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(c) Pester Lloyd / 50 - 2012   POLITIK 10.12.2012

 

"Die EU ist mit der Türkei einfach stärker"

Forscher Auftritt des Europaministers der Türkei in Ungarn

Stagnierende Beitrittsverhandlungen seien kein Verlust für die Türkei, sondern für die EU und eines Tages werden sich die Europäer fragen, wie man es sich eigentlich mit seinem Land so verderben konnte... Mit dem der Erdogan-Regierung eigenen Selbstbewußtsein trat der türkische Europaminister an der Budapester Andrássy-Universität auf und entwarf ein Bild von Gegenwart und Zukunft der EU-Perspektive der Türkei. Dabei wurden interessante Perspektiven geboten, aber längst nicht alle Fragen beantwortet.

Am vergangenen Donnerstag besuchte der erste türkische Europaminister der Türkischen Republik, Egemen Bagis, der auch Hauptverhandlungsführer im Rahmen der türkischen Beitrittsbestrebungen mit der Europäischen Union seit 2011 ist, die Andrássy Universität Budapest, um vor hochkarätigem Publikum über die neuen Möglichkeiten und aktuellen Dynamiken der türkisch-europäischen Beziehungen zu sprechen.

Der wunde Punkt: Die Türkei in Europa, so riskant wie vernünftig - Kommentar

Der Rektor der Deutschsprachigen Andrássy Universität in Budapest, www.andrassyuni.hu, Prof. Dr. András Masát und sein türkischer Gast beim Eintrag ins Goldene Buch der Uni.

Die Veranstaltung wurde gemeinsam durch die AUB und die türkische Botschaft in Ungarn organisiert. Das hohe Interesse an der Thematik wurde durch den Umstand illustriert, dass neben dem Botschafter der Türkischen Republik in Ungarn, Hasan Kemal Gür, eine beachtliche Zahl weiterer Botschafter und Vertreter der Botschaften von Algerien, Ägypten, Belgien, Bulgarien, Frankreich, Griechenland, Israel, Korea, Mazedonien, Moldawien, Österreich, Pakistan, Palästina, Polen, Rumänien, Serbien, Slowenien und Zypern anwesend waren.

Beziehungen Ungarn - Türkei: historisch speziell, heute pragmatisch

Bereits in den Begrüßungsworten verwies Rektor Prof. Dr. András Masát auf die langjährige und enge Zusammenarbeit mit der türkischen Botschaft in Ungarn und unterstrich, dass die Art und Weise der Beziehungen zwischen der EU und der Türkei ein elementarer Aspekt für die nächste, gemeinsame Zukunft sei. Zu Beginn seines Vortrages widmete Bagis sich den türkisch-ungarischen Beziehungen, die durch ihren historischen Hintergrund (die Osmanen hielten Teile Ungarns über Jahrhunderte besetzt) sehr speziell seien. Der Botschafter nannte diese Umstände "eine gemeinsame Vergangenheit", eine Interpretation, die in Ungarn mehrheitlich eher anders gesehen wird. Der Botschafter verwies jedoch vor allem auf die "gute und starke wirtschaftliche und politische Kooperation" heute und resümierte die Beziehungen als "einzigartig".

Staatsreligion und Säkularismus in einem Staat?

Hinsichtlich des Themas des Abends vertrat der Botschafter die bekannt selbstbewußte Position seiner Regierung: die Türkei habe sich genug und so rasant entwickelt, dass sie längst bereit sei, in die EU aufgenommen zu werden. Ganz besonders viel Wert legte er dabei auf den Aspekt der Türkei als Soft-Power-Staat. Sie sei als einziges und im Vergleich zu den Ländern des Arabischen Frühlings, ein Land, das islamisch und demokratisch zugleich sei: „während muslimische Staatsführer zum Beten auffordern und westliche den Säkularismus predigen, kann die Türkei beides bieten“, so Bagis.

