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(c) Pester Lloyd / 04 - 2013   FEUILLETON 25.01.2013

 

Wo sich Slowaken und Ungarn "Gute Nacht" sagen...

Vom Rand ins Zentrum: Kosice ist 2013 Kulturhauptstadt Europas

Seit wenigen Tagen ist Kosice / Kassa / Kaschau, neben Marseille, Europäische Kulturhauptstadt 2013. Die einst blühende, multikulturelle Stadt, die durch die Geschichte an den Rand Europas gedrängt wurde, rückt wieder etwas mehr ins Zentrum. Kosice könnte dabei der Politik beweisen, dass Geschichte auch verbinden kann. Ein 60-Millionen-Euro schweres Kulturprogramm, nebst Infrastrukturinvestitionen versucht Brücken zu bauen, die von Politikern regelmäßig eingerissen werden. Ein Überblick.
 

Wichtiger Handelsort des Königreichs Ungarn

Kassa erlebte seit der Renaissance bis ungefähr zum Ende des 17. Jahrhundert, als Handelsknotenpunkt zwischen Ost und West wie Nord und Süd und als eine der bedeutendsten Städte des Ungarischen Königreiches eine wahre Blüte. Die Ursprünge der Stadt gehen jedoch bis ins 13. Jahrhundert zurück, die erste urkundliche Erwähnung findet sich 1230 und deutet auf eine Verschmelzung von slawischen und deutschen Siedlungen hin. Der Handel in der Renaissance- und Barockzeit brachte aber nicht nur eine wohlhabende Mittelschicht, sonder vor allem auch Menschen aus allen Ecken des Reiches und seinen angrenzenden Regionen nach Kassa, wie der ungarische Name lautet oder Kaschau auf Deutsch. Während der Türkenkriege und der Besetzung wuchs ihre Bedeutung als strategischer Rückzugsort, seit Mitte des 17. Jh. wurden die Habsburger dabei immer dominanter. Mit der Vertreibung der Osmanen aus Ungarn führten die Handelswege zunehmend an Kassa vorbei, das nach und nach zu einer agrarisch geprägten Provinzstadt verkam.

Rabiate Magyarisierung nach dem Ausgleich

1849 holten sich ungarische Revolutionstruppen die Stadt für ein paar Wochen zurück, mussten aber vor russischen Interventionstruppen weichen, die Österreich zu Hilfe eilten. Bis zum Ersten Weltkrieg kamen über Kassa, wie über ganz Ungarn mehrere Einwanderungswellen von Ostjuden sowie die Magyarisierungsbestrebungen des nach dem Ausgleich 1867 immer selbstbewusster werdenden Nationalstaates, einschließlich einer rabiaten Umsiedlungspolitik von Slawen zu Gunsten der Magyaren, Vorgänge, die bei der Deutung der Trianon-Problematik stets ausgeblendet bleiben. Und so kam es, dass der Anteil der Slowaken in der Stadt binnen 20 Jahren bis 1900 von über 40 auf um die 20 halbiert wurde, während der der Ungarn von 41 auf 75% bis 1919 "gepusht" wurde. Der Anteil der Deutschen sank in der gleichen Zeit von ca. 17% auf 5%.

Admiral Horthy durchreitet das “wiedergewonnene” Kassa, 1938

Abtrennung durch Trianon, Vernichtung, Vertreibung

Nach dem Zerfall Österreich-Ungarns 1918 fiel Kassa zunächst der Tschechoslowakei zu, mit dem Vertrag von Trianon wurde die Abtrennung festgeschrieben. 1938 besetzten Horthy-Truppen, nach einem Pakt Ungarns mit Hitler (Erster Wiener Schiedsspruch) "Oberungarn" erneut. Ein Bombardement der Stadt 1941 nutzte Horthy verabredungsgemäß, um der Sowjetunion den Krieg zu erklären. 1944 kamen die Deutschen und vollendeten das Vernichtungswerk an den örtlichen Juden, das mit der Einrichtung von Ghettos und ersten Deportationen schon zuvor begonnen wurde. Die Deutschen, aber auch nicht wenige Ungarn, waren zunächst die letzten Vertriebenen. In der CSSR stieg Kosice zur Industrie-, vor allem Stahlstadt auf, die Innenstadt verfiel, von Bürgertum und Multikulturalität, der randständigen Metropole war nichts, fast nichts mehr geblieben.

