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(c) Pester Lloyd / 03 - 2013   BILDUNG 16.01.2013

 

Zwischen Hörsaal, Straße und Verhandlungstisch

Interview mit dem Vorsitzenden der Studentenvertretung HÖOK in Ungarn

Im Dezember hielten Tausende ungarische Studenten und Gymnasiasten
das Land mit bewegenden Protestaktionen in Atem.
Es sah so aus, als würden die jungen Leuten mit ihrem Bestehen
auf Mitbestimmung über ihre Zukunft und der Forderung
nach Freiheit der Bildung eine erste ernsthafte Herausforderung für die Orbán-Regierung darstellen. Dann kam Weihnachten,
das neue Jahr hatte begonnen, die Regierung hat eine
umfangreiche Streichliste für die Finanzierung
von etlichen Studiengeänge vorgelegt, doch von Protesten
war kaum noch etwas zu hören. Wir wollen von
Studentenführer Dávid Nagy wissen, wie der Stand der Dinge ist.

Dávid Nagy ist Vorsitzender der Konferenz der Hochschulstudenten, HÖOK, auch Studentenparlament genannt, dem wichtigsten Organ für die Interessensvertretung der Studierenden und Hauptinitiator der Proteste. Worum es bei der "Winterrosenrevolution" ging, haben wir hier umfangreich dargestellt, einen Überblick über die gesamten Ereignisse und weiterführende Links erhalten Sie auf unserer Themenseite.

 

 

Kommt die Regierung den Studierenden tatsächlich entgegen oder ist der zuerst so grundsätzliche Protest einfach erlahmt? Nagy deklariert seine Kompromissbereitschaft und sieht diese - vorsichtig - sogar bei der Regierung. Es ist, so stellt sich im Gespräch heraus, ein echter Balanceakt, denn alles scheint möglich: eine Einigung bei den Hauptstreitpunkten und sogar ein längerfristiger, gleichberechtigter Dialog über notwendige Reformen - aber auch das totale Scheitern, denn über allem schwebt die Erfahrung mit der Kompromisslosigkeit der Regierung, nicht nur bei der Hochschulreform. Die Regierung, so Nagy, muss sich ihre Glaubwürdigkeit bei den Studenten erst wieder erarbeiten. Man sei bereit zu verhandeln, aber sollte nichts vorwärts gehen und man wieder getäuscht werden, sieht man sich umgehend auf der Straße wieder...

Pester Lloyd: Herr Nagy, am Freitag führten Sie mit Minister Zoltán Balog (Human Ressources) wieder Gespräche. Die ungarischen Medien haben ja ein sehr positives Bild über den Verlauf dieser Runde wiedergegeben. Sehen Sie denn auch Fortschritte in den Verhandlungen?

Dávid Nagy: Ja, ich erkenne ganz deutliche Fortschritte. Vor zwei Monaten war die Sache noch ganz anders. Wir haben erfahren, dass zehntausende staatlich finanzierte Studienplätze gestrichen werden sollen. Das war neben dem Studienvertrag (Stichwort Bleibezwang, Anm.) unser größtes Problem. Im Oktober waren wir von der Regierung über ein ganz anderes Konzept informiert worden. Die Rede war ursprünglich von zukünftig 34.000 Stipendiatenplätzen, die wir damals schon als zu wenig empfunden haben. Dies haben wir kritisiert, woraufhin die Regierung eine Überarbeitung des Gesetzes versprochen hat. Absurderweise kam dabei eine weitere Kürzung auf nur noch 10.000 Stipendiatenplätze heraus.

"Egal wie begabt oder fleißig ein Student ist,
ohne finanziellen Background kein Studium...
 

Das konnten wir nicht hinnehmen und die Studentenbewegung setzte sich in Gang. Etwa eine Woche später hieß es seitens der Regierung, dass die "Studentenquote" abgeschafft werde und die Studienplätze je nach Kapazität der Bildungseinrichtungen vergeben werden. Es stellte sich zudem heraus, dass für 16 Studiengänge, darunter auch Jura und Wirtschaftswissenschaften (siehe Streichliste, Anm.), keine staatlich subventionierten Plätze mehr bereitgestellt werden, was also eine Einführung von Studiengebühren bedeutete. Das hätte zur Folge, dass, egal wie begabt oder fleißig ein Student ist, er ohne finanziellen Background keine Möglichkeit mehr bekäme zu studieren.