Die Türkei besitze die am stärksten florierende Wirtschaft in der gesamten Region und sei als säkularer Staat ein „must have“ für die EU, „die EU braucht die Türkei“. Die Türkei sei ganz klar ein europäisches Land, das sich aus den verschiedensten Kulturkreisen zusammensetze. In der Zukunft gehe es nur darum, wo sie sich hinwende. Diesen Prozess könne die EU aktiv mitgestalten, aber dafür müsse diese erst einmal ihre eigenen Ambitionen klarmachen. Es sei für die Türkei nicht mehr zu erkennen, ob die EU sich zentral als ökonomische oder auch als werteorientierte Friedensgemeinschaft sehe. Bagis stellte die Frage „was ist eigentlich der aktuelle Status der EU?“, eine Frage, auf die ihm das offizielle Europa wohl ein Dutzend Antworten bieten könnte.

Wer mit den Briten auskommt, kann das auch mit den Türken

Die EU sei nach wie vor ein kontinentales Projekt, aber die Türkei könne dabei helfen, das Projekt global werden zu lassen. Doch dazu müsse die EU einsehen, dass die Hindernisse oder die kritischen Punkte, die der Türkei immer wieder gegen einen Beitritt entgegengeworfen werden, überholt sind. „Wenn ihr mit den Briten leben könnt, wieso dann nicht mir uns?“, sagt Bagis dazu. Die Türkei habe enorme Fortschritte gemacht: sie kümmere sich intensiv um Minderheitenschutz, es werden nunmehr schon 20 Minuten kurdischer Rundfunk im türkischen Fernsehen täglich übertragen sowie Roma und Alawiten besonders gefördert. Die Türkei habe sich in allen Punkten am europäischen acquis orientiert, doch trotzdem habe man unverständlicherweise von 13 aufgeschlagenen Kapiteln in den Verhandlungen erst eines beendet.

Partner bei Wirtschaft und Terrorbekämpfung

Die EU stecke in einer Glaubwürdigkeitskrise, was den Türkeibeitritt und die Beziehungen zum Land angehe, so Bagis. Es sei Zeit, die Verhandlungen „auf das nächste Level zu heben“. Nicht zuletzt werde die EU in Zukunft Energierversorgungsprobleme haben und müsse einsehen, dass sie mit der Türkei zusammen „einfach stärker“ sei. Außerdem sei man ja auch längst schon in Europa, gemessen an der Zahl der türkischen Migranten in Europa, es sei also höchste Zeit für eine umfassende Lösung. Bagis schließt seinen Vortrag mit den Worten: „Wir wollen noch mehr machen, aber da kommt einfach zu viel Widerstand!“

 

Auch in der anschließenden Fragerunde liefen Bagis‘ Antworten in eine ähnliche argumentative Richtung. Europa stecke in einer wirtschaftlichen Krise und die einzige Chance, aus dieser herauszukommen, seien die Absatzmärkte außerhalb und da biete die Türkei mit einem verdreifachten Prokopfeinkommen in den letzten Jahren den größten potentiellen Partner. Auch in Fragen der Bekämpfung des internationalen Terrorismus` könne die Türkei als idealer Partner dienen.

Europa solle “Doppelmoral” beenden

Doch all diese positiven Aspekte sehe die EU nicht, da es in Bezug auf die Türkei einfach „eine Doppelmoral“ gebe, die nicht gerechtfertigt sei und auch nicht überwunden werde. Die Türkei sei demokratischer als irgendein anderes Land der Region und sie könne nur „noch demokratischer“ und „noch säkularer“ werden. Der Enthusiasmus seitens der Türken gegenüber der EU hielte sich in Grenzen, so Bagis, und die zentrale Frage der nächsten Jahre in Brüssel werde sein: „Wer hat es eigentlich mit der Türkei versaut?“ Bagis hat seine Position im Vortrag sehr deutlich gemacht, nämlich, dass ein stagnierender Prozess der Beitrittsverhandlungen kein Verlust für die Türkei sei, sondern für die EU und sollte diese ihre Meinung dazu nicht ändern, werde sie es in Zukunft sehr bereuen, nicht zuletzt aus wirtschaftlicher Perspektive.

Der wunde Punkt: Die Türkei in Europa, so riskant wie vernünftig - Kommentar

Milena Berks

 

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