9% des BIP kommen aus Kosice

Die Wende, die Spaltung in Tschechien und Slowakei rückte die Stadt im europäischen Maßstab noch weiter an den Rand, innerhalb der Slowakei jedoch ist sie ein wichtiger Pol, immerhin werden hier heute 9% des Bruttoinlandsproduktes erwirtschaftet, von fast 250.000 Einwohnern. Die ungarische Minderheit wird offiziell mit knapp 4% angegeben, viel weniger als in den umgebenden ländlichen Regionen der Südslowakei, wo die Anteile meist zweistellig sind. Vor 1930 lebten in Kaschau noch ca. 3000 Juden, die Gemeinde hat heute noch rund 250 Mitglieder, ein paar Hundert gehören der Deutschen Minderheit an, etwa 2% bekennen sich als Roma, auch deren Anteil ist in den verarmten Landstrichen ringsum deutlich höher und mit ihm die sozialen Spannungen, die Ausgrenzung.

Große Söhne, große Extreme: Andrássy, Szálasi, Márai

Kaschau ist eine typische Industriestadt, wie man sie häufig im Osten Europas findet und ganz ähnlich strukturiert wie Miskolc. Es gibt einen wunderschönen, alten Stadtkern, der umringt ist von Industriebauten und hässlichen Plattensiedlungen. Die Flaniermeile, profan "Hlavná ulica", Hauptstraße genannt, ist das größte denkmalgeschützte Stadtgebiet der gesamten Slowakei. Alle bedeutenden Sehenswürdigkeiten der Stadt sind hier vereint und wurden vor Beginn der Festivitäten aufwendig restauriert, wie etwa der neu restaurierte Elisabethdom, die größte Kirche des Landes und Grabstätte des ungarischen Nationalhelden Ferenc Rákoczi II., der im frühen 18. Jahrhundert die Aufstände des ungarischen Adels gegen Habsburg führte. Das alte Rathaus oder und die Reste der ehemaligen Stadtfestung sind ebenfalls noch zu sehen.

Die drei wohl bekanntesten Söhne der Stadt spiegeln ganz gut die Vielgestalt wie auch die Extreme ihrer Geschichte. Graf Andrássy (Abb.), Magnat, Revolutionsheld von 1848/49, ungarischer Ministerpräsident und später der erste Außenminister der Doppelmonarchie, wurde genauso hier geboren, wie der spätere Naziführer Ferenc Szálasi, der das finsterste Kapitel Ungarns wesentlich mitverantwortet. Der bekannteste Künstler der Stadt ist der Schriftsteller Sándor Márai, der hier im Jahre 1900 als Sandor Grosschmid geboren wurde. In Ungarn genießt der 1948 ins Exil gegangene und 1989 in den USA gestorbene ungarische Schriftsteller mit ungarndeutschen Wurzeln große Beliebtheit, in Deutschland gab es vor Jahren, Dank Neuauflagen und Neuübersetzungen einen regelrechten Márai-Boom. Vielen Slowaken sagt der Name wenig, die Werke des "Antikommunisten" wurden in der CSSR nicht verlegt, mittlerweile aber liegen in den Schaufenstern der Bücherläden auch slowakische Ausgaben seiner Werke, fast demonstrativ.

Beziehungen zwischen "Magyaren" und "Slawen" waren und sind kompliziert

Dass die Beziehungen zwischen der Slowakei und Ungarns kompliziert geblieben sind und durch Nationalisten auf beiden Seiten in den letzten Jahren weiter verkompliziert, weil instrumentalisiert wurden, ist bekannt und der oben geschilderten Geschichte geschuldet. Die slowakische Politik fühlt sich heute konkret durch das auf die Auslandsungarn zielende vereinfachte Staatsbürgerschaftsrecht des Nachbarn provoziert, es sei ein Anschlag auf die Loyalität der Staatsbürger und damit ein Angriff auf die Staatlichkeit.

Man mutmaßt in Bratislava, dass viele Ungarn die Slowakei als künstliches Konstrukt sehen als gar kein richtiges eigenes Volk, das nur uralten, heiligen ungarischen Boden besetzt. Die so genannte ungarische "Nationalitäten"-Politik unter Orbán, die sich umstandslos in die Innenpolitik, nicht nur der Slowakei, einmischt, die ethnischen Parteien spaltet und für innenpolitische Zwecke manipuliert, mit Worten und Geld, ist heute das Hauptproblem. Ein Parlamentspräsident, der die Slowakei öffentlich als "ungarischen Boden" betitelt und sogar indirekt mit Krieg droht, nur der absurde Ausdruck dieser Gesinnung.