Genau darüber laufen auch momentan die Diskussionen. Tatsache ist, dass Minister Balog vergangenen Freitag eine ernsthafte Bereitschaft gezeigt hat, in besagten 16 Studiengängen weiterhin Stipendien zu ermöglichen. Allerdings ist noch nicht ersichtlich, in welchem Umfang und unter welchen Bedingungen. Unser Vorschlag lautet, an 15 Prozent der Bewerber Stipendien zu vergeben. In Anbetracht von Statistiken ist dieser Vorschlag durchaus realistisch. Am Donnerstag sollen in diesem Punkt konkrete Entscheidungen getroffen werden. Mehr wissen wir auch noch nicht.


Heikel wurde die Situation vor Weihnachten, als tausende Studenten vor das Parlament strömten. Von Sturm und Provokateuren war die Rede, doch es blieb friedlich.

Bei den Verhandlungen mit Balog ist die Idee des "Runden Tisches" entstanden, dessen Gründung die Regierung bereits kommunizierte. Welche Ergebnisse erhofft sich die HÖOK darin und welche Rolle gesteht ihr die Regierung zu?

Wir haben eine Reihe von allgemeinen Forderungen, eigentlich muss eine ganz neue, umfassende Reform der Hochschulpolitik her. Doch realistischerweise müssen wir uns auf eine ganze Reihe von Verhandlungen zu Einzelthemen einstellen. Der "Runde Tisch" startet ab dem 31. Januar, das Bildungsministerium sieht sich dabei als Gastgeber, teilnehmen werden wir als Vertreter der Studentenschaft, Hochschulleiter als Vertreter der Bildungseinrichtungen, Wirtschaftsexperten, Vertreter der Handelskammer, inklusive ungarischer Wirtschaftsberater auf EU-Ebene. Gegen die Anwesenheit letzterer haben wir nichts einzuwenden, da wir es für wichtig erachten, dass auch von Arbeitgeberseite Beteiligung in der Hochschulpolitik vorhanden ist, beispielsweise in der Finanzierung. Denn wie wir wissen, ist nicht viel Geld für die Bildung übrig und es wäre gut, wenn weitere Unterstützung, von außerhalb des Staates hinzukommen könnte. Das ist für uns ein gutes Konzept und funktioniert auch, wie die Uni Györ in der Praxis zeigt. Dort bietet der Auto- und Motorenhersteller Audi Dualstudienplätze an. (Theorie im “Audi-Campus” der Uni Györ, Praxis im Werk, Anm.)

"Sobald wir merken, dass es keine Veränderungen gibt,
gehen wir sofort wieder auf die Straße
 

Wieso wurde die andere große Studentenvereinigung "Hallgatói hálozat" (HaHa) nicht von der Regierung zum "Runden Tisch" eingeladen?

Das Bildungsministerium möchte nur mit von der Regierung und vom Gesetz anerkannten Organisationen verhandeln und das sind die ungarische Rektorenversammlung und das Studentenparlament (HÖOK). Wir, die HÖOK, befinden uns natürlich in ständigem Kontakt mit der "HaHa", aber ich möchte festhalten, dass es sich hierbei um zwei verschiedene Organisationen handelt. Die HÖOK ist kein loser Klub von Freiwilligen. Bei uns gibt es klare, demokratische Strukturen mit jährlichen Vertreterwahlen. Die HaHa organisiert schwerpunktmäßig die Proteste auf der Straße, wohingegen die HÖOK auf Regierungsebene verhandelt. Die HaHa stellt also einen wichtigen Komplementärpartner der Studentenvertretung dar.

Sie machen also Arbeitsteilung?

Ganz genau. Wir stehen im täglichen Kontakt. Anfangs haben wir uns auch darum bemüht, die HaHa für Verhandlungen mit dem Bildungsministerium zu gewinnen, was ja wie bereits erwähnt, seitens der Regierung abgelehnt wurde.

Kommen wir auf das so genannte "Ultimatum", welches am 11. Februar ausläuft, zu sprechen. Wie steht es damit?

