei nun knapp unter der 5%-Hürde, ein Phänomen, das sich nur er und seine Anhänger partou nicht erklären können.

Immerhin sandte er ein Zeichen an die ehemaligen Genossen der MSZP, dass seine Partei sogar bereit wäre, einen MSZP-Spitzenkandidaten, z.B. Parteichef Mesterházy in einer Wahl zu unterstützen. Auch Gordon Bajnai erwähnte er, jenen Parteilosen, der eine MSZP-Minderheitsregierung bis zur Wahl führte, nachdem Gyurcsány sich nicht mehr halten konnte, doch Bajnai vermeidet bisher jede deutliche Ansage, ob und wenn ja, unter welcher Flagge er für Wahlen 2014 er kandidieren würde. Im Anbetracht der verzankten Gemengelage in der linken Opposition das weiseste, was er tun kann. Dass er grundsätzlich einer Kandidatur für den Sessel des Ministerpräsidenten nicht abgeneigt ist, beweisen die regelmäßigen Aussendungen seines Politinstitutes "Heimat und Fortschritt" mit Fundamentalkritik an der Politik der Orbán-Regierung sowie neulich erst mit strategischen Überlegungen dazu, wie man den Machtwechsel wahltechnisch bewältigen könnte.

8000 bis 10.000 versammelten sich um den Ex-Premier,
wie eine Revolutionsbewegung sieht es aber noch nicht aus...

Wenn Gyurcsány Orbán kritisiert, erinnert das viele an Gyurcsány

Das Problem Gyurcsánys ist, dass er nicht erkennen will, dass die potentiellen Bündnispartner jedesmal ein paar Prozentpunkte an Zustimmungswerten einbüßen, wenn er deren Namen nur in den Mund nimmt, denn nichts ist in Ungarn seit bald sechs Jahren so diskreditierend wie die Nähe zu dem unsäglich agierenden Ex-Premier. Jedesmal, wenn er von den "Lügen Orbáns" spricht, erinnert sich das ganze Land an seine legendäre "Lügenrede", die sich überigens am heutigen Montag zum sechsten Male jährt.

Gyurcsány wirft Orbán im Zusammenhang mit der Wählerregistrierung "Demokratiezerstörung" vor, seine Flat Tax mache die Reichen reicher, die Armen ärmer, "auf Generationen heraus". Den jungen Leute wird durch die Bildungspolitik der Zugang zum Studium unmöglich gemacht, ihnen "die Zukunft gestohlen", die Wirtschaft und die Gesellschaft aufgeteilt zwischen Verwandten und Freunden der Fidesz-Welt, heißt es weiter - und schon wieder fühlt man sich zwangsläufig an die Aufteilung des Landes unter den sozial-liberalen Regierungen und ihren "Spezies" erinnert, die Orbán überhaupt erst möglich machte.

Zaghafte Einsicht...

Zaghaft bricht sich bei Gyurcsány immerhin eine kleine selbstkritische Einsicht Bahn, wenn er vor seinen Anhängern am Samstag sagt, dass "wir (die demokratischen Oppositionsparteien) einen Teamchef brauchen, der eine stärkere Unterstützung hat als ich selbst." Das kann derzeit nur MSZP-Chef Mesterházy sein, da er die größte Oppositionspartei repräsentiert. Dass Gyurcsánys Performance nicht nur hinderlich sein könnte, sondern seine fortgesetzte Präsenz in den zerklüfteten Reihen der Opposition womöglich eine der wichtigsten Machtgarantien Orbáns sein wird, so weit geht Gyurcsánys Einsicht freilich nicht. Auch bleibt er jede Erklärung schuldig, warum er erst die MSZP spaltet, um danach ihrem Vorsitzenden seine Unterstützung anzubieten.