Antieuropäischer Wettstreit von zwei Alpha-Tieren

Die Antwort der ersten Fico-Regierung war ebenso destruktiv und uneuropäisch wie das Gebaren der Ungarn. Einigen, die den ungarischen Pass annahmen, entzog man den slowakischen, ein "Sprachengesetz" schränkt die Benutzung des Ungarischen im öffentlichen Leben, theoretisch, ein. Nationalistische Gruppen schänden Mahn- und Grabmale, es gibt auch körperliche Angriffe. Ungarische Politiker machen wiederum einen regelrechten Ritus daraus, in zeitlicher Nähe zum Nationalfeiertag in die südslowakische Provinz einzufallen und dort teilweise zweifelhaften historischen Gestalten zu huldigen. Den Ex-Präsidenten Sólyom schickte man, als er an einem unsensibel gewählten Termin einen heilige Stephan im slowakischen Teil der Doppelstadt Komárom / Komarnó einweihen wollte, als persona non grata auf der Grenzbrücke zurück (Foto). Es war der Tag, an dem Horthys Truppen "Oberungarn" zurückholten und die gleiche Brücke, auf der Orbán 2010 verkündete, "alle Ungarn im Karpathenbecken" zu vertreten. Ungarn verklagte die Slowakei wegen der Nutzung des Labels "Tokaj", es würde dem guten Ruf der ungarischen Winzer schaden, obwohl das historische Weingebiet heute dies- wie jenseits der Grenze liegt. Einmal will man vereinen, ist es opportun, lieber getrennt bleiben? Das alles war und ist Öl ins von der Politik angefachte Feuer.

Erste Zeichen der Vernunft mit kleinen Rückschlägen

Dabei geht es auch anders. Die zweite Fico-Regierung, nun fester im Sattel als je zuvor, hat die meisten verbalen Provokationen eingestellt, auch wenn Staatsbürgerschaftsrecht und Sprachengesetz längst nicht geklärt sind. Auch Ungarn verbalisiert vorsichtiger. Die beiden Alpha-Tiere Fico und Orbán haben sich aneinander gewöhnt (Foto rechts). Plötzlich sind wieder bilaterale Kommissionen für Handel und Infrastruktur möglich, Brücken werden gebaut, sinnbildlich und solche aus Stein, neue Straßen sollen die Regionen besser verbinden, es gibt Kulturaustausch. In dem gibt es natürlich auch Rückschläge und Wirres, auf beiden Seiten. Kürzlich hat das slowakische Kulturinstitut die Komponisten Bartók und Liszt als Slowaken präsentiert. Man kann zwar frech sein und sagen Liszt war Franzose, Bartók wurde von der Horthy-Diktatur zum Amerikaner gemacht, - aber Slowaken? Ebenfalls erst vor ein paar Tagen regte sich die ungarische Regierung auf ihrer Webseite über polizeiliche Gängelungen neu eingebürgerter Slowakoungarn auf und schrieb, anstatt von der Südslowakei, von "Higher Hungary", zwei Tage danach korrigierte man das still und leise.

Márai-Platz eingeweiht

Doch zurück in die Kulturhauptstadt: In diesem Spannungsfeld von Hypersensibilität und politischem Missbrauch von Geschichte, sticht die Meldung aus Kosice / Kassa heraus, dass am vergangenen Sonntag der Sándor Márai Platz eingeweiht wurde (Foto oben). Das Geburtshaus des Schriftstellers und Journalisten wurde erst 2011 wiedergefunden und in ein kleines, bescheidenes Museum umgewandelt. Für die Einweihung kamen Politiker aus beiden Ländern zusammen und die Normalität dieses Aktes macht die oben geschilderten Scharmützel nur um so absurder.