Das ist so eine Sache. Dieses Ultimatum haben nicht wir gestellt, sondern die "HaHa". Und zwar im Rahmen eines "Forums", welches am 7. Januar in der ELTE- Universität stattfand. Es nahmen circa 300 Studenten daran teil. Das Problem hierbei ist offensichtlich. 300 Studenten repräsentieren nicht das allgemeine Meinungsfeld. Wir stehen hinter der Ultimatum, verurteilen es nicht, aber fahren derzeit eine andere Schiene. Unsere 300 Leute werden mit Ablauf des Ultimatums bestimmt wissen, was sie tun.

Offiziell verhandelt man auf Augenhöhe, hier am vergangenen Freitag.
Doch die Skepsis bleibt. Blufft die Regierung wieder, wie schon so oft?

Die HÖOK möchte also nicht in Aktion treten, wenn das Ultimatum abläuft? Gibt es keinen Druck der Straße mehr?

Wir haben für uns beschlossen, dass solange die Verhandlungen laufen und Fortschritte aufweisen, werden wir keine Demonstrationen planen. Aber selbstverständlich werden wir die Abiturienten in ihren Aktionen solidarisch unterstützen, weil sie ja unmittelbar von den Gesetzesveränderungen betroffen sein werden. Konkret erhoffen wir uns deutliche Fortschritte vom nächsten Gespräch am Donnerstag mit Balog, sowie am 31. Januar. Es handelt sich hierbei um kurze Zeitfenster. Sobald wir merken, dass es keine Veränderungen gibt, gehen wir sofort wieder auf die Straße.

Unabhängig vom Ultimatum der HaHa sind die Verhandlungsgespräche eigentlich bis April geplant. Was glauben Sie, wie lange hält die Geduld der Studenten an?

Wenn sich am Donnerstag rausstellt, dass es für jeden Studiengang Stipendien gibt, werden sich auch die Studenten gedulden. Wenn sich Gegenteiliges rausstellt, ist es dahin mit der Geduld. Es ist eine ad hoc Situation.

"Die konstant negativen Entwicklungen in der Hochschulpolitik
haben den Studenten und Schülern den letzten Glauben geraubt
und ein Feuer entfacht
 

Kommen wir noch mal auf den Studentenvertrag zu sprechen. Welche Änderungen müssten vorgenommen werden, damit die Studenten diesen unterschreiben?

Idealerweise würde der komplette Vertrag abgeschafft, da unserer Meinung nach die Auswandererquote ungarischer Hochschulabsolventen nicht bedeutsam ist. Seitens des Steuerzahlers und der Regierung besteht ja eine gewisse Forderung an den Studenten, dass dieser seine kostenfreie, qualifizierte Ausbildung zum Wohle der ungarischen Gesellschaft nutzt. Ich kann mir folgende Abweichung vorstellen: Die Regierung darf nicht verbieten, dass sich der Absolvent beruflich im Ausland etabliert, sondern sollte ihm Arbeitsplätze im Inland garantieren und eine entsprechende Bezahlung bieten, wie beispielsweise eine Garantie auf doppelte Bezahlung des Mindestlohnes. Eine weitere Alternative für Studenten, die sich entscheiden außerhalb der Staatsgrenzen zu arbeiten, wäre eine Rückzahlung der Subventionen in kleinen Raten.

In letzter Zeit sind Hochschulabsolventen vermehrt nach Westeuropa ausgewandert, um sich ihren Lebensunterhalt zu verdienen...

Richtig, es geht um die Bezahlung. Ein junger Arzt emigriert ins Ausland und verdient das Vierfache, kann also so problemlos seine Schulden bezahlen. Der Studienvertrag hält ihn also nicht im Lande. Für andere Berufszweige, wie etwa dem Recht, gestaltet sich das ganze eher schwieriger, denn ein ungarischer Jurist kann nicht so einfach im Ausland arbeiten, es sei denn, er ist auf europäisches Recht spezialisiert. Somit wird dieser Ideologie der Fluktuationsbekämpfung der Wind aus den Segeln genommen. Der wirtschaftliche Aspekt für den ungarischen Staat ist offensichtlich. Nämlich, dass das investierte Geld zurückerstattet wird. Diesen Gedankengang kann ich nachvollziehen, dass irgendwann, irgendwie, irgendwer das zurückzahlen muss.

"Auch wenn die EU manchmal langsam arbeitet,
bleibt noch die Hoffnung, dass sie das ganze Geschehen zu stoppen weiß
 

Ist die Abschaffung des Studentenvertrages seitens der Regierung realistisch?