 

Weitere Highlights mit Volksbeteiligung vom Wochenende: FrauenrechtlerInnen protestierten gegen die Machoausfälle eines Fidesz-Abgeordneten beim Thema häusliche Gewalt, ein paar Hundert Angestellte demonstrieren vor den Toren einer Fleischfabrik um ihre Arbeitsplätze. Die Regierung organisiert das Gegenprogramm, Brot und Spiele für die Masse: am Balaton ein Motorradrennen, eine Traktor-Rallye und ein Sherpa-Rennen auf dem Lande. Ein Bauwettbewerb von Eisenbahnern (Unser Arbeitsplatz, unser Kampfplatz für die Nation...) das Weinfestival in der Burg, Höhepunkt aber: der "Nationale Aufgalopp" (Foto), er findet alljährlich unter dem Stern des "magyarischen Reitervolkes" von den Hunnen bis zur Husarenkultur statt und verwandelt den Heldenplatz zu einer beeindruckenden Pferderennbahn, umrahmt von ornamental hochgebrezelten Kulissen des idealen ländlichen Ungarns. Im Vorjahr noch erklärte Verteidigungsminister Csaba Hende dem versammelten Publikum "Ungarn kann und soll wieder eine Reiternation werden...", worauf ein vorlauter Störenfried zur allgemeinen Erheiterung des Publikums hineinrief: "Bei den Benzinpreisen wird uns auch gar nichts anderes übrig bleiben...".

Notstandsmeldungen statt Politikalternativen

Das Grundübel der demokratischen Opposition, abseits ihrer zänkischen Gespaltenheit, abseits der Reformverweigerung der MSZP, ist vor allem ihre vollkommene Planlosigkeit. Es ist zwar verlockend und auch eingängig, der Regierung ihre fraglos zahlreichen Sünden vorzuwerfen und ein "So nicht!" zu schmettern, doch das Problem der Mehrheit des ungarischen Wahlvolkes, das zeigt vor allem ihre Absenz bei Umfragen, die über 50% Nichtwähler prognostizieren, ist es, keine als gangbar erkennbare Alternativen zu haben. Denn eines ist den meisten Ungarn klar, Orbán ist nicht gut für ihr Land, immerhin 82% sehen es "in eine falsche Richtung" gehen, doch so gut wie niemand, will das vorherige Chaos zurückhaben, in dem  postkommunistische Seilschaften unter den Parolen "EU und Globalisierung" das Land plünderten und - wo nötig - dann durch den ausgebluteten Staat unfinanzierbare Wohltaten verteilten, die das Land letztlich in den Ruin trieben.

Rechts und Links wollen "das Volk" nicht überfordern...

Doch Antworten auf so komplexe Themenbereiche bekam "das Volk" am Samstag nicht, das linke wie das rechte Establishment, hütet sich davor, ihr Volk inhaltlich zu überfordern, was diese - so wie viele - Regierungs- oder Oppositionsveranstaltungen besonders hohl und auf Phrasen und Parolen beschränkt erscheinen lässt. Csaba Molnár, Vizechef der DK, kam zwar auf das Motto der Woche zurück, verharrte aber ebenfalls in verallgemeinernden Notstandsmeldungen, bei denen viele zwar nicken, aber wohl kaum vom heimischen Herd gerissen werden: "Hunderttausende in diesem Land hungern nicht nur freiwillig", man müsse die "Athmosphäre der Angst, die sich im Alltag, in den Betrieben, in den Schulen, ja sogar in den Schlafzimmern (!)" ausgebreitet habe und die in allgemeiner Resigination mündet, endlich durchbrechen.

Die Wählerregistrierung wurde nun als zusätzliche Hürde eingeführt, um das Vok zu entmündigen, so Molnár. Eine zweifelsohne richtige und eigentlich schockierende Feststellung, die von ihrem Wert nicht wenig verliert, wenn man bedenkt, wieviel Wert Gyurcsány & Co. der Mündigkeit ihres Volkes früher zugemessen hatten.

Ein Volk in Duldungsstarre?

Gemeinsam müsse die demokratische Opposition dagegen vorgehen, man sollte eine Menschenkette um das Parlament bilden, wenn dieses "Schandgesetz" zur Abstimmung kommt, auch von Registrierungs- und sogar Wahlboykott war die Rede und Gyurcsány bot sich dem Volk als ehrlicher Makler, "der ungarischen Sache wegen" an. Unter "Erhebe dich, Ungarn"-Rufen und der Nationalhymmne klang die Veranstaltung von ca. 8000 bis 10.000 Menschen aus, deren gläubige Gefolgsamkeit sie den Fidesz-Anhängern sehr ähnlich macht und ließ mehr Fragen offen als sie beantwortete. Dass die demokratische Opposition, auch abseits der Linken, das Volk nicht erreicht, ist ein Ergebnis der eigenen Unglaubwürdigkeit wie der Duldungsstarre, in der sich die Menschen in dieser "nationalkonservativen Revolution" befinden. Ungarn, ein paralysiertes Land.

red. / ms.

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