Kasernen zu Kulturzentren: einige Höhepunkte des Jahres

Die Kulturhauptstadt brachte viele Investitionen, die sollen sich nun auszahlen für die Stadt und das Land insgesamt. Über das ganze Jahr verteilt hat die Stadt ein Programm mit 360 verschiedenen kulturellen Ereignissen aufgestellt, welches internationale Gäste anlocken soll. Es gibt ein vielfältiges Angebot an Theateraufführungen sowohl in ungarischer und slowakischer Sprache und sogar auf Romani. Immerhin verfügt die Stadt nicht nur über das erste professionell betriebene Romatheater (Theater Romatha), ein ungarisches Theater (Thália), sondern auch das Staatstheater, mit drei Sparten, Ballett, Oper und Schauspiel. Leerstehende Kasernen wurden in ein Kulturzentrum umgebaut, das Schwimmbad in eine Kunstgalerie und der Stadtpark besucherfreundlich aufgehübscht.

60 Millionen "nur" für slowakische Programme? Miskolc mischt mit.

NEUERSCHEINUNGEN
Verlag Friedrich Pustet, Regensburg

Europäische Kulturhauptstadt 2013
Kaschau / Košice
Eine kleine Stadtgeschichte

Geschichtsträchtige Donaumetropole
Kleine Geschichte Budapests

Informationen & Kontakt

Als Höhepunkte mit internationaler Beteiligung können gelten: der Auftritt des Tokioter Sinfonieorchesters im Rahmen eines internationalen Musikfestivals im Juni, das einmonatige Literaturfestival im Juli, an dem sich 31 zeitgenössische Autoren, 16 slowakische und 15 tschechische präsentieren werden. Doch ohne Kritik, ohne Gruppen, die sich zu kurz gekommen fühlen, geht es bei subventionierten Großereignissen nie ab. Rund 60 Millionen Euro EU-Fördermittel wurden zur Umsetzung eines multikulturellen Programms bereitgestellt, die, so die Kritik beinahe ausschließlich in die Finanzierung der slowakischen Programmpunkte flossen. Letztlich ergriff der ungarische Staat die Initiative und übernahm die Förderung eigener ungarischer Projekte, besonders die Quasi-Nachbarstadt und offizielle Partnerstadt Miskolc hat sich dabei stark involviert. Die Klagen lauten auf die allseits beliebte Hinterziehung von Fördergeldern, verspätete Fertigstellung von Infrastrukturprojekten und zu wenig Raum und Unterstützung für ungarische Projekte. Natürlich, uns Ungarn ist es immer zu wenig Ungarn in der Slowakei.

Verbesserungen beim Verkehr

Internationale Gäste könne immerhin schon am Flughafen Kosice landen, auch wenn der hauptsächlich aus Städten angeflogen wird, die mit dem Auto fast genauso schnell erreichbar sind, wie Wien, Bratislava und Prag. Die Anfahrt mit dem Auto ist dank der Autobahn über Bratislava oder Miskolc wenig problematisch. Die Direktverbindungen für Bahnreisende gibt es von und nach Wien, Budapest, Bratislava, Lemberg, und Kiew. Eine direkte Verbindung nach Deutschland fehlt immer noch. Für einen Kurzurlaub in einer noch unentdeckten Kulturhauptstadt lohnt sich der Besuch für jeden Reiselustigen mit oder ohne Slowakischkenntnissen, denn inzwischen gibt es auch mehrsprachige Prospekte.

Kulturhauptstadt mit längerer Perspektive?

 

Dass sich die Kultur-Millionen in einen langfristigen wirtschaftlichen Aufschwung, in eine Perspektive des Wohlstands für Kosice / Kassa / Kaschau transferieren lassen, ist zu viel erwartet. Schauen wir nach Pécs, das 2010 das Vergnügen der Kulturhauptstadt hatte, sehen wir, dass sich geographische Lage und politisch-ökonomisches Umfeld nicht so einfach verändern lassen. Doch wenn Kosice mit ihrer gestrigen und heutigen Kultur zeigen kann, dass Geschichte eben auch verbinden, statt trennen kann, sich Menschen begegnen, die sich sonst nie getroffen haben, dort, wo sich Ungarn und Slowaken seit Jahrhunderten "Gute Nacht" sagen, hat die Stadt schon viel mehr Positives erreicht als alle Politik der letzten Dekaden zusammen.

Das gesamte Kulturprogramm in englischer Sprache
http://www.kosice2013.sk/en/programme/?cat=10502

Spezielle ungarische Programme
http://www.kassa2013.eu/ - ungarische Programme

Die viersprachige Website der Stadt
http://www.kosice.sk/

Zsófia Schmidt / m.s.

 

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