Aus Regierungssicht wahrscheinlich nicht. Aber erstaunlicherweise ist sie jetzt verhandlungsbereit. Was letztendlich bedeutet, dass die Logik des Studienvertrages umgestellt werden kann. Außerdem korrespondiert diese Regelung nicht mit dem Arbeitsrecht der Europäischen Union. Auch wenn die EU manchmal langsam arbeitet, bleibt noch die Hoffnung, dass sie das ganze Geschehen zu stoppen weiß. (Die EU hat erste Regungen dahingehend gezeigt,
hier mehr dazu , Anm.)

Apropos EU. Erhofft sich die ungarische Studentenbewegung Unterstützung seitens der Europäischen Union?

Die lokale Studentenbewegung verfolgt bestimmt nicht das Ziel, auf internationaler Ebene Resonanz zu erzeugen. Die konstant negativen Entwicklungen in der Hochschulpolitik haben den Studenten und Schülern den letzten Glauben geraubt und ein Feuer entfacht, welches in dieser Bewegung mündete. Maßgeblich soll die ungarische Gesellschaft aufmerksam gemacht werden auf die Missstände. Wenn sich nebenbei noch internationales Interesse entwickelt, ist das natürlich ein positiver Nebeneffekt. Wir stehen mit der ISU (European Students Union) auch in Kontakt und weisen sie auf unsere Probleme hin. In erster Linie geht es um diesen Vertrag. Bezüglich der Studiengebühren ist es schwer, auf Unterstützung von außerhalb zu bauen, da dies wirklich ein lokales Problem ist, zumal es in den meisten EU-Ländern auch Studiengebühren gibt.

"...durch das Hin und Her der letzten zwei Monate
hat die Regierung ihre Glaubwürdigkeit verloren
 

Erinnern wir uns an die 6 Hauptforderungen der Studenten. Nach Ihren Auslegungen, genießt die Änderung des Studienvertrages die oberste Priorität. Wie wichtig sind die anderen Punkte?

Gut, gehen wir die wichtigsten Punkte durch. Erstens, eine umfassende Hochschulreform. Ich denke mit dem "Runden Tisch", der entsprechende Ergebnisse vor Augen hat, ist diese realistisch, jedoch gibt es natürlich keine Garantie. Zweitens, die Zugangschancen für Hochschulbewerber, also Eliminierung der Quote. 50.000 Bewerbern soll ja nun ein staatlich finanzierter Studienplatz (je nach Kapazität der Einrichtung, Anm.) garantiert werden, jedoch müssen diese Stipendienangebote auch alle Studiengänge umfassen. Drittens, der Studienvertrag: hier laufen die Diskussionen. Außerdem sollen mehr Forschungsgelder in die Bildung gesteckt werden. Viertens, der soziale Unterpunkt, der besagt, dass finanziell Benachteiligte auch eine Chance auf Hochschulbildung haben. Ich denke auch, dass dieser Unterpunkt seine Lösung mit der Erfüllung des zweiten Punktes findet. Inzwischen zeigt sich also eine gute Tendenz, was aber weiterhin fehlt, ist die Garantie. Das ist sehr bedenklich, denn durch das Hin und Her der letzten zwei Monate hat die Regierung ihre Glaubwürdigkeit verloren.

Die Regierung argumentiert mit dem Aspekt, dass die Hochschulreform für ein landesweit gleich hohes Niveau der Bildung sorgt. Was sagen Sie dazu?

Ja, das sagt sie vielleicht, aber die Realität sieht anders aus. Es mag vielleicht offiziell das Ziel sein, aber letztendlich erfolgten bisher nur überstürzte Entscheidungen. Wenn man bedenkt, dass das neue Hochschulgesetz im November 2011 verabschiedet und seitdem bereits zwei Mal geändert wurde, eine dritte Änderung aussteht, zeugt das von wenig Struktur. Solch ein Verhalten scheint für die ungarische Gesetzgebung gang und gäbe zu sein, denn offenbar ist es heute üblich, überstürzt Gesetze zu verabschieden und dann pausenlos zu verändern...

Das Gespräch führten Zsofi Schmidt und Saskia Bücker

Themenseite Hochschulreform und Studentenproteste in Ungarn

 

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